Das Ende der Eiszeit und der Beginn der Urbanität
Geschichte des globalen Gehirns XI
Im Hin und Her der Gegensätze liegt eine Macht. Das Gefängnis der Schwerkraft fesselt die Fliehkraft des Impulses, um einen Planeten auf seiner Kreisbahn zu halten. Der Kampf zwischen Beuge- und Dehnmuskeln kann einen Athleten den vorderen Teil eines Wagens in die Höhe heben lassen. Ein- und Ausatmung beleben die Lungen. Zusammenziehung und Ausdehnung lassen das Herz jeden Tag die Füllung eines Lastwagens pumpen. Am Ende der Eiszeit verwandelte die Gesellschaftlichkeit Männer und Frauen in Konformitätsmaschinen, wie es sie bislang nie gegeben hatte. Ein Nebenprodukt war die Diversität, die Antithese zur Konformität, die mit gewaltiger Geschwindigkeit Ideen in die Verbrennungskammer des sozialen Gehirns pumpte. Alte Netzwerke machten Platz für neue und beschleunigten den Takt, mit dem der Brennstoff von Vorstellungen aus großer Entfernung im Hochofen des Massengeistes Flammen entfachte.
Vor etwa 130000 Jahren brachte der Diversitätsgenerator Stämme dazu, eine künstliche Falte in ihrer Mitte zu bilden, wodurch die in nächster Nähe miteinander lebenden Nachbarn in zwei gegensätzliche Gruppen aufgeteilt wurden. Diese erste Formen der kulturellen Spaltung , die Anthropologen Hälften nennen, waren ganz offensichtlich eine Möglichkeit, die Mißbildungen der Inzucht abzuwehren. Den Mitgliedern einer Hälfte war es verboten, untereinander zu heiraten. Sie wurden gezwungen, ihre Partner aus den Mitgliedern der konkurrierenden Gruppe zu wählen - ganz egal, wie schrecklich diese Aussicht vielleicht manchmal empfunden worden ist. Diese Hälften zeigten schon bald die Fähigkeit der ersten Menschen, Berge an Unterschieden aus Maulswurfshügeln innerhalb der Gleichartigkeit zu bilden. Wenn sich eine Stammeshälfte mit dem Tag identifizierte, erklärte sich die andere als Abkömmling der Nacht. Wenn eine sich für den Sommer entschied, dann charakterisierte sich die andere durch den Winter. Wenn die eine irdisch war, machte sich die andere herausfordernd himmlisch.
Derartige Haarspaltereien vermehrten sich in der Vorgeschichte lawinenartig. Nach den Hälften kamen die Clans. Die Clanangehörigen glaubten, daß sie von einem Tier oder einer Pflanze abstammten, deren Kraft ihnen einwohnte. In einem gewissen Sinn war jeder Angehörige eines Bärenclans halb Mensch und halb Bär. Die Angehörigen eines Clans durften die als Vorfahren geltenden Tiere oder Pflanzen - ihr "Totem" - nicht töten und essen , abgesehen von bestimmten religiösen Fällen. Jedes Totem gehörte zu den Hauptnahrungsmitteln des gesamten Stammes. Daraus folgte, daß jeder Clan genötigt war, sich auf einen anderen Speiseplan zu spezialisieren und die Tiere und Pflanzen zu erhalten, die die Angehörigen der anderen Clans ernährten. Clans dieser Art waren so universal, daß es sie im frühen Australien und bei den sibirischen Auswanderern gab, die über die Beringstraße zogen und zu den Vorfahren der "eingeborenen" Amerikaner von den Tlingit der Pazifikküste bis zu den Irokesen am Atlantik wurden.
Doch all das war nur ein Vorspiel für die Aufspaltungen, die später Vielfalt erzeugten. Vor etwa 10000 Jahren entstand ein neuer Dampfkochtopf für die Süß-und-sauer-Gegensätze von Konformität und Diversität: die neolithische Stadt.
