Bin ich Rassist? Ein Selbsttest

Was bedeutet Rassismus im Alltag? Unser Autor hat den Selbsttest gemacht. Bild: Pixabay

Gerade mit Blick auf Diskriminierung lässt sich akademisch-theoretische leicht ein Vorwurf herbeidefinieren. Doch was sagt der aus - und was sind die Folgen?

Ich halte Deutschland, das Musikvideo von Rammstein, für ein brillantes Stück. Es stellt die Zerrissenheit und Tragik dieser Nation provokant und sarkastisch heraus und ist zugleich so brachial und urgewaltig wie ein Orkan. Und zwar unabhängig von der Meinung von Teilen des deutschen Bildungsbürgertums, das es in gewohnt bräsiger Manier als "billige Effekthascherei" verstehen will; dabei dürfte es zu großen Teilen die ehrliche Seele der Musiker sein, die sich in der Bombastik Luft verschafft.

Doch die Band leistete noch mehr. Durch ihren fragwürdigen Schachzug, mit einem Kurzausschnitt vor Veröffentlichung des Videos empörte Stimmen über die "Vermarktung von KZ-Insassen" hervorzurufen, um dann ein erstaunlich differenziertes Bild dieses Landes zu zeichnen, hat Rammstein die Empörungskultur unserer Tage sozusagen als Beifang auf den Punkt gebracht.

Schnell, oft genug vorschnell, ist man mit dem Vorwurf des Rassismus bei der Hand. Empörte Zeilen sind in den sozialen Medien schnell getippt, geliked und geshared.

Umso wichtiger wird im Angesicht solcher Umgebungsgeräusche die Besinnung auf die eigene Person. Rassismus als Modeschlagwort schön und gut - aber viel wichtiger ist doch die Frage: Bist du selber Rassist? Bist du es vielleicht gar, ohne es zu merken?

In den Medien wird auf den institutionalisierten Rassismus verwiesen und behauptet, es sei dem Einzelnen "fast unmöglich, sich von diesem jahrhundertealten Konstrukt zu befreien". Darüber hinaus wird beispielsweise ein angeblicher Ursprung des Rassismus mit Kolumbus herbeiphantasiert, als handle es sich nicht um ein allgemein menschliches, sondern um ein europatypisches Phänomen. (3Sat, Die Macht der Vorurteile)

Vielleicht ist es schon ein Zeichen für einen verkappten Rassismus, als Mitglied der deutschen Mehrheitsgesellschaft außerhalb von Ballungszentren aufzublicken, wenn einem unerwartet ein dunkelhäutiger Mensch begegnet. Aber ist es das? Der menschliche Geist - und zwar ganz gleich, welche Pigmentierung seine Hülle trägt - reagiert auf Unerwartetes instinktiv mit einer Blitzbewertung, und das aus evolutionsbiologisch sehr gutem Grund.

Wenn uns jemand anschreit, zucken wir zusammen. Wenn alle ständig schreien, zuckt keiner mehr. Wenn im Alltag Menschen aller Hautfarben über das Trottoir flanieren, besteht genauso wenig Anlass zum Aufsehen, denn das ist dann "normal", es ist zu erwarten, kein Grund für eine Schnellbewertung der Lage auf Risiko oder Sicherheit hin.

Daher ist die gegenwärtige Entwicklung wichtig, dass auch Menschen sichtbar anderer Herkunft im Fernsehen und in der Öffentlichkeit ganz selbstverständlich in Erscheinung treten. Für diesen positiven Effekt ist es allerdings essenziell, auch glaubhaft Vorwürfe zu entkräften, ihre Wahl sei dem Proporz und nicht der Kompetenz der Betreffenden zuzurechnen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich also die Frage: Bin ich Rassist? Wie weit bin ich Rassist? Ich bin davon überzeugt, dass "Rasse", in sich bereits ein ungültiger Begriff, für mich nie eine nennenswerte Rolle gespielt hat. Ich bewerte Menschen vor allem danach, wie menschlich sie sind. Wie sie sich für andere einsetzen. Wie humorvoll sie sind, wie tolerant, wie kompetent. Und nicht danach, welche Hautfarbe oder Herkunft sie haben. Das nehme ich zumindest an.

