Baerbock für Aufrüstung und Abschreckung: Demokratie zu Tode verteidigen?

Annalena Baerbock hat sich entschieden, welche Wähler sie zurückwill. Aber selbst das könnte für sie Nebensache sein. Foto: Shutterstock.com

Grüne Außenministerin bricht Lanze für Plan zur Raketenstationierung. Wie viele ihrer Wähler sich das vorstellen konnten, ist ungewiss. Egal, wie es scheint. Ein Kommentar.

Mehrfach wurde in den letzten Tagen einerseits die Selbstkritik der Grünen nach der für sie desaströsen Europawahl gelobt und andererseits ihr Dilemma beschrieben.

Die konservative Neue Zürcher Zeitung beschrieb an ihrem Beispiel die Zerrissenheit einer einst diffus linksalternativen Programmpartei, die auf Regierungsverantwortung zielt: "Orientiert sie sich an linken Stammwählern? Oder zielt sie auf eine größere Anschlussfähigkeit in der politischen Mitte? Beiden Seiten kann sie es kaum recht machen."

Bei der Europawahl am 9. Juni hatten die Grünen in alle Richtungen verloren. Vor allem junge Wahlberechtigte, denen effektiver Klimaschutz wichtig ist, sind vorerst zur Kleinpartei Volt abgewandert (weniger zur Partei Die Linke) oder haben sich ratlos dem großen Lager der Nichtwähler angeschlossen. Andere sind nach rechts zu den Unionsparteien abgewandert.

Neues Wettrüsten mit Russland: Eine gute Idee?

Letztere dürfte die grüne Bundesaußenministerin Annalena Baerbock mit ihrem harten Aufrüstungskurs noch am ehesten zurückgewinnen können – falls es nicht vor der Bundestagswahl zum ganz großen Knall kommt. Jedenfalls lässt sie keine Zweifel daran, dass sie ein verstärktes Wettrüsten mit Russland für eine gute Idee hält und auf "Abschreckung" setzt.

Gegenüber der Funke-Mediengruppe hat Baerbock die von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verkündete Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in Deutschland verteidigt und jegliche Kritik daran als "naiv" abgetan.

Höfliche Kritik war zuvor aus den Reihen von Scholz' eigener Partei laut geworden: "Wir müssen unsere Verteidigungsfähigkeit angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine verbessern, aber wir dürfen die Risiken dieser Stationierung nicht ausblenden" hatte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich den Funke-Zeitungen gesagt.

Frage der Handlungsführung: Baerbock verweist auf Putin

Baerbock dagegen verwies auf "Putins Russland" als "derzeit die größte Sicherheitsgefahr für uns und unseren Frieden in Europa". Der russische Präsident baue seine Arsenale aus, er wolle Europa Angst machen und die Gesellschaften spalten, sagte Baerbock. "Dagegen müssen wir uns und unsere baltischen Partner schützen, auch durch verstärkte Abschreckung und zusätzliche Abstandswaffen. Alles andere wäre nicht nur verantwortungslos, sondern auch naiv gegenüber einem eiskalt kalkulierenden Kreml", befand die Spitzen-Grüne.

Dass die Verantwortlichen beider Seiten zumindest einen kühlen Kopf behalten und gerne auch "eiskalt kalkulieren", dass letztendlich niemand gewonnen hat, wenn ihnen der Kontinent um die Ohren fliegt, wäre Europa wirklich zu wünschen.

Abgesehen davon stellt sich aber die Frage, welche Demokratie hier eigentlich noch verteidigt wird, wenn die Entscheidungsträger im Wahlkampf gar nicht erkennen ließen, dass sie bereit sind, einen Dritten Weltkrieg zu riskieren.

Tief gespaltenes Land auf Kriegskurs

Normalsterbliche werden schließlich im Fall des Falles nicht mehr gefragt, ob sie das überhaupt wollen. Die Demokratie könnte buchstäblich zu Tode verteidigt werden. Da können besserverdienende Grüne 100 Mal meinen, dass der dumme Pöbel ja nicht weiß, was er durch die russische Bedrohung an Freiheiten zu verlieren hat, während die FDP als Koalitionspartner das Wort "Freiheit" im Namen trägt und zum 128. Mal betont, dass wir alle mehr arbeiten müssen, Burnout hin oder her.

Natürlich wird sich die Mehrheit nicht wünschen, von russischen Truppen überrannt zu werden – aber wer dieses Szenario schlicht für unrealistisch hält, weil Putins Armee schon in der Ukraine Personalprobleme hat, fühlt sich durch wachsende Arsenale von Abstandswaffen auf beiden Seiten eher gefährdet als sicherer. Das trifft auch auf manche Menschen zu, die SPD oder Grüne gewählt haben.

Denn die Wahlprogramme beider Parteien ließen eine solche Risikobereitschaft nicht erkennen. Langjährige Beobachtungen hätten da misstrauisch machen können, aber beide Parteien leben zu wesentlichen Teilen von der Vergesslichkeit älterer und der Gutgläubigkeit jüngerer Wahlberechtigter – was bei Union und FDP nicht anders ist.

Putin am Drücker, Baerbock als Getriebene?

Baerbock trat 2021 als mögliche "Klimakanzlerin" an; Scholz versprach "Respekt für Dich. Kompetenz für Deutschland". Die beste Antwort fiel damals schon der Satire-Truppe Die Partei ein: "Für Dich immer noch Sie" – und heute lässt sich hinzufügen: "Mehr friedenspolitische Kompetenz für das Kanzleramt." Während Teile der SPD sich das auch wünschen, sind es ausgerechnet Spitzenkräfte der Grünen als Ex-Partei der Friedensbewegung, die Scholz in seinem Aufrüstungskurs anfeuern.

Baerbocks Fanbase würde nun darauf verweisen, dass dieses neue Wettrüsten ja Putins Idee gewesen sei. Aber wer so argumentiert, gesteht Putin die Handlungsführung zu und erklärt sowohl die gesamte Nato als auch Baerbock zu Getriebenen. Und auch als solche wäre Baerbock falsch in diesem Amt.