Gruppenkonflikte wie Kriege und Raubüberfälle haben vor langer Zeit sogar schon den Einfallsreichtum der sozialen Gehirne von Bakterien gefördert. Ein Stamm, der sich durch Gewalt hervortat, konnte sein Nachbarn mitleidslos schikanieren. Wenn ein Stamm hingegen keine neuen Strategien entwickeln konnte, wurde er wahrscheinlich ausgeplündert oder einfach ausgelöscht. Städte waren ein Quantensprung hinsichtlich der taktischen Verteidigung. Sie boten einen fast undurchdringlichen Schutz vor der Aussicht eines gewaltsamen Todes.
Die ersten Städte
Die Gründer von Jericho , das von Schutzwällen und dreistöckigen Steintürmen umgeben war, erbauten diese neue Form des Schutzes vor 10000 Jahren. Die ohne Mörtel aus Felsquadern errichteten Bollwerke entstanden, als die meisten Menschen noch in Hütten und Höhlen lebten. Sie waren zwei Meter dick und waren vier Mal so hoch wie ein neolithischer Mensch. Vor ihnen befand sich ein drei Meter tiefer und neun Meter breiter Graben. Diese innovative Architektur war noch bis zur Zeit von Leonardo da Vinci und Michelangelo im Gebrauch.
Konformitätsverstärker wie das Bedürfnis nach Gemeinschaftsbildung ließen Städte entstehen. Die Mauern, die Angreifer abwehrten, hielten die Einwohner fest unter ihrer Herrschaft und pressten sie zu einer gemeinsamen Form zusammen. Alle besaßen eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Denkweise, eine gemeinsame Kultur und Religion mit den dazu gehörigen Riten. Aber das urbane Leben erzeugte auch eine größere Vielfalt. Dora Jane Hamblin und der Archäologe C. C. Lamberg-Karlovsky glauben, daß ein Nebeneffekt des Zusammenpferchens von menschlichen Ölsardinen in urbanen Dosen ironischerweise die Möglichkeit eröffnete, sich selbst auszudrücken. "Eine Vielzahl von Rollen", schreiben sie, "standen dem Mann und der Frau der Stadt offen. Tatsächlich hing die Stadt von der Vielfalt ab. Ihre Konzentration von vielen Menschen war nur möglich, weil ihre Einwohner spezialisierte Tätigkeiten ausübten, die von der größeren Gemeinschaft unterstützt wurden, deren Teil die Stadt war. Aber die Möglichkeit spezialisierter Berufe ließ wiederum die Stadt attraktiver werden. Es mußten nicht mehr alle Männer Jäger oder Bauern und alle Frauen Mütter oder Hausfrauen werden. In der Stadt - und seit den allerersten Städten - mußten Handelswaren hergestellt, Geschäfte betrieben, Heiligtümer gehütet (und) ... gewaltige Bauwerke erstellt werden." Es galt auch Mauern aus verputzten Ziegeln mit Kunstwerken zu versehen, gemusterte Teppiche zu weben, aus Tonstreifen Töpferwaren anzufertigen, Schmuck aus Kalkstein, importierten Muscheln oder Hirschzähnen und Makeup herzustellen, das aus rotem Ocker sowie grünen und blauen Mineralien gemischt wurde, die aus fernen Ländern stammten.
Die Mauern von Jericho hätten nicht ohne Arbeitsteilung, genau abgestimmter Organisation und überschüssiger Zeit erbaut werden können, die wie Honig aus der Betriebsamkeit des urbanen Bienenstocks tropften. Hamblin und Lamberg-Karlovsky sagen überdies, daß die "erstaunliche Vielfalt des städtischen Lebens, die die Möglichkeit eröffnete, eher seinen persönlichen Neigungen zu folgen, als in die Fußstapfen der Eltern zu treten, vor 10000 Jahren eine eben solche verführerische Macht wie im 20. Jahrhundert haben mußte."
Die Ebenen des Mittleren Ostens, auf denen die Städte zuerst entstanden, waren von der kalten Kärglichkeit der Eiszeit befreit. Das Tauwetter ließ diese großen Ebenen zu einem Eden werden. Nicht nur wuchsen schmackhafte Pflanzen in einem Ausmaß, das moderne Menschen noch niemals erlebt hatten, sondern auch Rehe, wilde Schafe, Schweine und andere weidende Steaks und Koteletts waren so zahlreich wie Ameisen auf einer Melonenscheibe. Ein Jäger war in der Lage, mehr Fleisch an einem Tag heimzubringen, als seine Eiszeitvorfahren auf den durch Eisflächen ausgetrockneten Ländern in einem Monat aufzuspüren vermochten.
