Dagestan: Ursachen des Flughafen-Pogroms
Hunderte stürmten den Flughafen von Machatschkala. Jagd auf jüdische Fluggäste. Was ist die Ursache des ersten Pogroms in Russland seit 100 Jahren?
Die Ereignisse vom 29. Oktober in der dagestanischen Regionalhauptstadt Machatschkala markieren einen Wendepunkt in Russland. Hunderte von jungen Männern stürmten den Flughafen, drangen in das aus Tel Aviv kommende Flugzeug ein und versuchten, es zu stürmen. Es gab 20 Verletzte unter den Angreifern und der Polizei – von den Passagieren kam niemand zu Schaden.
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Den Ereignissen in Dagestan gingen weitere antisemitische Aktionen in den benachbarten kaukasischen Regionen Russlands voraus. So fand in Karatschai-Tscherkessien eine Großkundgebung zur Unterstützung Palästinas statt, bei der die russischen Behörden aufgefordert wurden, keine Flüchtlinge aus Israel aufzunehmen. Diejenigen, die bereits hier seien, sollten abgeschoben werden. In Kabardino-Balkarien setzten Unbekannte ein im Bau befindliches jüdisches Kulturzentrum in Brand.
Große soziale Probleme im heutigen Dagestan
Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Dagestan zum explosivsten Punkt auf der regionalen Landkarte geworden ist. Nicht nur im Nordkaukasus, sondern in ganz Russland herrscht dort derzeit die schwierigste sozioökonomische Situation.
Die Arbeitslosenquote in der multiethnischen Region liegt bei rund 14 Prozent, obwohl Arbeitslosigkeit in Russland landesweit (Quote: sechs Prozent) nicht zu den drängendsten Problemen gehört. Nur im benachbarten Inguschetien ist sie mit 26 Prozent noch höher.
Aufgrund der hohen lokalen Korruption in der russischen Teilrepublik können grundlegende Alltagsprobleme seit Jahren nicht gelöst werden. Selbst in der Hauptstadt Machatschkala, einer Metropole mit über 500.000 Einwohnern, kommt es häufig zu Stromausfällen und Unterbrechungen der Wasserversorgung.
Zudem sterben im Ukrainekrieg überdurchschnittlich viele Dagestaner an der Front, nach jüngsten Angaben über 600 Menschen. Inoffiziell wird von einer weit höheren Dunkelziffer ausgegangen. So ist es kein Zufall, dass gerade in Dagestan im September 2022 die größten Antikriegsproteste nach der Ankündigung einer Teilmobilmachung durch Putin stattfanden.
Regierungspolitiker in Russland heizen die antijüdische Stimmung an
Von offizieller Seite wird die Pogromstimmung derzeit den mit der russischen Exilopposition verbundenen "Telegram"-Kanälen angelastet. Doch schon vor der Zuspitzung der Lage spielten sie eine zentrale Rolle bei der Förderung einer antisemitischen Stimmung in Russland selbst, Putin eingeschlossen.
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Immer wieder betont er die jüdische Herkunft seines Kontrahenten Wolodymyr Selenskyj, bezeichnet ihn als "Schande des jüdischen Volkes" und wirft ihm "Verherrlichung des Nationalsozialismus" vor.
Bei einem Wirtschaftsforum in Wladiwostok im September machte Putin gezielt Witze über die jüdische Herkunft einiger russischer Geschäftsleute, die nach Kriegsausbruch von Russland nach Israel gezogen waren.
Anfang Mai 2022 erklärte Außenminister Lawrow sogar, dass "Hitler jüdisches Blut hatte" und dass "die leidenschaftlichsten Antisemiten Juden sind". Daraufhin bestellte das israelische Außenministerium den russischen Botschafter ein.
Als Reaktion darauf forderte das russische Justizministerium im Juli 2022 die Schließung des Moskauer Büros der jüdischen Agentur Sochnut, die sich mit der Auswanderung nach Israel und der Unterstützung von Rückkehrern befasst. Offizielle Begründung war das Sammeln von "Informationen über russische Bürger".
Die Eskalation des Nahostkonflikts verschärfte die antisemitische Rhetorik. Putin verglich die Blockade und die Bombardierung des Gazastreifens mit der Bombardierung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, bei der 1,1 Millionen Zivilisten, die meisten von ihnen verhungert, ums Leben kamen.
Obwohl bei dem Angriff der Hamas 20 russische Staatsbürger getötet wurden, kritisierten russische Offizielle die Organisation nicht für ihre Geiselnahmen. Die Hamas-Führung bedankte sich für die "hohe Wertschätzung der Position der russischen Behörden und von Wladimir Putin persönlich".
Anti-Kreml-Proteste nur geplant
Die Ursachen für die Unruhen in Dagestan liegen aber nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen. Die Behörden zeigten sich unfähig, flexibel zu reagieren. Es dauerte zwei Stunden, bis die Polizei nach Beginn der Massenproteste am Flughafen eintraf.
Da waren die Randalierer schon auf dem Rollfeld. Die russischen Sicherheitskräfte sind darin geübt, liberale Proteste aufzulösen. Bei Protesten, die sich gar nicht gegen den Kreml richten, sind sie überfordert, wie sie reagieren sollen.
Hier zeigen sich Parallelen zur Prigoschin-Revolte im Juni dieses Jahres. Prigoschins militante Anhänger zogen ungehindert durch mehrere Regionen und wurden erst 200 Kilometer vor Moskau gestoppt.
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Die Machtvertikale in Russland stützt sich deutlich auf die Loyalität und Ergebenheit zu Putin selbst als Symbol. In Notsituationen, in denen die Stellung des Unruheherdes zu ihm unklar ist, bricht das System zumindest lokal zusammen. Die Ereignisse in Dagestan bestätigen dies.
Die Verantwortlichen werden wie selbstverständlich außerhalb der eigenen Grenzen gesucht. "Die Ereignisse in Machatschkala wurden, auch über soziale Medien, nicht zuletzt vom Territorium der Ukraine aus von Agenten westlicher Geheimdienste angestiftet", erklärte Putin dazu am Montag.
Antisemitismus keine kaukasische Tradition
Generell ist Antisemitismus kein für den Nordkaukasus typisches Phänomen. In Dagestan gibt es mehrere Synagogen. Die Republik gehört zu den traditionellen Siedlungsgebieten der agrarisch geprägten "Bergjuden", einer Minderheit, die die Region seit rund 1.500 Jahren besiedelt. Heute kann niemand mehr für die Sicherheit der dort lebenden Juden garantieren. Die Synagogen wurden streng bewacht.
Bemerkenswert ist, dass Dagestan als Folge der internationalen Isolation zum Aushängeschild des innerrussischen Tourismus werden sollte. Diese Pläne der Moskauer Führung dürften durch die jüngsten Unruhen einen schweren Rückschlag erlitten haben. Nicht nur im Hinblick auf jüdische Reisende.
Generell waren die Pogrome die Ersten ihrer Art in Russland seit Beginn des 20. Gegen Ende der Zarenzeit kam es in mehreren Städten des Russischen Reiches unter Duldung der Behörden zu brutalen Morden an jüdischen Reisenden. Diese Pogrome werden heute von vielen Historikern als Vorboten des Zusammenbruchs der Zarenherrschaft in Russland gesehen. Eine Sichtweise, die im Kreml sicher auf wenig Gegenliebe stößt.
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