Corona: Niederländische Regierung nahm Einfluss auf "unabhängiges" Beratergremium

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Die freigegebenen Akten und die Auswertung durch die investigativen Journalisten gewähren tiefe Einblicke in die Denke und das Handeln von Regierungsbeamten. Diese schienen sehr besorgt um die Darstellung ihrer Arbeit durch das wichtigste wissenschaftliche Beratungsgremium für das Pandemiegeschehen, nämlich das OMT.

Die vorherige Erklärung, es sei vor allem um "Klarstellungen" durch das RIVM gegangen, erscheint nun wenig glaubwürdig. Aber natürlich ist "Klarstellung" ein dehnbarer Begriff: Für die Regierung heißt er wohl vor allem "bessere Darstellung" der eigenen Arbeit.

Dass in der Öffentlichkeit stehende, führende Politiker um ihre Außendarstellung bemüht sind, sollte niemanden mehr wundern – man denke auch noch einmal an den jüngsten Rücktritt von Bundesfrauenministerin Anne Spiegel, der man vorwarf, sich zuvor als Umweltministerin während der Flutkatastrophe zu viel um ihr öffentliches Image und zu wenig um die Not der Menschen gekümmert zu haben.

Eine besonders problematische Note erhalten die jetzt bekanntgewordenen Vorgänge aus den Niederlanden aber deshalb, weil Regierungsbeamte offenbar Einfluss auf die Arbeit eines als unabhängig geltenden wissenschaftlich-medizinischen Gremiums genommen haben – und das auch noch ohne Wissen seiner Beraterinnen und Berater. Knotenpunkt dürfte Professor Jaap van Dissel sein, der nicht nur als Infektionsmediziner, sondern auch als Direktor des RIVM und damit politischer Beamter dem OMT vorsitzt.

Dem damaligen Gesundheitsminister Hugo de Jonge – wie sein deutscher Amtskollege Jens Spahn Mitglied einer "christlichen" Partei – dürfte entgegenkommen, dass er im Januar 2022 von seinem Nachfolger abgelöst wurde. De Jonge ist inzwischen Bauminister. Man denke an Spahns Prophezeiung, man werde nach der Pandemie viel vergeben müssen.

Behinderung der Presse

Aber auch die Behinderung der Pressearbeit wirft kein gutes Licht auf die niederländische Regierung. Nur mithilfe des Verwaltungsgerichts und hartnäckige parlamentarische Kontrolle kann die Öffentlichkeit – nach vielen, vielen Monaten – nun das Management der Pandemie besser nachvollziehen.

Mark Ruttes Führungsstil – er ist nun immerhin schon seit 2010 Ministerpräsident und steht zurzeit seinem vierten Kabinett vor – ging schon vorher als "Rutte-Doktrin" in die Geschichtsbücher ein: Demnach sollen wichtige interne Vorgänge von Beamten weder mit der Öffentlichkeit noch mit dem Parlament geteilt werden.

Die Niederlande sind laut Reportern ohne Grenzen zwar das Land mit der sechstbesten Pressefreiheit (zum Vergleich: Deutschland landet auf Platz 13, Österreich auf 17). Doch das hier wieder zu Vorschein kommende Hinhalten und Zurückhalten von Informationen gegenüber der Presse seitens der Regierung wird von der Journalistenorganisation ausdrücklich als bekanntes Problem angeführt.

Corona-Diktatur oder nicht?

Interessant sind die neuen Erkenntnisse auch mit Blick auf die Vorwürfe aus den Reihen der niederländischen "Querdenker". So unterstellen beispielsweise die Mitglieder der Stiftung Viruswaarheid der Regierung, eine "Corona-Diktatur" einführen zu wollen.

Das ergibt nun aber wenig Sinn: Laut den Recherchen der Presse und des Parlaments war die Regierung eher darum bemüht, die aktuelle Lage zu relativieren und die Risiken herunterzuspielen, um eigene Fehler als weniger gravierend erscheinen zu lassen. Zur Rechtfertigung härterer Maßnahmen für die (angebliche) Unterjochung der Bevölkerung hätten Beamte die Empfehlung des OMT im Gegenteil dramatisieren und verschärfen müssen.

Auf Mark Ruttes Arbeit sowie die seiner Ministerien und Minister wirft das alles kein gutes Licht. Wenn hinter der Einflussnahme und insbesondere der Hinhaltetaktik aber nicht nur Inkompetenz und Personalmangel stand, sondern bewusstes Taktieren, scheint die Rechnung aber aufgegangen zu sein: So gibt es zurzeit keine Forderung nach ernsthaften Konsequenzen.

In den Niederlanden gelten zurzeit nämlich nur noch unverbindliche "Empfehlungen" gegen die Verbreitung des Coronavirus und keinerlei echte Schutzmaßnahmen mehr. Die Bevölkerung ist das Thema satt. Und dann sind da ja noch Putin und der Ukraine-Krieg, die die Medien beherrschen.

Gutes Timing

Die Folgen diese Affäre hätten während eines harten Lockdowns wohl anders ausgehen, als es wiederholt zu gewaltsamen Ausschreitungen kam und das Land länger denn je zuvor nur mit einer geschäftsführenden Regierung auskommen musste. Anfang 2021 war Ruttes drittes Kabinett nämlich wegen eines großen Rassismus-Skandals kollektiv zurückgetreten.

Aber auch hier wurde die Aufklärung behindert und verzögert. Es war vor allem ein Verdienst des Abgeordneten Pieter Omzigt, dass die Vorfälle in dieser Tiefe aufgearbeitet wurden. Seine Partei, die an der Regierung beteiligte CDA, dankte es ihr nicht – Omzigt wurde geschasst und sitzt seit Juni 2021 als fraktionsloser Politiker im Parlament.

Hinter dieser Affäre könnte ebenfalls ein geschicktes Timing stecken: Der offizielle Bericht wurde Ende 2020 veröffentlicht. Mit dem – sowieso eher symbolischen – Rücktritt im Januar 2021 konnten die regierenden Parteien das unangenehme Thema weitgehend aus dem Wahlkampf im Februar/März jenes Jahres heraushalten. Zusätzlich opferte man vielleicht noch den einen oder anderen entbehrlichen Staatssekretär, auf den sich die Verantwortung abwälzen ließ.

Ruttes Partei weiter stark

Ob das alles Zufälle sind oder bewusste Planung, wissen wohl nur die Beteiligten. Bisher scheint ein großer Teil der Bevölkerung der Regierung aber sehr viel zu verzeihen: Ruttes VVD wäre auch nach neuesten Umfragen wieder die mit Abstand stärkste Kraft im Parlament.

Die Rolle eines angeblich unabhängigen wissenschaftlichen Beratungsgremiums wird aber ad absurdum geführt, wenn in seinen Berichten dann das steht, was die Regierung hören will. Die Fachleute wurden hier nun dem Anschein nach instrumentalisiert, wahrscheinlich sogar ohne ihr Wissen.

Man müsste wohl die Rolle des RIVM und vor allem seines Direktors Jaap van Dissel kritischer hinterfragen. Letzterer war schon 1999 Professor und Abteilungsleiter an der Uniklinik Leiden. Seit 2013 ist er Direktor der staatlichen Institution, der in der Coronapandemie eine zentrale Bedeutung zukam.

Welche Karriereperspektiven hat jemand noch, der es schon so weit gebracht hat? Spekuliert er vielleicht selbst auf das Amt des Gesundheitsministers – und hat er darum womöglich so ein offenes Ohr für die Bitten um "Klarstellung" von Regierungsbeamten?