Jagd und Landwirtschaft
Tell Mureybit war ein Dorf aus Steinhäusern, das in Syrien vor 10000 Jahren gebaut wurde. Der sprichwörtlich gewordene "Überfluß der Landwirtschaft", der angeblich das Aufblühen der Städte ermöglichte, wäre eine Zeitverschwendung gewesen. Die Einwohner ernährten sich von wild wachsenden Körnern und verspeisten das Wild, das sie mit ihren Pfeilen erlegten. Selbst die Erbauer der Monumente Jerichos bereiteten ihre Mahlzeiten aus wild wachsenden Saaten und dem Fleisch gejagter Tiere.
Eine Handvoll exzentrischer Menschen kultivierte hohe Gräser und säte die Geheimnisse der nutzbar gemachten Gene aus. Durch Züchtung brachten diese Fanatiker die hohlen Halme des Einkorns dazu, nicht nur drei bis sechs dürftige Samen zu tragen, sondern zwischen zwanzig und hundert sich vergrößernde Pakete aus Kohlehydrat und Proteine zu bilden. Ein einzelner Halm konnte jetzt 40 Mal soviel an Nahrung als ein Dutzend seiner Vorgänger hervorbringen. Einige Männer und Frauen wandelten die früheren Jagd- und Sammelgebiete zu Äckern um und kultivierten die neuen Körner. Andere manipulierten die Konformitätsverstärker, die soziale Tiere beherrschen: den Trieb, einem Führer zu gehorchen und sich selbst einem Höhergestellten zu unterwerfen. So machten sich diese Hüter Schafe, Ziegen und Hunde gefügig. Die ersten Bauern konnten sich jetzt an reichlich Fleisch, Milch und Wolle erfreuen, ohne die anstrengende Verfolgung und die sicheren Gefahren der Jagd auf sich nehmen zu müssen.
Catal Huyuk
Doch die neolithische Religion legt Zeugnis davon ab, wie die frühen Stadtbewohner weiterhin von der Jagd in Bann gehalten wurden. Vor fast 9000 Jahren war eines von drei Häusern in Catal Huyuk ein Heiligtum. Diese Zentren des Heiligen waren angefüllt mit langhörnigen Stierschädeln, die man auf beeindruckende skulpturale und dekorative Weise inszenierte. Gehörnte, überall bemalte Schädel starrten von den Wänden und waren zur Erzielung der größten Wirkung auf Leisten angebracht, von denen ihre weißen Waffen auf die tödlichen Stellen der weichen Brust von denjenigen zielten, die hier ihre Zeremonien abhielten. Die Menschen im Mittleren Osten hatten erst seit kurzem den wilden Ochsen Bos taurus domestiziert, ein Tier, das eine Schulterhöhe von über zwei Metern besaß und dessen Hörner sich drei Meter über den Boden erheben konnten. Ungezähmte Stiere dieser Steppenart lösten sich von ihrem hart erkämpften Harem, senkten ihre Köpfe und schlitzten die Bäuche der kläglich hilflosen Menschen auf, die es gewagt hatten, sie mit einem lächerlichen Speer anzugreifen. Die Erinnerung an solche Erfahrungen sollte in den Köpfen der Menschen von Catal Huyuk lebendig bleiben, die noch immer die wilden Verwandten der Stiere, die Auerochsen, jagten und ihre Vorratskammern mit dem Fleisch erlegten Rotwilds füllten. Die kaum gezähmten Nachfahren des Bos taurus strotzten vor Kraft und einer Potenz, die weit über die der Menschen hinausging. Selbst ein moderner domestizierter Bulle, der während einer fast über 800 Generationen dauernden selektiven Zucht an Größe und Wildheit verloren hat, kann leicht verärgert werden, was für Menschen fatal werden kann.
