Die große Auto-Lüge: Wie wir uns selbst in die Katastrophe fahren

Frontalaufprall – auch in der Debatte um das Auto. Bild: Sebastian Kaulitzki/ Shutterstock.com
Autos töten jedes Jahr mehr Menschen als Kriege. Trotzdem wird die Maschine kaum hinterfragt. Warum sind wir blind für Ihre Zerstörungskraft?
▶ Beginnen wir aktuell: Autos wurden in den vergangenen Wochen mehrfach als Terrorwaffen eingesetzt. In Magdeburg, New Orleans, Las Vegas und nun wieder in München. Der Gründer des IS, Abu Mohammad al-Adnani, empfahl 2014, Ungläubige mit dem Auto zu überfahren, aber dies wird ebenso von Rechtsextremisten praktiziert.
Insbesondere die Terrorziele der jüngsten Anschläge sind sehr nebulös. Müsste die Bedeutung des Autos bei diesen Terroranschlägen reflektiert werden?
Kilian Jörg: Die Frage ist, warum diese tödliche Bedeutung nicht reflektiert wird. Als nach dem 11. September eine Zeit lang Flugzeuge oftmals als Terrorwaffen eingesetzt wurde, gab es ja schließlich auch eine gigantische Debatte um die Verschärfungen der Sicherheitsbestimmungen am Flughafen.
Das Auto scheint man aber nicht in seiner Tödlichkeit diskutieren zu können. Dies ist übrigens ein alter Hut, der in der Verkehrswissenschaft schon lange diskutiert wird. Die globale Anzahl an Verkehrstoten pro Jahr übersteigt jedes Jahr weit die der Anzahl von Kriegsopfern oder jenen, die an den bekanntesten Krankheiten wie HIV oder Covid versterben.
In meinem Buch habe ich ein paar interessante Zahlen ausgegraben: Die Anzahl der Todesopfer aller US-amerikanischen Kriege seit der Unabhängigkeitserklärung 1776 umfasst nur ein Drittel der Todesopfer im Autoverkehr zwischen 1913 und 1976. Und da waren zwei Weltkriege, der Vietnamkrieg und noch zig andere Kriege im Spiel!
Dass das Auto heute bewusst als Terrorwaffe eingesetzt wird, spitzt diese Tendenz noch zu. Denn nicht mal in diesen Extremfällen kommt auch nur der Keim einer öffentlichen Diskussion auf, den Zugang von Autos zu Orten, wo sich Menschen sammeln, zu beschränken. Zwar debattiert man lautstark über Islam, Hautfarbe, Integration und andere rassistische Ansichten. Doch die Maschine, die an sich den Hass derjenigen Person tödlich gemacht hat, bespricht man kaum.
Dies ist meines Erachtens die extreme Äußerung eines "blinden Fleckes", den unsere Gesellschaft allgemein gegenüber dem Auto als Zerstörungsmaschine hat. Wir beachten nicht die vielen Verkehrsopfer, geschweige denn die massiven Umweltschäden von Automobilismus – und noch nicht einmal diskutieren wir die massivere Reglementierung von Autos, wenn sie direkt als Mordwaffen eingesetzt werden!
▶ Vermutlich käme jetzt das Gegenargument, wir können auch nicht die Messer verbieten, wenn – wie gerade erst im österreichischen Villach – ein Messerattentat verübt wird. Dort hat übrigens ein Syrer mit seinem Auto den Täter angefahren und so weitere Messeropfer verhindert.
Kilian Jörg: Tatsächlich gibt es aber, neben intentionalen Einsätzen, sehr wenige tödliche Unfälle mit Messern. Bei Autos ist das ja genau umgekehrt, denn da sind Todesopfer von Terroranschlägen die Ausnahme. Das Automobil macht die Todesgefahr zu etwas Alltäglichem in unseren Lebensräumen. Mich interessiert in meinem Buch, was das mit unserem modernen Selbstverständnis macht, dass wir diese immense Todesgefahr so sehr wegrationalisieren, dass sie kaum mehr vernünftigerweise bedacht werden kann.
Ich glaube tatsächlich, dass dies viel Auskunft darüber geben kann, warum wir unser ökologisch katastrophales Umweltverhältnis nicht wirklich reflektieren können: Wir müssen die Tödlichkeit unserer Maschinen unterdrücken, um als vernünftige Subjekte in unserer Gesellschaft angesehen zu werden!