Lässt sich diese Annahme aber in der Realität bestätigen? Da hilft nur Selbstreflektion. Wie fällt meine persönliche Reaktion auf bestimmte Situationen aus?

Die Drogendealer

Erster Testfall: Wenn ich durch einen bestimmten Berliner Park laufe, dann erzeugen Ansammlungen sehr dunkelhäutiger, schlanker junger Männer automatisch eine Annahme in meinem Kopf: Es wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit um Drogendealer handeln. Test abgeschlossen, Ergebnis eindeutig, denn das ist schließlich ein klares Zeichen für meinen tiefverwurzelten Rassismus. Oder?

Tatsache ist, dass Passanten dort regelmäßig von eben solchen Männern "angezischt" werden. Das ist nicht etwa Zeichen der Verachtung, sondern eine Aufforderung zum Kauf von Rauschmitteln. Diese "Anzischer" stehen zudem üblicherweise in Grüppchen am Wegesrand und transportieren die Drogen nach einem ausgeklügelten System zum Kunden. Die Beurteilung des Unterbewusstseins, dass nicht etwa allgemein Dunkelhäutige, sondern Grüppchen schlanker, dunkelhäutiger und junger Männer in diesem bestimmten Park wahrscheinlich in den Drogenhandel verwickelt sind, ist also eine auf Erfahrungswerten basierende Einschätzung.

Wenn diese Reaktion als rassistisch bezeichnet werden soll, dann muss jede Form der Einschätzung anderer aufgrund von Erfahrungswerten ebenfalls rassistisch sein. Dann aber wäre Rassismus nicht etwa ein Problem, sondern die notwendige Voraussetzung für das Zusammenleben - der Begriff würde entwertet werden. Schlimmstenfalls würde er eine positiv konnotierte Umdeutung erfahren.

Durchaus rassistisch ist es, Menschen dieses Aussehens unabhängig von den anderen genannten Faktoren pauschal als Drogenhändler zu verdächtigen, für sie ein Betretungsverbot bestimmter Orte zu fordern oder sie bei einer Bewerbung gegenüber hellerhäutigen prinzipiell zu benachteiligen. Ebenso steht die Polizei in der Pflicht, persönliche Ansichten hinter der professionellen Arbeit zurückzustellen und kein "Racial Profiling" zu betreiben. Dass dies auf ein komplexeres Mentalitätsproblem zurückzuführen ist und nicht allein auf Rassismus nach Hautfarben, zeigt sich in anderen polizeilichen Klischees, wenn beispielsweise der blonde, hellhäutige junge Mann wegen seiner Rastalocken und dem verschlafenen Aussehen regelmäßig auf Drogen hin kontrolliert wird. Aber das ist an dieser Stelle nicht das Thema.

Der Hingucker

Zweiter Testfall: Das bereits erwähnte "Aufblicken" bei der Begegnung mit dunkelhäutigen Mitmenschen. Ist dies nicht Zeichen eines unwillkürlichen Rassismus?

Ich besuchte eine Fortbildung, bei der sich fast ausschließlich hell pigmentierte Menschen fanden. Als ich mich allein in einem Raum befand, tauchte dort unvermittelt ein Kollege von beinahe schwarz erscheinender Hautfarbe auf. Auch er ist schlank und groß, wie jene Menschen im Berliner Park. Wie war meine Reaktion auf diese unerwartete Situation? In der Selbstbetrachtung komme ich hier zu einem interessanten Ergebnis.

Sicher war ich etwas überrascht - aber genauso würde meine Reaktion ausfallen, wenn jemand mit leuchtend roten Haaren durch die Tür käme, oder jemand mit dem Körperbau einer mobilen Tonne. Eben jemand, dessen Aussehen nicht jenen hunderten Menschen entspricht, die einem üblicherweise begegnen. So reagiere ich nicht, wenn ich an einem Ort unterwegs bin, an dem die Vielfalt Normalität ist.