Der britische Anthropologe Chris Knight ist davon überzeugt, daß neolithische Frauen Männern ihre sexuelle Gunst entzogen, um sie dazu zu bringen, frisches Fleisch nach Hause zu bringen. Kein Wunder also, daß die gehörnten Köpfe, die leicht den Brustkasten eines Menschen zersplittern lassen konnten, neben Frauen, deren Beine zur sexuellen Einladung, Empfängnis oder Geburt weit offen standen, und an den Wänden befindlichen Formen von runden, vollen Brüsten gemalt wurden, deren Warzen sich zu richtigen Rachen öffneten oder sexuelle Verweigerung demonstrierten, indem aus der Mitte ihrer Nippel Vögelschnäbel oder Tierzähne herausragten. Andere Malereien hoben den ungezähmten Aspekt der weiblichen Fruchtbarkeit hervor, indem sie noch weiter offen sich darbietende Frauen mit Knien darstellten, die aus ihren Hüften ragten, und deren Arme auf den Körpern von Leoparden ruhten. Diese Bilder hatten gegensätzliche Bedeutungen. Sie brachten schreiend den vernichtenden Schmerz der körperlichen Verweigerung zum Ausdruck und verkündeten gleichzeitig röhrend das Verlangen nach sexueller Wildheit.
Die Archäologen nennen die Frauen der Wandmalereien und der zahlreichen Figuren mit dicken Bäuchen Göttinnen. Aber wir können nicht wissen, ob sie das wirklich waren. Die Ausstrahlung der Raumausstattung und der Malerei ist allerdings deutlich. Stiere besaßen die Kraft, die Mauern der weiblichen Verweigerung zu durchstoßen. Diese ängstigte die Männer mit ihren viel kleineren Penissen, ihrem weit kleinerem Schädel und ihrer weit geringeren Kraft. Männern, die so leicht von der Verachtung der Frauen gedemütigt werden konnten, blieb nichts anderes übrig, als ihre heiligen Zeremonien abzuhalten und zu hoffen, die Stoßkraft des Horns und des riesigen Phallus eines Stiers zu gewinnen, um in die Vagina mit überschäumendem Samen einzudringen. Es war der Stier, der wirklich Kinder im Bauch einer widerstrebenden Frau wachsen lassen konnte.
Trotz ihrer Evokation von Begierde, Kampf, Qual und Wildheit diente die Religion zur Synchronisierung der Gefühle und der Symbole all jener, die in den Mauern einer Stadt zusammen lebten. Ohne diese leidenschaftliche Verführung zum Zusammenhalt und zur Konformität hätten die Bewohner einer Stadt nicht harmonisch zusammenarbeiten können.
Städte als kulturelle Diversitätsgeneratoren
Die Diversitätsgeneratoren des Stolzes und des Glücks veranlaßten jede Stadt, ihre eigene Form des Überlebens und des Erwerbs von Reichtum auszuarbeiten. Diese Unterschiede lassen sich am Beispiel des Kontrasts zwischen zwei Städten auf der türkischen Konya-Ebene vor 8000 Jahren veranschaulichen. Catal Huyuk lag in einer Gegend, in der es nicht nur wilde Herden von Auerochsen und Rehen, sondern auch von Schweinen (Sus scrofa) gab. Um diesen Überfluß galoppierender Nahrungsmittel zu ernten, sind die Bewohner von Catal Huyuk zu ausgezeichneten Jägern geworden. Ihre Produktion von Steinwerkzeugen war auf Waffen zum Erlegen großer Beutetiere spezialisiert: lange Dolche und Speer- und Pfeilspitzen. Nicht weit davon entfernt befand sich das Dorf Suberde, in dessen Umgebung es eine andere Jagdbeute gab: wilde Esel und Schafe sowie kleinere Rehe, ergänzt durch kleineres Wild wie Füchse und Wölfe. Die mit Feuerstein und Obsidian arbeitenden Handwerker von Suberde entwickelten ganz andere Waffen als die von Catal Huyuk: sie waren kleiner und wahrscheinlich für eine höhere Genauigkeit gefertigt. Selbst die Pfeilspitzen von Suberde wurden auf eigene Weise gestaltet.