▶ Parallel dazu ist das am schnellsten wachsende Segment am Automarkt jenes von SUVs und großen Pick-up-Trucks, wie der F-Serie von Ford. Sollen große, militärisch wirkende Fahrzeuge Schutz vermitteln?
Kilian Jörg: Genau, das vernünftige Subjekt in dieser autodestruktiven Welt kann die maschinische Zerstörungsgewalt um sich nicht reflektieren – deswegen ist der einzig mögliche Ausweg der Konsum von immer nochmals größeren Autos, die nochmals tödlicher für den Außenraum sind.
Es gibt vermehrt Studien, die andeuten, dass der Kauf von SUVs und anderen "fetten Autos" nicht ein Symptom von Klimawandelleugnung ist, sondern eher als eine rationale Reaktion auf die Botschaft der Klimakatastrophe verstanden werden muss.
Wo früher der tiefergelegte Sportwagen das Statussymbol in automobiler Form war, ist es heute der hohe Pick-up oder SUV – denn damit vermittelt man sich und anderen, dass man selbst noch durch die kommenden Flutkatastrophen sicher durchkommt. Was natürlich eher im hollywoodesken Imaginär der Katastrophe zutrifft, als in der realen Welt, denn im überfluteten Ahrtal oder in den Bränden von LA ist es ziemlich egal, welches Auto man besitzt.
Der wichtige Punkt an dieser Beobachtung ist die Sicherheit: Die Welt wird auch von privilegierten Menschen, also jenen, die sich dicke Autos überhaupt leisten können, zunehmend als toxisch und gefährlich wahrgenommen. Was stimmt, wenn man sich die wissenschaftlichen Prognosen auch nur unbewusst zu Herzen nimmt.
Da in der Mainstream-Gesellschaft und Politik keine Ideen von kollektiven Sicherheitsformen breit diskutiert und damit fühlbar werden, verfällt man einigermaßen "rational" auf die individuellen Angebote von Sicherheit, die einem der konsumorientierte Desaster-Kapitalismus bereitstellt: das "sicherere" Auto, das selbstverständlich nur von innen her gesehen sicher ist – denn von außen, also für Passant*innen, ist es freilich viel lebensbedrohlicher. Der Bunker, das Imaginär der "Festung Europa" und dergleichen mehr gehört auch hierhin.
▶ Warum ist eigentlich laut Ihrem Buch jeder Mensch ein Klimaleugner?
Kilian Jörg: Weil wir in Lebenswelten leben, die uns dazu zwingen, Umweltfaktoren zu ignorieren. Einfachstes Beispiel: Kaum jemand riecht Autos im Stadtzentrum – wenn man allerdings nach drei Stunden Wald wieder einem Auto begegnet, fällt uns dessen Geruch stark auf.
Es ist in der Geistesgeschichte des Abendlandes angelegt und wurde in der autogerechten Landschaftsgestaltung verwirklicht: Ohne die Unterdrückung der eigenen körperlichen Umweltsensibilität können wir keine "rationalen Subjekte" sein, wie sie die kapitalistische Ordnung benötigt, um zu funktionieren. Das stimmt im kleinen, persönlichen, wie im großen, globalen.
▶ Das Jahr 2024 war ein weltweites Superwahljahr mit entscheidenden Urnengängen u. a. in den USA und Europa. Überall – so scheint es – wurde der Klimaschutz abgewählt. Warum?
Kilian Jörg: Weil es nach einem kurzen Möglichkeitsfenster um 2018 der herrschenden Ordnung wieder gelungen ist, das Umweltthema zu einem Randthema zu machen – den meisten erscheint es wieder als unmöglich, ihren gewünschten Lebensstil mit Klimaschutz zu vereinen – und so regiert heute Zynismus, Resignation und ein massives Ansteigen von psychischen Erkrankungen.
Es gibt ganz viele Faktoren, die zu diesem düsteren Umschwung geführt haben, darunter Krieg, Inflation, Faschismus und digital befeuerte Überforderung. Ich möchte jedoch zwei Faktoren hervorheben, die meines Erachtens zu wenig diskutiert werden: Erstens haben die Covid-Lockdowns ganz vielen Menschen Angst vor staatlichen Eingriffen gemacht, die auch noch 2024 das Wahlverhalten zu oftmals rechtsextremen Parteien gelenkt haben.
