"Aus den Ergebnissen bisheriger Freihandelsabkommen lernen"

Luciana Ghiotta vor dem Kino in Hendaye beim Gegengipfel. Interview im Artikel. Foto: Ralf Streck

Der Gegengipfel gegen den G7-Gipfel in Biarritz verläuft ruhig, friedlich und mit inhaltlich guten Debatten, was vom G7 nicht zu erwarten ist

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Es herrscht gute Stimmung im französisch-baskischen Hendaye und im spanisch-baskischen Irun beim Gegengipfel gegen das Treffen der sieben Industriestaaten (G7), das am Samstag auf Einladung des französischen Präsidenten Emanuel Macron unter extremen Sicherheitsverhältnissen im "Bunker" beginnen wird. So nennen hier die Menschen die totale Abschottung des Seebads Biarritz über "verrückte" Maßnahmen für einen "verrückten" G7. Die Leidtragenden sind die Bewohner, die ständige Kontrollen, Durchsuchungen und Staus über sich ergehen lassen müssen.

Die totale polizeilich-militärische "Besetzung" der Grenzregion wird von mehr als 20.000 Polizisten und Paramilitärs aus Frankreich und Spanien geleistet. Allein 13.000 Polizisten und Gendarmen wurden aus Frankreich in die Region verlegt. Wie viele französische Militärs hier stationiert sind, ist unbekannt. Dazu kommen 4.000 Polizisten aus der Autonomen Baskischen Gemeinschaft auf der spanischen Seite des Baskenlands. Zudem sollen 3.000 Guardia Civils und spanische Nationalpolizei in der Region sein.

Aber auch Polizeisperren und Kontrollen können den produktiven Verlauf der Gegengipfel-Veranstaltungen und die friedlichen Aktionen aus dem Protestcamp nicht wirklich eintrüben, wenngleich die starke Präsenz der Sicherheitskräfte viele nervt. Viele hier auf dem Gegengipfel sind verärgert über die illegalen Festnahmen und Abschiebungen. Der Freiburger Mitarbeiter von Radio Dreyeckland (RDL) wurde am zum zweiten Mal Opfer der Schwarzen Listen, die Deutschland an Frankreich übergeben hatte, wie inzwischen über eine Anfrage der Linkspartei geklärt ist.

Für die skurrile Abschiebung wurde extra ein kleiner Jet aus Paris herangeschafft, um Luc in diesem Fall nach Stuttgart auszufliegen. Besonders besorgt ist der freie RDL-Journalist über das Wohlergehen anderer Gefangener im Knast von Hendaye. Er kann nicht ausschließen, dass drei Deutsche bei ihrer Festnahme oder danach verprügelt wurden. Auch die Haftbedingungen in Hendaye seien extrem "mies". Es gäbe wenig Tageslicht wegen "extra eingeschweißten Metallplatten". Zudem gäbe es nicht einmal richtige Räume für Anwaltsgespräche.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass mit dem völlig überzogenen und martialischen Auftreten der Sicherheitskräfte letztlich davon abgelenkt wird, dass der Gipfel aller Voraussicht nach ein Reinfall wird. Viele vermuten, dass bei den Demonstrationen, die ab Samstag beginnen, Krawall provoziert wird, um den unerklärten Ausnahmezustand zu rechtfertigen.

Inhaltlich wird wenig vom G7-Gipfel erwartet. US-Präsident Trump hatte schon den letzten Gipfel in Kanada platzen lassen. In der von Trump gewohnten Form zog er per Twitter seine Zustimmung zur gemeinsamen Abschlusserklärung zurück und beschimpfte den kanadischen Gastgeber Justin Trudeau wüst. Und erneut könnte die Handelspolitik und der handelspolitische Crash-Kurs von Trump auch nur eine gemeinsame Erklärung verhindern. Die Zeichen stehen gut für das totale Scheitern, da Trump auch schon die Macron-Idee als "schwachsinnig" abgetan hat, US-Unternehmen wie Google, Apple, Facebook und Amazon zu besteuern.