Jede Stadt bot eine Auswahl an Technologie und Technik an. Solche Optionen stießen vor zehntausend Jahren auf die Massenzirkulation, als der viele Millionen Jahre alte Handel zwischen Stämmen plötzlich gewaltig zunahm. Weitere Städte entstanden, um den Menschen auf der Straße Materialien und Dienste anzubieten, die Waren aus dem Obsidianbergbau und den Werkzeuge herstellenden Städten gegen die Produkte jener tauschten, die Salz, rotgetöntes Hematit, Töpfereien, Kleider oder seltene Dinge aus den südrussischen Fundstätten von Kupfer und Lapislazuli besaßen. Die Handelskaskade verwob weit entfernte Zentren in ein kommerzielles Netz. Oasenstädte wie Jericho boten Unterkünfte und Wasser an, das aus unterirdischen Quellen über Aqädukte aus Stein an den jetzt dauernd benutzten Handelswegen entlang geleitet wurde. Und Catal Huyuk mit seinen Hunderten von Räumen für religiöse Zeremonien bot Reisenden Trost, die geängstigt und voller Unsicherheit Rat bei den Göttern suchten. Zwischen 5500 und 2500 Jahren v. Chr. Geburt erreichten die sich überschneidenden Handelsnetze für Obsidian eine Länge von 2000 Kilometern und erstreckten sich von Knossos auf Kreta, das später zur Wiege der griechischen Kultur werden sollte, bis nach Bahrein, wo der Persische Golf sich zum Indischen Ozean öffnet. Doch diese Handelsknoten waren nur der Beginn. Obsidian, den man in der alten asiatischen Stadt Hattusas gefunden hatte, wurde von Wissenschaftlern bis ins 3500 Kilometer entfernte afrikanische Äthiopien zurückverfolgt. Iranische Städte wie das 6500 Jahre alte Tepe Yahya waren Umschlagplätze für den Transport von Waren aus Indien nach Mesopotamien.
Eine Stadt könnte ohne die Nahrungsmittel nicht überleben, mit denen sie aus der weiteren Umgebung über ein komplexes Netz von Bauern und Domestizierern von Tieren versorgt wird. Sie könnte auch nicht ohne einen Strom an Fremden aufblühen, die sie mit wichtigen knappen Gütern beliefern. Die ihre Spuren hinterlassenden Beziehungen zwischen weit auseinander liegenden Kleinstädten lösten ein Sperrfeuer an Ideen, Methoden und Stilen aus und ließen die Wahlmöglichkeiten noch weiter als zuvor anschwellen. In einem früheren Kapitel zeigten wir, wie jede der auseinanderbrechenden Gruppen ihre eigenen Lebensweisen, ihre eigene Weltanschauung, ihre eigene emotionale Haltung und sogar ihren eigenen Genpool ausbildete. Jetzt wurde jede dieser Positionen mit einem kontinentübergreifenden Quirl von Vorstellungen durcheinandergerührt, die Kosmopoliten nehmen, ausprobieren, sich aneignen und häufig verändern konnten. Der Konformitätsverstärker ließ die Kulturen der Menschenaffen einander nachahmen. Der Diversitätsgenerator sorgte dafür, daß die in Zirkulation befindliche Mischung kontinuierlich anschwoll.
Verfahren und Ansichten verbreiteten sich über erstaunliche Entfernungen. Einige Archäologen haben behauptet, daß der Beginn der griechischen und israelischen Kulturen sowie der Landwirtschaft, die überall in Europa auflebte, dadurch ausgelöst wurde, daß sie den durch den Handel mit Catal Huyuk übernommenen Einflüssen ihre eigene Wendung gaben. Sogar Ägypten erhielt, wie Experten meinen, den Anstoß zur Ausübung der Landwirtschaft durch Catal Huyuk und anderen asiatischen Städten, mit denen die Siedler am Nil Waren tauschten. 700 Kilometer entfernt exportierte ein anderer Verband von prähistorischen Städten in Südmesopotamien das Wissen seiner Kultur über die Flüsse Tigris, Euphrat und Karkeh-Karun bis zur weit entfernten Küste des Mittelmeeres. Die späteren Stadtstaaten am Euphrat und Tigris sollten dann wiederum ihre Waren und Mythen bis zur Harappakultur in Pakistan bringen, wodurch sie wahrscheinlich wiederum Ideen von den frühen Kulturen am Indus aufgenommen haben.