Man kann zu den Lockdowns stehen, wie man will. Fakt ist: Eine weiße, eher privilegierte Mittelschicht hat großteils zum ersten Mal Erfahrung mit staatlicher Gewalt und Repression gemacht – und sie mögen es überhaupt nicht.
Da ökologische Politik landläufig aber auch mit staatlichen Interventionen und Reformen konnotiert werden, haben viele Menschen nun Angst davor – besonders wenn sie keine Möglichkeit von positiven, anders besetzten Lebensweisen sehen, in die man wechseln könnte und nur Angst vor "Verbotspolitik" haben, wie sie in der Covid-Pandemie erfahren wurde.
▶ Dass die mehr oder minder berechtigte Sorge vor Repressionen kaum Lust auf Klimaschutz macht, ist nachvollziehbar, aber wo liegt der zweite, zu wenig beachtete Punkt?
Kilian Jörg: Ich glaube, dass es zum Zweiten nicht gelungen ist, die ökologische Frage auch zu einem Kulturproblem zu machen. Während auf Kunst-Unis und in den Humanities sofort Professuren, Fachbereiche und Stellen für künstliche Intelligenz und digitale Transformation eingerichtet wurden, gibt es meines Wissens noch kaum entsprechende Stellen, die sich mit Ökologie als Hauptthema im Kulturbereich beschäftigen.
Ich kenne so zum Beispiel keine einzige Philosophie-Professur für Ökologie – und dass obwohl wir alle wissen, dass es das Jahrhundertproblem ist. Die ökologische Krise wird weiterhin hauptsächlich als ein Ingenieursproblem angesehen, das durch technische Lösungen und Optimierungen gelöst werden kann.
Selbst auf Kulturfestivals schreibt man sich das Thema zwar überall auf die Fahne, aber an den zugrundeliegenden Gewohnheiten und Strukturen (Transport, Infrastruktur, Räume, Dauer etc.) ändert sich sehr wenig. Ich bin überzeugt, dass es einen radikalen Kulturwandel braucht, um eine Chance auf ein gutes Leben in der Katastrophe zu haben.
Dafür braucht es aber eine kulturelle Arbeit an unseren grundsätzlichsten Wertvorstellungen von Lebensqualität, Freiheit, Autonomie, Vernunft und Normalität – und für diese Arbeit eines radikalen Wertewandels gibt es nach wie vor kaum Mittel und Ressourcen, sodass die meiste Arbeit nach wie vor in marginalisierten und oftmals auch kriminalisierten autonomen Räumen stattfinden muss.
▶ Das Buch macht die ökologische Katastrophe am Verhältnis zum Auto fest. Dabei scheint eine gewisse Autoskepsis bereits gut im allgemeinen Diskurs verankert. Selbst Funktionäre der Automobilindustrie sprechen vom notwendigen Wandel unserer Mobilität. Dennoch verwenden sie die immer noch hohen Gewinne nicht, um am Mobilitätswandel zu arbeiten, sondern versuchen bis zum Schluss auf automobilisierten Individualverkehr zu setzen. Warum dieses Beharren?
Kilian Jörg: Bei den von dir erwähnten Funktionären der Automobilindustrie sollte uns dieses Beharren wohl am wenigsten überraschen – denn im herrschenden Wirtschaftssystem ist ihre Funktion ja schließlich das Sicherstellen des weiteren Wachstums der Automobilindustrie.
Und ich sehe nicht, wie dies mit einem einigermaßen ernst gemeinten ökologischen Mobilitätswandel zusammengehen sollte. Denn die aktuelle "Flottenstärke" Deutschlands und anderer Industrieländer ist letztlich das Resultat einer zentral am Auto orientierten Kriegswirtschaft, die sich – wie ich in meinem Buch argumentiere – nach 1945 im Konsumkapitalismus befriedet hat.
Nur aufgrund des Zweiten Weltkriegs konnte sich eine solche ungeheure Produktionskapazität von Autos und anderen modernen Konsumgütern bilden. Da das Herunterschrauben dieser Kapazitäten – und die dadurch notwendigen Massenentlassungen – zu großen sozialen Verwerfungen (wahrscheinlich auch kommunistischen Revolutionen) in der Nachkriegszeit geführt hätte, wurde der Absatzmarkt in Form des Konsumkapitalismus massiv erweitert.