Viel wichtiger ist die Frage: Habe ich den Kollegen mit den Berliner Parkdealern in Verbindung gebracht? Der Gedanke kam mir gar nicht. Wie reagierte ich stattdessen? In mir erwachte Interesse. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Person eine interessante Lebensgeschichte hat, nicht dem Bild der deutschen Spießbürgerlichkeit und der ermüdenden Trivialität des Büroalltags entspricht, erscheint deutlich höher: Wer ist diese Person, wo kommt sie her, was treibt sie an?

Wie erlebt sie die deutsche Mentalität, oder hat sie selbst diese? Was ist ihre Geschichte, ihr Schicksal? Das ließe sich bereits als "rassistisch" bezeichnen, aber auch hier würde dies zu einer Entwertung des Begriffs führen und zu der gefährlichen Trivialisierung eines Problems, das Leben zerstört. Es wäre genau die Umdeutung, die Rechtsextreme mit Freuden vornehmen würden, um dann zu behaupten, dass Rassismus doch gar nicht schlimm sei. Steigbügelhalter des Faschismus nehmen eine solche Zuordnung vor.

Negativ fällt meine innere Schnellbewertung allerdings aus, wenn eine Person spießbürgerlich, als Macho, arrogant oder anderweitig protzig daherkommt - dann ist es allerdings auch ganz gleichgültig, welche Farbe ihre Haut hat. Rassismus ist das nicht.

Und der Sexismus?

Ein Vorwurf, der oft in Begleitung von Rassismusvorwürfen geäußert wird, ist der des Sexismus. Inzwischen ist es zumindest in den Medien weitgehend akzeptiert, dass Sexismus mit der Sprache beginnt, und sich umgekehrt die Gleichstellung der Geschlechter in der Sprache äußern muss. Als ich die höheren Klassen des Gymnasiums besuchte, verwendete ich selber das große "I" in Beiträgen für die Schülerzeitung. Heutzutage ist es mir ein Graus. Meine Position habe ich bereits vor zehn Jahren in einem Artikel für Telepolis darlegen können.

Aber beim sogenannten "generischen Maskulinum" ist mir ebenfalls nicht wohl. Also schreibe ich beide Formen, "Kolleginnen und Kollegen", wenn es möglich ist, erwarte aber auch Nachsicht in den Fällen, in denen ich dies für pragmatisch nicht angebracht halte; am liebsten würde ich hier dem angloamerikanischen Vorbild folgen und die Anrede ständig wechseln, da damit das sprachliche Geschlecht tatsächlich als gleichgültig entlarvt wird.

Nun geht Schweden, das Land, das für viele Deutsche Inbegriff des progressiven Denkens ist, sehr pragmatisch mit seiner Sprache um - und es funktioniert. Schweden haben keinen geschlechtsgebundenen Artikel: Statt "der, die, das" gibt es nur "en, ett", was mehr oder weniger zu "Mensch" (aber auch zu vielen Tierbezeichnungen und Dingen) beziehungsweise zu "Ding" (aber auch zu vielen Tierbezeichnungen und zu "Kind") gehört.

Da funktioniert es gut, dass für Berufsbezeichnungen prinzipiell nur ein Genus verwendet wird, bei manchen Berufen das männliche, bei manchen das weibliche. Lärare, "ein Lehrer" und Sjuksköterska, "eine Krankenschwester" können beide jeden Geschlechts sein. Wenn nicht ausdrücklich alle Geschlechter inkludierende Sprache tatsächlich fatale gesellschaftlich-soziale Auswirkungen hat, wie es hierzulande postuliert wird, dann hätte sie sich in Schweden ganz besonders negativ auswirken müssen.

In Deutschland hingegen ist zwischen auch das Gendern in Mann und Frau nicht mehr genug: Angeblich folge ich mit der Benennung der männlichen und weiblichen Form einem "bipolaren Geschlechterbild". Implizit soll ich also Menschen alternativer Geschlechtsidentitäten ausgrenzen, beispielsweise Transsexuelle, wenn ich nicht die spezifische, gerade angesagte inklusive Sprache verwende. Schlimmer noch: Ich empfinde die Auswüchse der Woke-Kultur aus einem hypersensiblen und - welch schlechte Voraussetzung für Moralapostel! - zutiefst bigotten US-Amerika als lächerlich.