Macron versucht derweil, sich einen sozialeren Anstrich zu geben. Offiziell soll es auch um den "Kampf gegen Ungerechtigkeiten" geben. Inhaltlich versucht er sich auch den Kritikern darüber anzunähern, dass beispielsweise über die Gleichstellung von Mann und Frau, den Zugang zu Bildung und Gesundheit debattiert werden soll oder über ökologischen Wandel durch nachhaltigere Handels-, Steuer- und Entwicklungspolitik. Sicher wird es mehr Einigkeit beim Thema Sicherheitsbedrohungen und Terrorismus geben, das prominent auf der Tagesordnung steht.

Die Attac-Aktivistin aus Argentinien Luciana Ghiotto ist auf dem Gegengipfel in diesen Tagen eine gefragte Frau. Mit der Sozialforscherin der National University of San Martín, die auf internationale Beziehungen und auf Freihandelsabkommen spezialisiert ist, sprachen wir über den G7-Gipfel und den Gegengipfel.

"Ein perverses System - Alternativen dazu sind unabdingbar"

Wenn ich mir das Programm des Gegengipfels anschaue, stelle ich fest, dass Sie an den drei Tagen hier beidseits der französisch-spanischen Grenze in Hendaye und Irun so gefragt auf den vielen Veranstaltungen und Workshop sind wie wohl sonst niemand. Womit hat das zu tun?
Luciana Ghiotto: Wahrscheinlich mit einem Thema, über das wir gleich sprechen: Freihandelsabkommen. Ich werde unter anderem über die Auswirkungen solcher Abkommen für Lateinamerika sprechen, wozu ich besonders stark arbeite.
Freihandelsabkommen sind derzeit in Mode. Welche Auswirkungen stellen Sie bisher fest?
Luciana Ghiotto: Sie sind furchterregend. Ich bin Mitglied der Plattform "Lateinamerika ohne Freihandelsabkommen", die ich derzeit koordiniere. Daran nehmen sechs nationale Plattformen teil. In diesen Ländern wird das Thema seit vielen Jahren bearbeitet, vor allem seit dem Alca-Abkommen für eine Freihandelszone, die alle Länder in Süd-, Mittel und Nordamerika umfassen soll. Wir haben viel Erfahrung mit solchen Abkommen, die wir TLC nennen.
Wir erleben derzeit eine neue Welle solcher Abkommen, weshalb wir uns dagegen neu aufstellen müssen. Viele Länder in unserer Region haben Abkommen mit der EU oder den USA unterzeichnet und einige auch mit China. Vielen sind auch im globalen die Auswirkungen früherer TLC nicht wirklich klar. Wir blicken aber auf 25 Jahre zurück, als das Nafta-Abkommen 1994 gestartet wurde.
Es gab damals eine riesige Operation von Regierungen, multinationalen Unternehmen und internationalen Organisationen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) oder der Weltbank, die auch Kredite gewährten, um die Unterschrift unter den TLCs zu erreichen. Versprochen wurden Investitionen und Technologietransfer, was gute Auswirkungen auf die Beschäftigung haben sollte, die Exporte sollten diversifiziert werden und das alles sollte den Wohlstand in den Ländern vergrößern.
Was sind aber die Ergebnisse nach 25 Jahren?
Luciana Ghiotto: Unsere Studien zeigen, dass entweder gar nichts davon erfüllt wurde und wenn, dann nur in einer betrügerischen Weise. Es gab zwar Investitionen, aber nur in einige Sektoren. Der Staat hat darüber aber keinerlei Kontrolle. Der Investor kann tun und lassen was er will.
Versuchen Staaten die Gewinne durch Regulierung oder die Umweltzerstörung durch Auflagen zu begrenzen, werden sie über diese TLCs vor internationale Schiedsgerichte gezerrt. Das ist ein sehr perverses System, in dem die Staaten in eine Zwangsjacke gesteckt werden. Die Folgen sind meist gegenteilig zu den Versprechen.
Die Entwicklungsorganisation Oxfam hat gerade vor dem Biarritz-Gipfels eine Studie vorgelegt, die davon spricht, dass durch die Politik der G7-Länder die Ungleichheit "außer Kontrolle" geraten sei, wofür auch die Freihandelsabkommen verantwortlich gemacht werden. Man spricht von "Todsünden" der G7. Wird es auf dem G7 einen Konsens geben?
Luciana Ghiotto: Es wird schwierig werden, auf dem Gipfel zu einem Konsens zu kommen. Wir haben schon die Erfahrung des G7 in Kanada, als Trump schon US-Präsident war. Trump versucht, dem Rest der Länder seine Vorstellungen aufzuzwingen. Die übrigen Mitglieder, auch wenn sie wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder Japan mächtig sind, haben bisher keinen Weg gefunden, um dem zu begegnen.
Letztlich ist aber ohnehin der G20 bedeutsamer als der G7, weil da auch China dabei ist. Trump und der chinesische Präsident Xi Jinping benutzen die G20-Treffen für ihre Zusammenkünfte. Man sieht letztlich aber, dass beide Gremien nicht in der Lage sind, alternative Vorschläge zu machen. Ihre Vorschläge sind weiter den transnationalen Unternehmen und dem Kapital untergeordnet.
Solange das nicht durchbrochen wird, sind die Staaten gefesselt wegen der Macht des Kapitals. Über diese Frage wird hier auf dem Alternativ-Gipfel gesprochen. Wir müssen Alternativen schaffen, denn diese Politik der weiteren Liberalisierung, der Zirkulation des Kapitals und der Ausweitung des Handels führt in eine irrationale Spirale, die den Planeten zerstört. Das hat man vor Jahrzehnten vielleicht noch nicht so klar gesehen, aber heute sind Alternativen dazu unabdingbar.

