Corona-Aufarbeitung abgesagt: Das Wahlkampfgeschenk an AfD und BSW
Nicht einmal ein Bürgerrat zur Aufarbeitung der Corona-Politik kam zustande. Er hätte auch zur Mitmachfalle werden können. Wer von den Altlasten profitiert. Ein Kommentar.
Es wird immer wieder viel darüber spekuliert, welchen Anteil das Internet am Aufstieg der AfD hat. Manche wollen sich partout nicht eingestehen, dass der größte Erfolgsfaktor der AfD die Politik der Bundesregierung ist. Das jüngste Beispiel ist die Absage der Regierungskoalition an eine Aufbereitung der Corona-Maßnahmen und der Pandemiepolitik der lenzten Jahre.
Es werde im Bundestag kein neues Gremium zur Aufarbeitung der Maßnahmen während der Corona-Pandemie und keine zusätzliche Aufarbeitung in dieser Legislaturperiode geben, sagte Katja Mast, Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion, am Mittwoch in Berlin.
Weder Bürgerrat noch Enquetekommission zur Corona-Politik
Damit wurde endgültig klar, was sich vorher schon abgezeichnet hatte: Die einst als Fortschrittskoalition apostrophierte Hängepartie mit schnellem Verfallsdatum ist nicht mehr in der Lage, den Rahmen für eine solche Aufarbeitung zu schaffen.
Lesen Sie auch:
Scheu vor Konfrontation? Regierung lehnt Corona-Aufarbeitung vorerst ab
Corona-Krise als Booster für Depressionen: Die privatisierte Aufarbeitung
Volksgesundheit als Vorwand: Steckte hinter Corona-Regeln eine perfide Strategie?
Corona-Soforthilfen: Rettungsanker oder Geld zurück?
Lancet-Studie: Impfungen gegen Covid-19 retteten 1,6 Millionen Leben in Europa
Genau darum aber wäre es jetzt gegangen. Strittig war das Format, in dem die Aufarbeitung hätte stattfinden sollen. Jetzt streiten sich die drei Parteien darüber, wer für dafür verantwortlich ist. Vor allem Vertreter von SPD und FDP beharken sich da heftig. Nach Angaben beider Seiten konnten sich die Parlamentarier nicht verständigen, ob ein sogenannter Bürgerrat oder eine Enquetekommission mit einer Analyse der Pandemiepolitik betraut werden sollte.
In Sachen Corona und allgemein: Illusionsmaschine Bürgerrat
SPD und Grüne haben sich die Einberufung eines Bürgerrats gewünscht. Im Koalitionsvertrag der formal noch existierenden Regierungskoalition wurde festgelegt, dass sie für bestimmte Themen ein Bürgerrat den Bundestag einsetzen wollen. Es gab auch schon einen Praxistest. So haben etwa 160 Mitglieder des Bürgerrats "Ernährung im Wandel", die per Los ausgewählt wurden und einen Querschnitt der deutschen Bevölkerung abbilden sollten, unlängst ihre Empfehlungen an das Parlament übergeben.
Große Auswirkungen hatte das nicht. Denn ein Bürgerrat kann nur Vorschläge machen, die oft genug in den Papierkorb oder – wohl zeitgemäßer – im Datenspeicher landen, wenn sie nicht zur herrschenden Politik passen. Das zeigte sich in den letzten Jahren auch schon in Frankreich, wo Präsident Emmanuel Macron nach den massiven Protesten gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters einen Bürgerrat einberief.
Damit sollte die Protestbewegung ruhiggestellt werden und trotzdem garantiert werden, dass sich in der Politik nichts ändert. So gehört auch das Instrument des Bürgerrats zu jenen "Mitmachfallen", vor denen der Publizist und Soziologe Thomas Wagner schon 2013 warnte.
Bürgerbeteiligung wird suggeriert, um noch besser durchregieren zu können. Da könnte man sich solche Inszenierungen auch ganz sparen, meint zumindest die Rechtsphilosophin Frauke Rostalski, die im Interview mit dem Deutschlandfunk vor dem Bürgerrat warnte, weil er nur zu Enttäuschungen bei den Beteiligten führen würde.
Sind Teile von Bürgerräten nicht staatstragend genug?
Manche nämlich denken, sie könnten mitentscheiden und sind empört, wenn sie feststellen: Sie wurden nach ihrer Meinung befragt, aber nicht mehr. Das Mitglied des Ethikrats Frauke Rostalski hält einen Bürgerrat auch deshalb für ungeeignet, weil sich im Praxistest zeigte, dass die ausgelosten Bürger nicht alle auf den Boden der Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung (FDGO) geachtet hätten, auf dem sie stehen müssen.