Darunter fällt das "sharing gender pronouns": Es soll das gewünschten Personalpronomen ("er/ihm", "sie/ihr") nicht nur im Profil der sozialen Medien angegeben werden und wird beispielsweise an Universitäten eingefordert, sondern es werden auch alternative Personalpronomen erfunden, die das "soziokulturelle Geschlecht" bezeichnen sollen, mit eigenen Bezeichnungen für Schwule, Lesben, Bisexuelle, Queer, Asexuelle und mehr; also beispielsweise "ey/em" oder "xe/hir" statt "he/him"; und dies keineswegs von Personen, die sich gerade auf Partnersuche befinden.

Von mancher Seite wird dieser Zusatz implizit als Bedingung dafür eingefordert, sich mit Diversität zu solidarisieren. Da Dogmen in mir Widerstand wecken, zumal wenn sie aufgrund zusammenphantasierter "moralischer Pflichten" aufgestellt werden, bezeichne ich das Ganze als Zirkus.

Ich möchte noch weitergehen, ich halte das Argument für falsch, dass sexuelle Orientierung sich in Sprache äußern müsse und Sprache die Gleichberechtigung fördere, jedenfalls, wenn es über die beiden historisch überlieferten Geschlechterformen hinausgeht. Die sexuelle Orientierung ist Privatsache - bezeichnenderweise wird sie derzeit oft als Aushängeschild für das Gerieren als Opfer oder Schutzpatron genutzt - und ist im Allgemeinen nicht von Belang, insbesondere dann, wenn es sich beispielsweise um einen Artikel über die Verbrechen der deutschen Fleischindustrie oder Forschung über Dunkle Materie handelt.

Aus historisch überkommener Sprachtradition heraus sollten wir vielleicht von "Forscherinnen und Forschern" sprechen, weil das generische Maskulinum im Deutschen extrem vorbelastet ist; die zusätzliche Hürde der genusspezifischen Artikel ("der, die, das"), vielleicht Kern des Problems, wird dadurch allerdings nicht ausgeräumt. Einen praxisnahen Grund, diesen Missstand der deutschen Sprache je nach gerade geltendem Zeitgeist durch Sternchen, Unterstriche oder Großschreibung zu verkomplizieren, sehe ich nicht.

Da ich also angeblich keine "LBTQ+"-gerechte Sprache verwende, müsste ich homosexuellen- und transsexuellenfeindlich sein. Zeit für einen weiteren Selbsttest!

Die transsexuelle Bekannte

Dritter Testfall: Gelegenheit zu diesem Rückblick bietet ein Essen bei jüngeren Freunden nach mehreren Jahren. Sozusagen aus heiterem Himmel wurde mir nebenbei eröffnet, ein Bekannter sei jetzt transsexuell, also eine "sie". Die Betreffende kam kurz darauf herein und setzte sich zu uns.

Gerade weil es sich um eine unerwartete Neuigkeit am Essenstisch handelte, bietet sich diese Begegnung hervorragend für eine Selbstbeobachtung an. Wie habe ich unwillkürlich reagiert? Wie willkürlich?

Nun, ich war ein wenig erstaunt - allerdings habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, Überraschungen erst einmal wahrzunehmen und dann in Ruhe zu beurteilen, wie es meiner Ansicht nach ein reflektierter Geist tun sollte; insoweit also eine eher erwartbare Reaktion.

Aber dann war ich vor allem eines: Neugierig. Enthielten meine Empfindungen der Bekannten gegenüber auch nur einen Augenblick lang eine negative Tendenz? Nicht die Spur. Wenn, dann ist ihre Person dadurch nur interessanter geworden, weil sie aus erster Hand von ihren Empfindungen als Transsexuelle in Berlin berichten kann.

Ganz abgesehen davon, dass es hochinteressant ist, aus erster Hand mehr über die Beweggründe zu einem solch tiefgreifenden Wandel zu erfahren. Und dann die Ansprache. Er oder sie? Das ist natürlich erst einmal verwirrend, ebenso, wie die weibliche Form ihres alten Namens zu verwenden. Nun könnte der kritische Geist einwenden, Aha! Das "sie"-zen ist für ihn keine Selbstverständlichkeit!