Städte und Arbeitsteilung
All das kündigte die Ankunft eines globalen Gehirns an. Eine Stadt war wie ein Ganglion aus Nervenzellen, ein Zentrum für kooperierende Ökologien. Catal Huyuk machte seine Gebäude und viele seiner schönsten Kunstwerke aus Eichen- und Wacholderholz, aber in seiner Umgebung gab es keine Bäume. Sie wurden auf weit entfernten Berghängen gefällt und über den Fluß heruntergebracht, um die Bedürfnisse der Stadt zu befriedigen. Das Tannenholz, aus dem die eleganten Verzierungen der heiligen Altäre und die besten Häuser bestanden, kam ebenso vom Taurusgebirge wie die Delikatessen der Feinschmecker, zum Beispiel Mandeln, Pistazien, Äpfel, Eicheln (geeignet nicht nur als Nahrung, sondern auch als Rohstoff für chemische Mischungen zum Beizen von Leder und zum Herstellen von Joghurt) und Beeren wie Wacholderbeeren oder die der Ulmenart Celtis australis, die bei den Weinmachern begehrt waren. Aus näherliegenden Gebirgen kam Grünstein, Kalkstein oder vulkanisches Gestein. Alabaster und Calcit erhielt Catal Huyuk aus Kayseri und seinen cremeweißen Marmor aus weit im Westen liegenden Ländern. Zinnober wurde aus Sizma eingeführt und die Muscheln stammten von Mittelmeerküsten, die viele Kilometer und Gebirgsketten entfernt waren. Salz, eines der mächtigsten Mittel, um entfernte Kulturen durch Handelsnetze zu verknüpfen, kam von Ihcapmar, dessen Produktion auf den Mineralienfunden eines nahegelegenen Bracksees beruhte.
Auf der türkischen Ebene, auf der sich Catal Huyuk befindet, gibt es keinen Feuerstein, aber die Bürger dieser Stadt verwendeten die schönsten Varianten dieses Steins, um Dolche mit gezackten Klingen und Alltagsgegenstände herzustellen, mit denen sich das Herdfeuer entzünden oder Tierhaut für die Lederherstellung abschaben ließ. Andererseits beachteten die Menschen aus Catal Huyuk jene vielfarbige Steine nicht weiter, die es in der Nähe gab. Noch exoterische Halbedelsteine wie Bergkristalle oder Jaspis kamen von solch unbekannten Gegenden, daß die Archäologen ihre Herkunftsorte noch nicht bestimmen konnten. Sie alle waren Materialien für die Handwerker, die gewöhnliche Werkzeuge zu Statussymbolen für weit herausgehobene Eliten verwandelten und die besten Waffen, Sichelschneiden für reiche Bauern, Meißel und Bohrer für die hochgestellten, mit Holz und Knochen arbeitenden Bildhauer sowie Messer mit einem schön gestalteten hölzernen Griff und einem Knauf aus dem erlesensten Kalkgestein herstellten.
Dann gab es noch die Luxusgüter von den städtischen Meistern unter den Obsidianschleifern: Schüsseln von ehrfurchtgebietender Anmut, Schalen zum Anrichten und Ringe. Zu dieser Extravaganz trug auch die Arbeit der Künstler mit Muscheln bei: wunderbar gefärbte Halsketten, Armbänder, Broschen und Fußspangen. Virtuosen schnitzten in Horn und Knochen, überzogen Eberschädel mit geometrischen Mustern und gestalteten fein zugespitzte Instrumente zum Auftragen von Make-up, Küchengeschirr wie Becher, Löffel und Kellen, Ristschützer für Bogenschützen sowie Haken und Ösen zum Schließen von Gürteln. Tonwaren, die in anderen Kulturen so bedeutsam waren, galten anscheinend nur als Beschwichtigungsmittel für die Armen. Ihre Formen ahmten die des "wirklichen Gegenstandes" nach - die Formen von hölzernen und geflochtenen Behältern aller Art. Jede Extravaganz erweiterte die Kraft der Ressourcenverschiebung des komplexen adaptiven Systems, das Reichtum und Macht jenen verlieh, deren Werk majestätisch und weit entfernt von den alltäglichen Arbeiten zu sein schien.
