Bericht von der Informationskriegs-Front: Leak liefert Einblicke in den EU-Nato-Werkzeugkasten

Britischer Ex-Verteidigungsminister Michael Fallon, Ex-US-Verteidigungsminister Ash Carter, Jens Stoltenberg und die frühere deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Archivfoto (2016): US-Verteidigungsministerium

Fake News zu Israel und Palästina: EU verklagt Elon Musks X wegen fehlender Content-Moderation. Desinformation wird immer breiter definiert. Auch im UK und in den USA.

Die neuerlichen Militärkonfrontationen im Nahen Osten haben auch den Kampf um Deutungshoheit und Desinformation im virtuellen Raum erneut angeheizt. In diesem Klima gedeiht zugleich die Waffenbruderschaft zwischen der Europäischen Union und der Nato, über die Telepolis mehrfach berichtete.

Deadlines vom Digitalkommissar

EU-Digitalkommissar Thierry Breton wandte sich vergangene Woche auf der Plattform X (vormals Twitter) in einem offenen Brief an den schillernden Plattform-Eigentümer Elon Musk.

In dem Brief setzte Breton dem Multimilliardär eine Frist von 24 Stunden, um der Aufforderung der EU nachzukommen, Inhalte zu löschen, die gegen den umstrittenen Digital Services Act (DSA) verstoßen. Wortwörtlich hieß es darin:

Nach den von der Hamas verübten Terroranschlägen gegen Israel haben wir Hinweise darauf, dass Ihre Plattform zur Verbreitung von illegalen Inhalten und Desinformationen in der EU genutzt wird. Ich möchte Sie daran erinnern, dass der Digital Services Act sehr genaue Verpflichtungen in Bezug auf die Moderation von Inhalten vorschreibt. (…)

Ich fordere Sie dringend auf, innerhalb der nächsten 24 Stunden eine schnelle, genaue und vollständige Antwort auf diese Anfrage zu geben. Wir werden Ihre Antwort in unsere Bewertungsakte zur Einhaltung des DSA aufnehmen.

Ich erinnere Sie daran, dass nach der Einleitung einer möglichen Untersuchung und der Feststellung einer Nichteinhaltung Sanktionen verhängt werden können.

Thierry Breton an Elon Musk

Während Musk daraufhin die Konfrontation suchte und den Digitalkommissar bat, die betreffenden Postings zu benennen, zeigte sich X-Geschäftsführerin Linda Yaccarino kooperativer und versprach, falsche und irreführende Inhalte in Einklang mit dem DSA zu entfernen.

Ganz offensichtlich ist X der Forderung nicht nachgekommen, denn am Freitag berichteten zahlreiche Medien darüber, dass die Kommission ein Verfahren gegen X einleitet (Tagesschau).

Desinformation wird zum dehnbaren Begriff

Breton hatte Musk bereits zum Zeitpunkt der Twitter-Übernahme mit juristischen Konsequenzen gedroht.

Dass auf X Falschmeldungen und fingiertes Bildmaterial kursieren, steht derweil gar nicht zur Debatte, wie etwa heise.de festhielt. Die österreichische AFP-Faktencheckerin Eva Wackenreuther hat auf der Plattform eigens eine Liste zusammengestellt – und Bretons offenen Brief nochmals gepostet.

Das Problem ist aber ein anderes.

Denn die Frage nach Desinformation stellt sich nicht mehr nur bei offensichtlichen Fakes wie veralteten Bildern, Montagen oder Szenen aus Computerspielen. Die Bestrebungen der EU zielen – in Zusammenarbeit mit dem nordatlantischen Militärbündnis – seit geraumer Zeit auch darauf, Narrative zu unterbinden, die geeignet sind, die westliche Staatengemeinschaft zu "destabilisieren", wie etwa der Außenbeauftragte Josep Borrell im Februar bekräftigte.

Das Problem ist, dass dieser Ansatz den Begriff der Desinformation extrem dehnbar macht – bis hin zu dem Punkt, dass er schlichtweg dazu benutzt werden kann, alternative Sichtweisen zu unterdrücken. Nun gibt es neue Anzeichen dafür, dass dieser Punkt, diese Grenze, bereits längst überschritten ist.

Desinformation oder berechtigte Diskussion?

In der Disziplin "Foreign Information Manipulation and Interference" verpflichtet sich auch die Bundesregierung zu einer Kooperation mit der Nato, die in einem gemeinsamen hybriden Werkzeugkasten ("hybrid toolbox") gipfeln soll.

Welche Formen dieser Werkzeugkasten annehmen kann, wurde zuletzt in einem geleakten Dokument deutlich, welches der Aktivist und ehemalige Google-Entwickler Jack Poulson Ende September auf Substack veröffentlichte.

Der 130-seitige Bericht stammt von der Ukraine War Disinfo Working Group, einem Zusammenschluss von insgesamt 13 NGOs, Denkfabriken und Forschungsinstituten, die sich dem Kampf gegen russische Propaganda verschrieben haben.

Zu den Narrativen und Falschmeldungen, die die Arbeitsgruppe an anderer Stelle bereits benannt hat, zählen unter anderem folgende Aussagen:

- Die Bestrebungen der NATO haben den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland provoziert.
- Der Westen untergräbt die Bemühungen um Friedensverhandlungen.
- Der Westen profitiert vom Krieg in der Ukraine.
- Die Inflation und die Energiekrisen werden durch den falschen politischen Ansatz Europas und der USA verursacht.
- Entwicklungsländer ziehen Russland dem Westen vor.
- Der Westen und seine Stellvertreter schüren die Russophobie.
- Militärhilfe verlängert den Krieg.
- Die EU steht unter dem Einfluss der USA.

Diese Beispiele bewegen sich durchaus im Rahmen des Diskutablen – wenngleich sie sich dabei als durchaus kontraproduktiv für die politischen Ziele oder die Vertrauenswürdigkeit der involvierten Institutionen erweisen könnten. Einzig über Glauben lässt sich eben nicht streiten.

Poulson verleiten die Ansichten der Arbeitsgruppe zur Aussage, dass ihre strategischen Empfehlungen darauf abzielten, "selbst faktische Kritik an Nato-verbündeten Regierungen" zu unterdrücken.