Übergang zu einer neuen Globalisierung

Welche Unterschiede gibt es bei den Auswirkungen zum Beispiel der Freihandelsverträge zwischen dem globalen Süden und dem Norden?
Luciana Ghiotto: Natürlich trifft die Politik einen armen Menschen in Argentinien, Bolivien, Chile anders als einen in Frankreich oder Deutschland. Die Effekte sind im Süden viel heftiger. Schauen wir uns an, wie die Industrieländer sich entwickelt haben, sehen wir, wie der Süden über die Freihandelsabkommen betrogen wird. In Europa wurde die Entwicklung mit Kapitalkontrollen, Programmen zur Forschung und Entwicklung von Technologie und spezieller finanzieller Förderung von strategischen Sektoren vorangetrieben.
Über Freihandelsabkommen wird nun aber verhindert, dass auch die Länder im globalen Süden das so machen können. Wir befinden uns in einem Übergang zu einer neuen Globalisierung. Es gibt aber Politiken, die nicht in Frage gestellt werden, wie Freihandel, freier Markt, freier Kapitalverkehr... Das verhindert, dass man zu einer humaneren Globalisierung finden kann. Die ist so lange unmöglich, solange das Kapital im Zentrum der globalen Politik steht.
Wir stellen schon fest, dass sogar China kaum noch Ressourcen hat. Wenn China nun also nun Soja, Mais, Mineralien oder andere Stoffe aus dem Süden importiert, importiert es gleichzeitig riesige Mengen virtuelles Wasser, das zur Erzeugung gebraucht wird.
Die Wasserressourcen in China werden längst immer knapper, denn ein guter Teil der Flüsse in China sind verseucht und können nicht mehr zur Bewässerung genutzt werden. Das wird im Süden oft auch nicht verstanden, dass man nicht nur Güter exportiert, sondern große Mengen an virtuellem Boden, Wasser…
Welche Auswirkungen hat die Politik, die vom G7 oder den Finanzorganisationen wie dem IWF ausgehen, auf die Krise in Ihrem Heimatland Argentinien?
Luciana Ghiotto: In Argentinien sehen wir das Resultat des Freihandels. Das Land ist aber unter Macri auf halber Strecke stehen geblieben, zwischen tiefgreifenden neoliberalen Reformen, die Präsident Macri versprochen hat, und seinen populistischen Maßnahmen. Die haben natürlich die grundsätzlichen Probleme nicht gelöst. Der "freie Markt" wettet derzeit gegen Macri.
Er wird dafür bestraft, dass er nicht in der Lage war, die geforderten Reformen - wie die Arbeitsmarktreform - umzusetzen. Denn dagegen wurde ein breiter Widerstand aktiviert. Der das verhindert hat. Argentinien ist weiter ein nur ein Lieferant von Rohstoffen, statt ein Teil der weltweiten Produktions- und Wertschöpfungskette.
Unter Macri kehrte Argentinien aber wieder unter die Flügel des IWF zurück, der heute allerdings anders agiert als noch in den 1980er Jahren, als er direkt die Politik diktiert hat. Jetzt hat der IWF wohlwollend Macri mit Krediten unter die Arme gegriffen, um dessen Regierung zu stützen, wie es auch Trump getan hat. Doch das führt nicht zu den versprochenen Investitionen und die werden auch nicht kommen. Und es gibt keinen Plan B, keine Alternative von Seiten des Staates, wenn das nicht passiert.