Jede Extravaganz stützte die Ressourcenverteiler des komplexen adaptiven Systems, die Reichtum und Einfluß über jene ausschütteten, deren Werk majestätisch zu sein schien, und denen entzog, deren Beiträge alltäglicher erschienen. Obgleich frühe Städte wie Catal Huyuk bis zu 35 Morgen groß waren und aus gerade angeordneten, niedrig gebauten und mit einem Flachdach versehenen Ziegelhäusern bestanden, war die Zwei-Zimmerwohnung einer jeder Kernfamilie völlig in sich geschlossen, mit Mauern zum Schutz der Privatheit abgetrennt von den anderen und mit ihrer eigenen Küche sowie Sitz- und Schlafnischen ausgestattet. Trotz des nahezu identischen Aussehens ihrer Wohnungen und dem Umstand, daß jede Behausung nur durch die Dicke der Wände von den Nachbarn abgetrennt war, vertieften die Bürger von Catal Huyuk die geringen Unterschiede zwischen benachbarten Gruppen ein gutes Stück weiter als die Stämme der primitiven Nomaden mit ihren einfachen Trennungen in Hälften und Clans.
In Stammesgesellschaften war jedes Mitglied ein Generalist gewesen. Selbst ein Schamane hatte wahrscheinlich die Jagdkunst und die anderen Fertigkeiten beherrscht, die für das alltägliche Überleben wichtig waren. Doch eine Stadt gewährte den Luxus der Konzentration auf einen Bereich und schließlich den, sich selbst mit den anderen abzuschließen, die im gleichen Beruf arbeiteten. Jedes dritte Haus im wachsenden Catal Huyuk war, wie bereits erwähnt, eine heilige Stätte. Die vielen Priester stellten eine verwöhnte Elite dar. Sie lebten in ihrem eigenen Stadtviertel, bewohnten offensichtlich größere Gebäude als ihre Mitbürger und ließen sich dazu herab, Alltagsdinge des Lebens von Perlenschnüren bis hin zu gewebten Kleidungsstücken auf dem Marktplatz zu verkaufen.
Die Ressourcenverteiler und Nützlichkeitssortierer des komplexen adaptiven Systems verliehen den Vermittlern mit den Göttern Privilegien. In keiner der 200 Priesterunterkünften, die man während der ersten beiden Jahre der Ausgrabungen in Catal Huyuk freigelegt hat - es waren allerdings bislang nur wenige Viertel in einer sehr großen Stadt -, fand man irgendein Zeichen von Heimarbeit. Priester besaßen keine Sicheln für die Ernte von Feldfrüchten und Getreide, aber sie waren begeisterte Feinschmecker, denen vierzehn verschiedene Delikatessen mundeten: angefangen von Weizen, Gerste und Erbsen über Äpfel, Mandeln, Bier und Wein bis hin zu Rehfleisch und mit aller Wahrscheinlichkeit Honig sowie solch erlesene Milchprodukte wie Butter und Käse. Die Diener des Übernatürlichen besaßen keine Webstühle, aber ihre Häuser waren gefüllt mit Kleidern und Stoffen. Sie besaßen keine Werkzeuge, um Steine zu bearbeiten, aber unter den Schätzen ihres Haushaltes fand man zeremonielle Waffen aus perfekt geschliffenem Obsidian, die mit kompliziert geschnitzten, ein Paar ineinander verschlungene Schlangen abbildenden Griffen ausgestattet waren. Sie pflegten sich vor Mineralspiegeln. Zu ihrem Schmuck gehörten Perlenschnüre mit Löchern, die so klein sind, daß durch sie keine Nadel aus modernem Stahl paßt. Diese begünstigten Priester lebten im größten Luxus seit dem Beginn der menschlichen Kunstfertigkeit. Es überrascht nicht, wenn Stämme vom Land ihre alten Siedlungen verließen, Richtung Stadt zogen und versuchten, ihr Glück auf bislang unbekannte Weise zu schmieden.