Alle sollten jetzt Auto fahren, am besten gleich zwei. Zur gleichen Zeit wurde die Bahn in vielen Ländern abgebaut, damit eine Art automobiler Konsumzwang entsteht. Auf dieser befriedeten Kriegswirtschaft fußt – etwas verkürzt gesagt – auch heute noch der soziale Frieden unserer Konsumgesellschaft. Dessen sind sich scheinbar bis heute fast alle Regierungen bewusst – sonst würden sie die periodische "Rettung der Automobilindustrie" mit staatlichen Finanzspritzen und massiven Steuerprivilegien nicht zur alternativlosen Staatraison Nummer eins machen.
Sogar der grüne Robert Habeck stößt jetzt neuerdings mit ein in diesen Chor. Dies ist aufgrund seiner Parteifarbe besonders bedauerlich, denn es spricht einiges dafür, zu argumentieren – wie es z. B. Michel Serres getan hat –, dass der Krieg nicht wirklich beendet wurde, sondern "bloß" gegen die Natur und unsere Zukunft auf diesem Planeten ausgelagert wurde …
▶ Der springende Punkt, der im Buch am Beispiel der Automobilität verhandelt wird, scheint die Ohnmacht der Aufklärung zu sein: Wir wissen es besser, aber handeln nicht danach.
Kilian Jörg: Es war eine große Fehlannahme der bisherigen Klimapolitik, zu glauben, dass bloße Bewusstseinsbildung unter den Menschen zum ersehnten Wertewandel führen werde. Diese rationalistische Annahme ging davon aus, dass mit den richtigen Informationen die Leute von selbst zur Vernunft kommen werden.
Zurzeit gibt es innerhalb der Klimabewegungen viel Reflexion und Selbstkritik an diesem bisher mehrheitlich verfolgten Modell. Diese beläuft sich zumeist darauf, dass die affektiven Dynamiken und Bindungen (die "attachments") von Menschen unterschätzt wurden und dass Leute viel mehr zu Verdrängung und Ressentiment neigen, wenn man ihre liebgewonnene Idee vom guten Leben hinterfragt.
Aus dem daraus resultierenden Frust und Gewaltpotenzial erklärt man sich auch den massiven Rechtsruck und das Voranschreiten des Faschismus in seiner ökozidalen Neuauflage fürs 21. Jahrhundert.
▶ Das nennt man dann den Siegeszug der Irrationalität?
Kilian Jörg: Das geht nicht tief genug. In meinem Buch versuche ich diese Analyse noch, um einen Aspekt zu vertiefen: Ich glaube nicht, dass Leute irrational handeln, wenn sie weiter lieber Autofahren oder in den Urlaub fliegen wollen.
Irrationalität ist meist eine zu einfache, zu arrogante Analyse, die einen Keil zwischen "die Vernünftigen" und "die Unvernünftigen" treibt, der auch faktisch fast nie stimmt, denn Klimabewusste handeln oft nicht besser als weniger klimabewusste.
Dieser Keil führt zu Spaltungen und den teils berechtigen Vorwürfen der Scheinheiligkeit. Ich glaube vielmehr, dass das Problem ist, dass unsere herrschende, tradierte Form "Vernunft", wie sie in der Aufklärung galvanisiert wurde, in der ökologischen Krise an ihre planetaren Grenzen stößt.
Denn ihre grundlegenden Prämissen und Funktionsweisen sind nicht nur imperialistisch und sexistisch, wie es der Öko-Feminismus brillant ausgearbeitet hat, sondern basieren darüber hinaus auch auf dem Ausschluss von "Natur" und Umwelt als relevantes Feld für menschliche Kultur. Natur ist für die Vernunft, das Äußere, das Andere, das man in Nationalparks bewundern oder ausbeuten kann.
▶ Und das Vehikel dieser Vernunft ist das Auto?
Kilian Jörg: Nun ja, ich versuche aufzuzeigen, dass das Auto vielleicht die prominenteste Prothese ist, die diese Art "vernünftigen" Weltzugang massentauglich macht. Im Auto müssen wir alle kartesianischen Trennungen zwischen dem Ich und der Umwelt, Geist und Körper, Kultur und Natur treffen, um nicht "wahnsinnig" zu werden.
