Corona-Politik: Bund und Länder halten Kurs

Kein grundsätzlicher Strategiewandel oder differenzierte Beurteilung der Infektionslage. Warnung vor Lockdown und Folgen für Minderjährige werden lauter

Eine Forderung hat die heutige Bund-Länder-Konferenz stärker bestimmt als alle vorherigen entsprechenden Beratungen: Ein weiterer Lockdown, der Wirtschaft und Gesellschaft in der Bundesrepublik lahmlegen würde, muss auf jeden Fall verhindert werden. Was die Frage nicht beantwortet, zu wessen Lasten eine offene Gesellschaft in Pandemiezeiten gewährleistet werden kann. Und ob ein Strategiewechsel bei der Bekämpfung des Coronavirus nicht geboten ist.

Bereits vor der Bund-Länder-Unterredung hatten sich Vertreter etablierter Parteien gegen eine Fortführung der bisherigen Pandemiepolitik ausgesprochen. So forderte der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag, Erwin Rüddel "eine Botschaft, dass es keine automatischen Lockdowns mehr geben wird".

Der CDU-Politiker schloss in diesen Vorstoß ausdrücklich auch Ungeimpfte ein. Gegenüber der Bild sagte Rüddel:

Es stellt sich die Frage, ob es unsere Gesellschaft nicht auch aushalten kann, diejenigen, die sich bewusst nicht impfen lassen und dann schwer erkranken, entsprechend zu versorgen, statt das gesamte Land und die Wirtschaft mit dem Damoklesschwert des Lockdowns zu ängstigen und zu schädigen.

Doch genau an dieser Frage scheiden sich die Geister, der Druck auf Ungeimpfte steigt. Laut dem Positionspapier für die Videokonferenz von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpräsidentinnen sowie Ministerpräsidenten soll das kostenlose Testangebot im Herbst auslaufen.

Nach Angaben des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Michael Müller (SPD), der dem Bund-Länder-Gremium vorsteht, könnten die kostenlosten Tests für alle Bürgerinnen und Bürger bereits am 10. oder 11. Oktober auslaufen.

Dann würden nur noch Personen kostenlos getestet, die keine Vakzine verabreicht bekommen können oder für die die Ständige Impfkommission keine Impfempfehlung ausgesprochen hat. Die Nachrichtenagentur dpa schrieb vor Ende der heutigen Beratungen, man plane die Einführung kostenpflichtiger Schnelltests "durchaus auch als Extra-Anstoß für mehr Impfungen, die ja gratis sind".

Politik über Verordnungen

Klar war schon vor der Videokonferenz, dass die Politik über Verordnungen fortgeführt wird. Die "epidemische Lage von nationaler Tragweite" soll demnach von der Regierungsmehrheit mit Stimmen von Teilen der Opposition verlängert werden. Nach dpa-Angaben sprachen sich "Gesundheitsminister aller Länder (…) am Montag einstimmig dafür aus, dass der Bundestag sie über den 11. September hinaus verlängert".

Zuletzt hatten die Abgeordneten des Bundestags die stets drei Monate geltende Rechtsgrundlage am 11. Juni verlängert. Die Deklaration einer landesweiten epidemischen Notlage hebelt parlamentarisch-föderale Entscheidungsmechanismen teilweise aus und gibt der Bundesregierung die Befugnis, direkt Verordnungen zu erlassen, etwa zu Testvorgaben und Impfungen.

Ungewöhnlich deutlich kritisierte der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, die aktuelle Pandemiepolitik von Bund und Ländern. "Notwendig ist eine Langfrist-Strategie, wie wir auf Dauer mit dem Virus koexistieren können", sagte der Allgemeinmediziner: "Wir können unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben nicht immer wieder aufs Neue stilllegen."

Statt "simpler Lockdown-Politik mit dem Holzhammer im Sinne bloßer Kontaktreduzierung" seien eine "zielgenauere und evidenzbasierte Anti-Corona-Maßnahmen" notwendig, so der Ärztekammer-Präsident, der die aktuelle Pandemiepolitik damit indirekt aburteilte. Reinhardt wies auch darauf hin, dass "viele Menschen, vor allem Kinder und Jugendliche, unter den Beschränkungen in vielfältiger Form leiden".

Das betrifft nach Ansicht des Ärztevorsitzenden auch die Kriterien zur Bewertung der Pandemielage. "Ganz entscheidend" seien neben der Zahl der Neuinfektionen die Hospitalisierungsrate, die Zahl der tatsächlich an Covid-19 Erkrankten, die Test-Positivrate, die Impfquote und die Altersstruktur der Infizierten.

Die meisten der dafür erforderlichen Daten würden von den Gesundheitsämtern, vom Robert-Koch-Institut sowie von Wissenschaftlich-Medizinischen Fachgesellschaften erhoben und liegen vor. "Man muss sie nur nutzen", so Reinhardt.

Folgen der Pandemiepolitik für Kinder und Jugendliche

Berufen dazu wäre das Bundesgesundheitsministerium. Das Ressort unter Leitung des CDU-Politikers Jens Spahn aber hatte mit Forderungen nach Sanktionen für Nicht-Geimpfte für Furore gesorgt.

Ein ministeriales Strategiepapier sieht erhebliche Nachteile für Menschen vor, die sich nicht haben impfen lassen. Spahns Pläne zielen über die Auferlegung der Testkosten hinaus darauf ab, Ungeimpfte in einem stärkeren Maße zu benachteiligen. Für diese Bürgerinnen und Bürger könnten "erneut weitergehende Einschränkungen notwendig werden", heißt es in dem ministerialen Papier.

Mit dem nahenden Herbst und einer damit einhergehenden wahrscheinlichen Verschärfung der Infektionslage werden allerdings auch Stimmen lauter, die vor den sozialen Folgen einer solchen restriktiven Politik warnen.

So plädierte das Deutsche Kinderhilfswerk für die Beibehaltung kostenfreier und leicht zugänglicher Testmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche.

Zugleich befürwortet das Kinderhilfswerk Impfangebote für Minderjährige ab zwölf Jahren. "Diese müssen freiwillig sein und nach Beratung von den betreuenden Kinder- und Jugendärzten durchgeführt werden." Kinder dürften keinem besonderen Impfdruck ausgesetzt werden, "nur weil die Impfquote unter Erwachsenen nicht ausreichend ist".

Deutlich wird angesichts dieser Debatte schon jetzt, dass die vielfach kritisierte und nur teilweise erfolgreiche Pandemiepolitik nur in Nuancen geändert werden soll. Ein grundsätzlicher Strategiewandel, der nicht mehr nur Impfungen priorisiert, sondern etwa auch auf die Behandlung Erkrankter setzt, ist nicht erkennbar.

Wird der restriktive oder gar repressive Ansatz der Pandemiebekämpfung beibehalten, droht die Strategie in eine Frontstellung gegen Ungeimpfte zu münden. Mit Blick auf die Intervention des Kinderhilfswerks muss in diesem Fall klar sein, dass Kinder und Jugendliche aus solchen Familien vom sozialen und gesellschaftlichen Leben bis auf weiteres ausgeschlossen wären.

Bei einer aktuellen Durchimpfung von gerade einmal knapp 55 Prozent der Bevölkerung wären die Folgen erheblich.

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