Corona: Warum eine Impfpflicht nicht okay ist

Seite 4: Doppelte Maßstäbe, wenn überhaupt

Eine offene Debatte über diese Probleme ist aber dann wohl ohnehin obsolet, denn was soll eine zwangsweise verabreichte Spritze in den Oberarm implizit anderes verdeutlichen, als dass man sich seine Meinung darüber auch irgendwohin stecken kann? Nach Artikel 2 Grundgesetz kommt es ja auf Artikel 5 schließlich nicht mehr an.

Die Impfpflicht-Verfechter haben jegliche Sensibilität dafür verloren, welche Zumutung ein körperlicher Eingriff gegen die eigene Überzeugung oder auch nur gegen Ängste bedeutet. Würde man denn Veganer – aus Gründen der Volksgesundheit versteht sich – mit Fleisch zwangsernähren? Oder Moslems mit Schweinefleisch?

Wer so tut, als sei er von der Radikalisierung der Gegner überrascht, der heuchelt. Oder war diese Reaktion in kalkulierter Rücksichtslosigkeit gar ein bisschen erwünscht, um neue Überwachungsmaßnahmen einzuführen? Man weiß es nicht.

Natürlich tragen die Verantwortung für illegale Aktionen diejenigen, die sie ausführen. Aber der politische Nährboden wird von denen bereitet, die mit dieser Impfpflicht die Gesellschaft (wieder einmal) spalten.

Es war bisher gute demokratische Gepflogenheit, dass sich neu gewählte Politiker als Vertreter aller Wähler präsentieren. Olaf Scholz bekannte sich dagegen schon vor seiner Amtseinführung als Kanzler der Geimpften.

Hygieneregeln der Politik außer Kraft

Alle Gewählten sollten sich fragen, ob es nicht einfach eine Sache des Anstands gewesen wäre, festzustellen: wir halten uns an die Zusage, dass es eine Impfpflicht nicht geben wird. Viele hatten es nur deshalb nicht explizit versprochen, weil die Frage noch vor wenigen Wochen zu abwegig erschien, als dass sie ein Journalist oder Meinungsforschungsinstitut gestellt hätte.

Solche Volten untergraben jedes Vertrauen in die Institutionen, abgesehen davon, dass eine Zwangsmaßnahme als solche auch die gewichtigen sachlichen Argumente für die Impfung diskreditiert. Denjenigen Ärzten, die sich um sachliche Aufklärung der Zweifler bemüht haben, wird nun der Boden entzogen, denn der Staat befiehlt, was in der Arztpraxis geschieht.

Würden die Abgeordneten tatsächlich in Ruhe auf ihr eigenes Gewissen hören, hätte eine Impfpflicht wohl wenig Chancen. Aber viel wahrscheinlicher ist es, dass die Mehrheit in einem Herdentrieb von "Alle demokratischen Parteien nun gegen die Pandemie" und einer "Wir wollen doch alle das Virus bekämpfen" - Harmonie über diesen rechtsstaatlichen Elefanten im Raum hinweg jubelt.

Zu alledem kommt die bizarre Situation, dass die Pflicht durch zahlreiche 2-G-Maßnahmen schon durchgesetzt wird, bevor sie überhaupt Gesetz geworden ist, ohne dass die Gerichte tätig werden – nicht nur ein Verstoß gegen die Resolution 2361 des Europarates, die feststellt, dass die Impfung freiwillig ist und nicht Geimpfte nicht diskriminiert werden dürfen.

Schnee von gestern. Wenn sich unsere Maßstäbe von Rechtsstaatlichkeit derart schnell verändern, muss man besorgt sein.

Nicht Stimmenmehrheit ist des Rechtes Probe.

Friedrich Schiller

Am gefährlichsten ist wohl Unrecht, das von einer großen Mehrheit getragen wird. Nur die Judikative kann solche Exzesse unterbinden, und so muss man eine erneute Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht abwarten.

Die Entscheidung zu den bisherigen Pandemie-Maßnahmen war sicherlich angreifbar und hatte durch das Abendessen im Kanzleramt ein zusätzliches "Geschmäckle".

Dennoch handelte es sich angesichts der erstmalig so aufgetretenen Pandemiesituation um ein vertretbares Urteil. Die Frage einer allgemeinen Impfpflicht berührt den Rechtsstaat aber noch viel elementarer. Würde das Bundesverfassungsgericht hier zustimmen, verlöre es wohl seine Existenzberechtigung.

Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Sein Buch Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur – Anleitung zum Selberdenken in verrückten Zeiten erschien 2019 im Westend-Verlag. Im Januar 2022 erscheint es als Taschenbuch.