Sie hätten sich doch tatsächlich erdreistet, Vorschläge zu machen, die nicht mit der gesetzlichen Lage und gar dem Grundgesetz übereinstimmen. Auf die Idee, die Gesetze zu ändern, kommt natürlich jemand, der in die Instanzen des Staatsapparates eingebettet ist, nicht. Da sollte man vielmehr die Finger von solchen Instrumenten lassen, die den Bürgern die Illusion geben, sie könnten wirklich etwas entscheiden.
Aufarbeitung der Corona-Politik: Wer gilt hier als Experte?
Dieser falsche Eindruck kommt bei der Einrichtung einer Enquetekommission erst gar nicht auf. Diese Kommissionen werden in der Regel mit Bundestagsabgeordneten und Experten besetzt – und eine solche wurde von der FDP als Gremium zur Aufarbeitung der Corona-Zeit favorisiert. In der Bundesregierung gab es offenbar auch Überlegungen, sowohl einen Bürgerrat als auch eine Enquetekommission einzuberufen.
Doch auch das scheiterte wohl am Streit, wer dieser Enquetekommission angehören sollte. Die SPD wollte auch Vertreter von Bundesländern dabei haben, die FDP, nur Vertreter des Bundestags plus einige "Experten". Wer alles unter den schillernden Begriff "Experten" gefallen wäre, hätte sicher zu neuem Streit geführt. Aber kam es gar nicht mehr, weil das ganze Aufarbeitungsprojekt nun abgeblasen wurde.
"Die Koalition hat nicht die Kraft, die Pandemie nur mit einem Bürgerrat aufzuarbeiten," erklärte die SPD-Bundestagsabgeordnete Katja Mast mit seltener Ehrlichkeit.
Wahlkampfhilfe für AfD und BSW
Freuen können sich AfD und BSW, die schon lange die offizielle Corona-Politik kritisierten und unter anderem davon profitieren. Jetzt können sie sich einmal mehr als Stimmen der von der offiziellen Politik Ungehörten und Missachteten inszenieren. Das fällt ihnen um so leichter, weil noch immer große Teile der Zivilgesellschaft und der gesellschaftlichen Linken keine Kritik an der offiziellen Corona-Politik äußert.
Besonders fällt das bei der breiten zivilgesellschaftlichen Bewegung gegen die AfD auf, die mit Recht die irrationalen Positionen der Rechten in der Corona-Frage kritisiert, aber nicht erkennt, dass die offizielle Corona-Politik wesentlich zur Stärkung der Rechten beigetragen hat. Das wird auch in zwei Büchern deutlich, die gerade erschienen sind und die sehr fundiert den Boden kritisieren, auf dem Parteien wie die AfD wachsen.
Beide machen deutlich, dass die liberale Demokratie nicht im Gegensatz zur AfD steht, sondern die Bedingungen schafft, unter denen immer wieder rechte Bewegungen entstehen. Das gelingt dem langjährigen Beobachter der rechten Szene, Anton Stengl, in seinem kürzlich im Verlag Die Buchmacherei erschienen Buch "Ungleichheit und Hass", in dem er profunden Hintergrundwissen einarbeitet.
Nur bei der Corona-Politik verfällt er in eine unkritische Verteidigung aller offiziellen Maßnahmen und hat hier keine Kritik am Ausbruch autoritärer Staatlichkeit. In dem von Judith Goetz und Thorsten Mense im Unrast-Verlag herausgegebenen Sammelband "Rechts, wo die Mitte ist" wird offizielle Corona-Politik weitgehend ausgespart, obwohl sie doch auch ein profundes Beispiel für einen autoritären Umbau des Staates durch die sogenannte Mitte wäre.
Corona-Aufarbeitung 2025?
Da bleibt nur die Hoffnung, dass fünf Jahren nach dem Lockdown-Beginn die wenigen Linken, die die autoritäre Staatspolitik der sogenannten Mitte kritisierten und schon damals warnten, dass sie nur den Rechten nutzt, zusammenfinden. Sie könnten fünf Jahre danach überprüfen, was an ihrer damaligen Kritik und ihren Warnungen, dass es nur den Rechten nützt, wenn Linke sich kritiklos der staatlichen Politik unterordnen, bestätigt hat.
Der Autor hat bereits im Sommer 2020 mit Clemens Heni und Gerald Grüneklee das Buch "Corona und die Demokratie: Eine linke Kritik" herausgegeben, das davor warnte, dass die Rechten profitieren, wenn es keine linke, emanzipatorische Kritik an der autoritären Staatlichkeit gibt.