Na und? Ich bin nur ein Mensch, ein höchst fehlbarer noch dazu, und gerade sprachlich fällt es mir sozusagen von Berufs wegen schwer, Begriffe zu vertauschen. Das muss hinterfragt und gerechtfertigt werden, denn einfach mit dem Strom schwimmen, muss jedem halbwegs kritischen Geist mit Rückgrat widerstreben. Es zählt zu den höchsten Pflichten eines Publizisten, dies nicht zu tun. Natürlich ist hier der Wechsel von "er" zu "sie" völlig legitim, aber wie gesagt, es ist eben keine Kleinigkeit und bleibt eine Weile ein Stolperstein. Das ist allerdings auch kein Drama.

Überhaupt ist meine Bekannte dem Drama nicht zugeneigt. Als ich sie behutsam beim Frühstück darauf ansprach, erzählte sie ganz selbstverständlich von den Veränderungen, verkrampfte sich nicht mit "woke" verdrehten Kunstformen der Anrede, wie sie in sozialen Medien ebenso populär wie beliebig daherkommen, dort gern im Gewande der moralischen Pflicht, bei deren Nichtbeachtung die Verdammung droht und mit der manche wohl nur die Zugehörigkeit zu einer moralisch überlegenen Kaste herausstellen wollen.

Sie hatte ganz einfach erkannt, dass er in seinem Inneren eine Frau war und tat das dafür Notwendige, fertig. Ihre Sexualität ist Privatsache, etwas Alltägliches, was nicht als außerordentliche Eigenschaft plakativ nach außen getragen wird, und über das unter Freunden ganz selbstverständlich geredet werden kann. Und damit trifft sie in der Öffentlichkeit auf bemerkenswert wenig Widerstand.

In einem ähnlichen Falle wurde mir gesagt, eine Anverwandte sei lesbisch - was ich aber erst durch Dritte im Nachhinein erfuhr, da sie ebenso wie die zuvor beschriebene Bekannte ihre sexuelle Orientierung nicht als Aushängeschild vor sich hertrug. Änderte das etwas an meinem Verhältnis zu ihr? Kein bisschen. Sie ist immer noch die offene, energiesprühende, beeindruckende und starke Frau wie zuvor, Gespräche und Begegnungen sind immer noch ebenso erfreulich.

Daher: Solange jemand seine sexuelle Orientierung nicht offensiv thematisiert, um seinen Opferstatus oder seine angebliche Besonderheit zu betonen, scheint sie mir für meine Sichtweise keine Rolle zu spielen.

Segmentierte Opfer und Beschützer

Es wird derzeit viel darüber geschrieben, dass eine heteronormative Ordnung queere und Trans-Menschen diskriminiert. Das stimmt. Leider wird aber entweder auf einer rein spekulativen Ebene geschrieben, oder aber im Mäntelchen von Texten, auf die der SDS, der Sozialistische Deutsche Studentenbund der 68-er Jahre, stolz gewesen wäre. Bezeichnenderweise äußerte sich ein politisch engagierter, schwuler junger Mann, wie angenehm er es fände, sich über alltägliche Themen wie Filme zu unterhalten, als ständig mit seinen Geschlechtsgenossen über die Probleme, Sorgen und Benachteiligungen von Homosexuellen zu lamentieren.

Und tatsächlich lässt es sich vorzüglich über empfundene Benachteiligungen ergehen, während wir Luxusartikel aus Drittweltländern beziehen, als Dank unseren Müll hinsenden und der Klimakatastrophe zum Trotz SUV fahren. Auch verdächtige ich viele der besonders wortreichen Ankläger der Trittbrettfahrerei, da sie im Namen der Gleichberechtigung ihren Narzissmus oder ihre Gier nach Anerkennung befriedigen wollen oder sich einen Posten in einem antirassistischen Projekt oder der Sozialforschung versprechen.