Wir müssen sie finden, damit die Leute im Land nicht verhungern. Schauen wir uns an, wie die Inflation die Menschen verarmen lässt. Mit der letzten Abwertung der Währung sind fünf Millionen Menschen unter die Armutsschwelle gerutscht. Wir haben im laufenden Jahr eine Inflation von 55% und im vergangenen Jahr waren es 49%. Die Löhne halten damit nicht Schritt.
In zwei Jahren haben sich die Preise praktisch verdoppelt, die Löhne sind in den besten Fällen aber nur 40% in der gleichen Zeit gestiegen. Viele Sektoren bleiben sogar weit dahinter zurück. Wir haben also eine Verarmung über einen Angriff auf die arbeitende Bevölkerung.
Gerät Argentinien, das sich aus der der Schuldenfalle des IWF befreit hatte, nicht genau wieder wie andere Länder in diese Falle?
Luciana Ghiotto: Klar ist, dass es extrem schwierig ist, dieser Falle zu entgehen. Die Länder müssen sich in einem System kapitalistischer Staaten finanzieren. Auch die progressiven Länder stecken in dieser Zwickmühle. Die Frage ist: Wie kommt man an Geld und Ressourcen, um den Staat zu finanzieren, wie zieht man Steuern ein, wie baut man ein produktives System auf, dass auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig ist, wenn man dafür kein Geld hat?
Das ist die Falle des modernen Kapitalismus und es gibt dafür keine einfache Lösung. So bietet sich der IWF fast an, weil seine Zinsen niedriger sind, als die von privaten Banken. Aber natürlich wissen wir alle, was der IWF ist und was er tut.
Welche Bedeutung haben solche Veranstaltung wie der Gegengipfel?
Luciana Ghiotto: Die Treffen haben eine entscheidende Bedeutung. Die sozialen Netzwerke können das nicht ersetzen, was direkte Treffen bringen. Einst war das Sozialforum vor fast 20 Jahren ein Raum, um uns zu treffen, auszutauschen und an Alternativen zu arbeiten. Das Sozialforum ist heute in der Krise und es ist wichtig, dass Beziehungen über Kontinente aufgebaut und ausgebaut werden.
Es gab einst viel mehr Austausch zwischen Europa und Lateinamerika. Der hat gelitten, weil einige sehr kritisch zur Maduro-Regierung in Venezuela stehen, aber andere sie vehement verteidigen. Das hat uns gespalten und geschwächt. Es gibt aber Alternativen und das System ist nicht alternativlos, wie uns vorgegaukelt wird.
Wie sehen Sie die Bewegungen wie in Katalonien oder die der Gelbwesten in Frankreich, die ja auch hier auf dem Gegengipfel auftreten?
Luciana Ghiotto: Eines ist wichtig anzumerken. Der Widerstand in jedem Land nimmt seine eigenen Formen an. Das hat mit den jeweiligen kulturellen und politischen Wurzeln zu tun. Wir sehen, dass es zu Explosionen gegen die neoliberalen Politiken kommt wie hier mit den Gelbwesten. Sie haben es geschafft, einige Einschnitte von Macron zu verhindern. Diese Bewegungen müssen unterstützt werden.
Wir von Attac haben uns zur Aufgabe gemacht, die Verbindungen zwischen diesen Kämpfen herzustellen. Global denken, lokal handeln, drückt das aus. Nur weil man sich lokal wehrt oder für etwas eintritt, heißt das nicht, dass dieser Kampf nicht mit anderen in Verbindung steht. Das ist der Geist der "Intergalaktischen Treffen der Zapatisten" und lebt darin fort. Wofür an anderen Stellen gekämpft wird, hat Einflüsse auf das eigene Leben. Genau deshalb ist der Austausch hier so wichtig.

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