"Wahnsinnig" erscheine ich so zum Beispiel, wenn ich im dunklen Winter mit Kindern eine Landstraße entlang zum Supermarkt spaziere, weil ich ökologisch handeln möchte. Da das Auto massiv unsere Umwelt und unsere Begehren umgestaltet hat, wurde diese abendländische Vernunft im wahrsten Sinne des Wortes "einbetoniert".
Die meisten menschlichen Landschaften, ob urban oder rural, sind primär aufs Auto, nicht auf Menschen oder andere Lebewesen ausgerichtet. Dadurch leben wir in der paradoxen Situation, dass das, was in unserer gebauten, menschengemachten Umwelt als – und das ist legitim! – "vernünftig" erscheint, sich aber nach objektiv wissenschaftlichen Standards als ökozidal herausstellt.
Wenn man in dieser lebensweltlichen Situation also hauptsächlich mit Warnungen und Katastrophenmeldungen an das Bewusstsein der Leute appelliert, führt dies recht selbstverständlich zu einer frustrierten Spannung, die zurzeit am besten die Faschisten ansteuern können.
Um dem zu entgehen, sollte man vermehrt den Fokus darauf legen, Erfahrungen zu ermöglichen und zu erkämpfen, wie man ökologisch leben kann. Dazu braucht es Anreize, Förderungen und alternative Zonen, in denen der Ökozid nicht als Vernunft einbetoniert ist und seine Strukturen abgebaut werden können.
So lässt sich ein besseres und nachhaltigeren Leben spüren als das des entfremdenden Konsumkapitalismus. Mit dem identifizieren sich die meisten auch nur aus Mangel an Alternativen.
▶ Kommen wir zu der sich im Auto ausschließenden Vernunft zurück. Wir verlieren in unseren Metall-Bubbles offensichtlich den Kontakt zur Natur. Aber wie gewinnen wir den zurück? Zumal gerne romantisierend Naturerlebnisse gepredigt werden, die verleugnen, dass der Weg zur Natur meist im Auto zurückgelegt wird.
Kilian Jörg: Provokant stelle ich in meinem Buch ja eher fest, dass das Auto nicht den Kontakt zur Natur verhindert, sondern eher das Bedürfnis nach dieser erst entstehen lässt. Dies klingt erst mal nach einer philosophischen Spitzfindigkeit, lässt sich aber gut mit Bildern von überfüllten Parkplätzen in Naturparks nachvollziehbar machen, Da ist dieser Parkplatz an der höchsten Stelle der österreichischen Glocknerstraße, im Herzen der Kernzone des größten Nationalparks des Landes, dessen primäre Aufgabe der Naturschutz ist.
Zirka 300.000 Fahrzeuge konsumieren hier die "reinste" Natur im Jahr – darunter auch ganz viele Porsches, Harleys und ähnliche Spitzenfahrzeuge, deren Lenker:innen für eine Spritztour von ganz weit weg her anreisen und oftmals nur für ein kurzes Selfie aussteigen.
▶ Das Selfie sagt: "Natur – ich war dabei" und dann geht es zurück zu Klimaanlage und Sitzheizung.
Kilian Jörg: Genau, aber das Entscheidende liegt darin, dass erst, nachdem das Auto im Speziellen und die Industrie im Allgemeinen unsere – hauptsächlich städtischen – Lebensräume eingenommen haben, mehrheitlich ein Bedürfnis nach "unberührter" Natur entstand. Und die Entstehung der Nationalparks ist dabei eine wesentliche Entwicklung zur Befriedigung dieses Bedürfnisses.
Natur ist dann plötzlich das, was ganz weit draußen, weit weg vom "eigentlichen" Leben unserer modernen Konsumkultur stattfindet. Weiterhin ist es verbunden mit einer Ausbeutung von indigenen Menschen, die bekanntlich oftmals aus den Zonen der Nationalparks vertrieben werden und der "natürlichen" Ressourcen. Man reist regelmäßig zur Entspannung mit dem Auto hin, glaubt aber im wirtschaftlich, sozial und kulturell "relevanten" Alltag nichts mit der Natur zu tun zu haben.