Wenn die hervorragende Kabarettistin Carolin Kebekus eine Woche nach dem Tode von George Floyd ihre Satiresendung zu einem "Brennpunkt" umfunktioniert, da "die ARD bisher noch keinen (...) dazu gemacht hat, (also) machen wir einfach einen" (Carolin Kebekus Show", ARD, 4. Juni 2020, 23:00 Uhr), dann aber mit farbigen Kolleginnen und Kollegen fast ausschließlich und ausgerechnet aus der Medien- und Kulturbranche aufwartet, gibt sie sich eine unnötige Blöße - ein guter Wille führte zu einer unglücklichen Umsetzung.

Aber wer Polizisten auf die Müllhalde verbannt und mit dem Etikett "People of Colour" kokettiert, wie es eine Autorin in der taz getan hat, und dann auf Titelseiten von Magazinen als Vorzeige-Mahnerin posiert, der verspielt damit Glaubwürdigkeit. Sie setzt sich dem Vorwurf aus, ihre Popularität nicht aufgrund der Darstellung real erlebter Diskriminierung, sondern aufgrund billigen Populismus errungen zu haben. So verhalten sich falsche Freunde, die der Sache einen Bärendienst erweisen.

Von marxistischer Seite und von Vertretern des Sozialismus, darunter durch Sahra Wagenknecht in ihrem aktuellen Buch, wird zudem festgestellt, dass Identitätspolitik und Raubtierkapitalismus gut zusammenpassen. Es würde von der Frage einer gerechteren Kapitalverteilung abgelenkt. Mehr noch, die Solidarität unter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern leide Schaden, indem anhand von wohlfeilen persönlichen Unterschieden, wie Hautfarbe oder sexuelle Orientierung, eine Selbstsegmentierung in argwöhnische Opfer- und Beschützerzirkel vonstattengeht.

Darüber hinaus beträfe es besonders die sozial engagierten und daher im Fokus der Identitätspolitik stehenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, während es den übrigen mehr oder weniger gleichgültig sein könne. Die rechtskritische Autorin Caroline Fourest sekundiert in ihrem aktuellen Buch:

"Der Kampf der Rassen hat den der Klassen verdrängt. (...) Für radikal säkulare Linke (wird es) immer schwieriger, ihre Ansichten zu vertreten. Und zwar auch, weil sie von (...) den identitären Linken daran gehindert (werden)."

In weniger getragenem Ton, eher in einer Art verbalen Amoklaufs, lässt sich ein Altlinker darüber aus:

Da oben weit über mir sitzt jetzt von links forciert eine subventionsverfettete Polit- und Kulturschickeria, die (mir) kackfrech sagt, was ich wie sagen soll, tun muss und definitiv nicht mehr tun darf. (...) Nur untertänig. Staatstragend. Bürgerpflichtig. Und damit nichts, womit ich was anfangen kann. Ich war mal links. (...) Bevor daraus das neue identitäre, autoritäre links wurde. (...) Dass die Liberalkonservativen (...) jetzt in dieser Zeit plötzlich die neuen Rebellen sind, macht mich ehrlich fertig.

Maschinist-Blog

Obwohl mir die linke Freude an der Selbstzerfleischung bekannt ist, stimmt es mich nachdenklich, dass Altlinke ihre ehemaligen Gesinnungsgenossen inzwischen verdächtigen, staatskritisches Verhaltens gegen aggressive Staatsraison eingetauscht zu haben.

Natürlich gibt es institutionellen und systemischen Rassismus. Natürlich gibt es rassistische Verhaltensmuster, überall auf der Welt, in jeder menschlichen Gesellschaft, unabhängig von Hautfarbe und Kultur, und jede Gesellschaft müsste sich eigentlich der Herausforderung stellen, damit umzugehen.

Ich bin mir der Problematik der Gleichbehandlung bewusst. Ich habe an einer Neuköllner Gesamtschule zwei Jahre lang ein Sportprojekt mit Jugendlichen durchgeführt, von denen keiner tief reichende deutsche Wurzeln hatte.