Wie die Stammesmenschen der Eiszeit, die sich in willkürliche Hälften abschlossen, teilten sich die ersten Stadtmenschen in exklusive Nischen auf. Diese Cliquenhaftigkeit erhöhte schnell die Feinheit des kollektiven Gehirns. Jede Subkultur stellt normalerweise eine unterschiedliche Reihe von "Hypothesen" dar. Jede sich abspaltende Gruppe bildet ihre eigenen Lebensweisen, ihre eigene Weltanschauung, ihre eigene emotionale Befindlichkeit und sogar ihren eigenen Genpool aus.
Die Spaltung nimmt eine andere Gestalt an, wenn sie innerhalb der Stadtmauern stattfindet. Gruppen ziehen vielleicht ihre Grenzen, aber sie ziehen nicht los, um woanders neu zu beginnen, sondern jede trägt ihren Teil zu den Taktiken bei, die im gemeinsamen Geist brodeln. Der Biologe und Kulturwissenschaftler Lewis Thomas würde den Beitrag, den jede Gruppe erzeugt, um ihre "Besonderheit" zu demonstrieren, eine weitere Hypothese nennen, die verfügbar ist, wenn andere scheitern. Aber Subkulturen warten nicht geduldig auf den Tag, an dem ihr System überlebenswichtig werden könnte, sondern alle kämpfen im Wettstreit wie Fußballmanschaften um den ersten Rang hinsichtlich von Macht und Ansehen . Dieser klaustrophobische Kampf treibt das städtische Leben in einen unaufhaltsamen Fortschritt, der die Stämme des Eiszeitalters hätte schwindeln lassen. Mehr über die Überraschungen, die aus dem subkulturellen Kampfspiel entstehen, werden in den nächsten Kapiteln beschrieben. Kehren wir jetzt erst einmal zum Thema zurück.
Wenn man davon ausgeht, was wir von der frühen sumerischen, griechischen und römischen Kultur wissen, mußten die Gruppenführer, die darüber bestimmten, welche Waren nach Catal Huyuk kamen, eine auf ihre Clique bezogene Haltung eingenommen haben, einen von den Priestern formulierten Glauben, der ihren Reichtum, ihre Unnahbarkeit und ihre Verachtung von Arbeit rechtfertigte.
Die rivalisierenden "Subkulturen" der Metzger, Bäcker und Gerber werden ihre eigenen Spezialgebiete, ihre eigenen emotionalen Haltungen und ihre eigenen Wege begehrt haben, um zur "Wahrheit" zu gelangen. Die verantwortliche Gruppe wird das Massenbewußtsein beherrscht und die Formen der Wahrnehmung, der Kleidung und der Rede vorgeschrieben haben, die erlaubt waren und sorgfältig beachtet wurden. Wenn es zu einer Krise kam und es der herrschenden Elite nicht möglich zu sein schien, die Katastrophe zu überwinden, werden andere Kleingruppen um den ersten Platz gewetteifert haben. Die Gewinner - oft die Subkultur, deren Vorgehensweise am besten mit der Bedrohung zurechtkam - wurden dann zur nächsten formenden Kraft des Gruppengeistes und entschieden, was modisch ist und was nicht, wie man denken, sprechen, gehen und sich schmücken soll. Je mehr Subkulturen es gibt, desto umfangreicher ist die Palette konkurrierender Strategien und desto größer wird die kombinatorische Cleverness der Gemeinschaft.
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer
Biologie, Evolution und das globale Gehirn - I
Bakterienkolonien und kollektives Gehirn - II
Vernetzung im "finsteren Mittelalter" der Paläontologie - III
Das embryonale Mem - IV
Von sozialen Synapsen zu sozialen Nervensträngen: Komplexe, adaptive Systeme im Jurassic-Zeitalter - V
Die Säugetiere und der Fortschritt des Geistes - VI
Werkzeuge der Wahrnehmung - Die Konstruktion der Wirklichkeit - VII
Die Wirklichkeit ist eine gemeinsame Halluzination - VIII
Die Konformitätspolitik - Strategien zur Bildung des sozialen Zusammenhangs - IX
Diversitätsgeneratoren - Der Haufen und der Streit: der Zerfall der Gruppe - X