Das haben nur die indigenen "Naturvölker" in dieser kolonialen Logik. Wenn man sagt, man fährt heute in die Natur, klingt das für die allermeisten so, als ob man sich jetzt mal eine "Auszeit" gönnt und weit wegfährt. Das unser alltägliches Leben, mit seinem massiven Ressourcenverbrauch, aber immer einen unmittelbaren und massiven Einfluss auf die Natur hat, widerspricht unserer intuitiven Wahrnehmung. Natur erscheint nämlich so als nichts, das im Alltag Relevanz hätte.
Es gilt also fundamental unsere menschengemachten Umwelten umzubauen, da sie uns in ihrem aktuellen Status quo affektiv, ökonomisch und kulturell an eine Art ökozidalen Deadlock binden, wo selbst das, was als Lösung erscheint – nämlich mehr Natur! – nicht zur Genüge seine zugrundeliegende, koloniale Logik reflektiert, die das Problem nur weiter unsichtbar macht, outsourced und damit verschärft, weil es noch schwerer adressiert werden kann.
▶ Die praktischen Konsequenzen eines solchen Umbaus der menschengemachten Umwelt sind enorm. Wer aufhören will auszubeuten, muss möglicherweise mit dem eigenen Bio-Meis-Gemüse-Anbau beginnen und am besten das eigene Begehren verändern. Brauchen wir eine "Umwertung aller Werte", um der Katastrophe zu entgehen?
Kilian Jörg: Ich war und bin zwar ein großer Fan von dem "Philosophen mit dem Hammer" Friedrich Nietzsche, auf den dieser Aufruf zurückgeht, doch glaube ich mittlerweile, dass der Hammer eine sehr schlecht gewählte Metapher ist, die Nietzsches zu wenig aufgearbeiteten Maskulinismus geschuldet ist. Für radikale Veränderung braucht es viel mehr Geduld, Verständnis und Humor als es der Hammer suggeriert.
Eine gute, selbst gemachte Nahrung, eine entspannende Massage oder andere, selbstorganisierte Subsistenzmittel sind mindestens genauso wichtig für einen nachhaltigen Wertewandel. Es geht nicht nur um die Zerstörung des bestehenden, sondern um den Aufbau von plausiblen, besseren Alternativen. Deswegen glaube ich, dass Zonen, in denen radikal anders gelebt wird oder werden kann, ein wesentlicher Faktor für den notwendigen Wandel sein werden müssen.
▶ Gibt es da abschließend zur Aufmunterung ein Best-Practice-Beispiel?
Kilian Jörg: Am radikalsten – weil weitreichendsten bei großer Fläche – ist der Vorschlag des Pariser Institut Momentum, wie die Île-de-France 2050 autofrei aussehen könnte.
In ihrem Entwurf gehen sie weit über die vorherrschende Vorstellung von "autofreien Zonen" als eine im Grunde unveränderte moderne Lebenswelt mit mehr Radstreifen und Bäumen hinaus und demonstrieren, dass ein Wegfallen automobiler Infrastruktur alle Aspekte des modernen Lebens betrifft: von Arbeitsrhythmus, Familienplanung,
Lebensmittelproduktion bis zu moralischen Werten und Formen des Zusammenlebens – wobei viele der in diesem Modell skizzierten Lebensweisen den verklärten Sehnsuchtsorten vieler auch schon heute entsprechen.
In einer Rezension in der französischen Tageszeitung Liberation über den Entwurf hieß es: "Beim Lesen dieses Berichts beginnt man sich zu fragen, ob ein teilweiser Zusammenbruch nicht eine gute Nachricht sein könnte."
Es sind solche affektiven Versprechen, die die ökologische Bewegung in und jenseits des Kollapses verstärken muss: Der Zusammenbruch dieser Welt ist nicht mehr nur ein angsterfülles ndes Horrorszenario, für das man sich bewaffnen muss, sondern ein Möglichkeitsfenster für das Erstreiten von in der Katastrophe besseren Lebensweisen, bei denen die gewünschte Lebensform auch gleichzeitig die ökologischere ist.
Oder wie es der führende französische Kollapsologe Pablo Servigne sagt: "Ein anderes Ende der Welt ist möglich!".
Kilian Jörg
Das Auto und die ökologische Katastrophe – Utopische Auswege aus der autodestruktiven Vernunft
transcript (2024)
ISBN: 978-3837674088
24,– Euro