In Jugger, dem Sport, den ich betreibe, sind gemischte Teams eine Selbstverständlichkeit. Wenn ich Bücher schreibe, dann ziehe ich bewusst auch die Perspektive von Frauen oder queeren Menschen geistig zur Rate, um eben nicht aus eindimensionaler männlicher Perspektive zu erzählen.

Da ist eine wichtige Figur in einem Perry Rhodan NEO schwul, was aber nur in einer passenden Szene dezent und selbstverständlich Erwähnung findet, sonst nicht; da wechsle ich in Romanen gelegentlich ursprünglich automatisch männlich angelegte Figuren bewusst zu Frauen um und das bewährt sich ganz ausgezeichnet. Aber ich verbiege mich nicht dafür, zwinge den Figuren keine Sexualität auf, die sie nicht haben, verdrehe nicht ihr Wesen aufgrund eines Dogmas.

Zusammengefasst

Es kann natürlich kritisiert werden, dass eine Beurteilung der Persönlichkeit anhand dreier Beispiele kaum gerechtfertigt sei. Aber zum einen sind es nur drei exemplarisch herausgegriffene Situationen, und zum anderen sind es drei Beispiele aus dem Lebensalltag – Situationen, die unvorbereitet erlebt worden sind. Gerade im Bereich der Diskriminierung lässt sich auf akademisch-theoretische Weise leicht ein Vorwurf herbeidefinieren und zurechterklären, aber gerade hier zählt das ganz persönliche, ganz praktische Alltagsverhalten.

Daher erlaube ich mir in der Selbstbetrachtung festzustellen: Nein, ich bin weder Rassist noch Sexist. Sicher bin ich nicht frei von rassistischen Tendenzen, aber das, so bin ich überzeugt, trifft auf alle Menschen zu: Wer perfekt ist, werfe den ersten Stein. Wer den moralischen Zeigefinger erhebt und mich in rassistischer und sexistischer Weise einen "alten, weißen Mann" schimpft, den nenne ich einen Toren.

Aber ich bin ebenso wie jeder andere Mensch in der Pflicht, rassistische oder sexistische Denkmuster bei mir selbst zu erkennen und rechtzeitig gegenzusteuern. Und dies, ohne die wichtigste aller Pflichten eines jeden Bürgers und einer jeden Bürgerin in einer Demokratie zu vernachlässigen. Die lautet selbstständiges, kritisches, von moralischen Sprachrohren und angeblichen gesellschaftlichen Zwängen ungebeugtes, kritisches Denken sowie die Bereitschaft zur offenen, respektvollen Diskussion.

Schlussbemerkung

Vermutlich wird bei der Lektüre dieses Artikels wieder jemand auf Twitter "es so müde sein", dass erneut das Gleichnis "Weiß ist rassistisch" von einem "Weißen" an dieser Stelle verworfen worden ist. Nun, gegen Müdigkeit hilft Bewegung. Anstelle die sozialen Medien mit emotionsgeladenen Kurzmeinungen zu fluten, ist es da ein muntermachender Schritt, sich ganz praktisch und "draußen auf der Straße" in einem Hilfsprojekt für benachteiligte Mitmenschen, in der Jugendarbeit oder anderen Bereichen zu engagieren - egal, welcher Herkunft sie sein mögen. "Messt sie an ihren Taten" gilt für moderne Sittenwächter genauso wie für alle anderen.

Ruben Wickenhäuser gründete in der Schulzeit ein lokales Sammelbecken für Schülerdemonstrationen gegen Rassismus, war in der Anfangszeit der Aktion Courage aktiv und lebte mit seiner Familie viele Jahre in Schweden, wo er unter anderem Sportstunden für die lokale Flüchtlingsunterkunft anbot. Er studierte Geschichte und Biologie, arbeitet als Publizist und veröffentlichte unter anderem das Buch "Rassenforschung – Rassenkunde – Rassenideologie. Die Anthropologie im Spannungsfeld von Rassenideologie und Nationalsozialismus" zur Wissenschaftsgeschichte der physischen Anthropologie. Gegenwärtig arbeitet er an einem Buch zu "Rasse im Rassismus". Mehr zu seiner Arbeit unter https://www.uhusnest.de