Diversitätsgeneratoren - Der Haufen und der Streit: der Zerfall der Gruppe

Die Geschichte des globalen Gehirns X

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Die vorangegangenen Kapitel (Werkzeuge der Wahrnehmung, Die Wirklichkeit ist eine gemeinsame Halluzination) haben sich auf zwei Arten von Konformitätsverstärker konzentriert: die einen formen Gehirne, um in Harmonie zu arbeiten und um unser Sehen, unser Hören und unsere Aufmerksamkeit so zu gestalten, daß wir die Welt auf ähnliche Weise verstehen; und die anderen stacheln die Individuen dazu an, ihre Verhalten und Aussehen den Normen des Stammes anzupassen. Konformität verleiht dem komplexen adaptiven System, der sozialen Gruppe, ihre Stabilität. Aber um sich anzupassen, benötigt das System eine kräftige Dosis von etwas anderem: von Neuheit . Die Fähigkeit, etwas zu krümmen, zu dehnen und zu erschaffen, verdankt sich nicht den Konformitätsverstärkern, sondern deren unablösbaren Gegensätzen, den Diversitätsgeneratoren.

Biologie, Evolution und das globale Gehirn - I
Bakterienkolonien und kollektives Gehirn - II
Vernetzung im "finsteren Mittelalter" der Paläontologie - III
Das embryonale Mem - IV
Von sozialen Synapsen zu sozialen Nervensträngen: Komplexe, adaptive Systeme im Jurassic-Zeitalter - V
Die Säugetiere und der Fortschritt des Geistes - VI
Werkzeuge der Wahrnehmung - Die Konstruktion der Wirklichkeit VII
Die Wirklichkeit ist eine gemeinsame Halluzination VIII
Die Konformitätspolitik - Strategien zur Bildung des sozialen Zusammenhangs

Sara Rogenhofer

Diversitätsgeneratoren zeigen sich auf viele Weisen . Sie durchziehen das unbelebte Universum, von dem der Physiker Paul Davies sagt, daß man nicht ahnen könne, "welche neuen Ebenen der Varietät oder Komplexität es hier noch geben mag." Durch Zufallsfluktuationen, so Davies, "erkundet die Natur unvorhergesehene Möglichkeiten." Auf der Ebene des Lebendigen gibt es ein altes Phänomen, das man Sex nennt. Er ist eine langwierige, energieaufwendige Verschwendung der Zeit eines Organismus. Aber die Verschiedenheit, die aus ihm entsteht, eröffnet die Möglichkeit der Genreperatur. Das verschafft sexuellen Organismen einen Vorteil, wenn auf sie Partikel mit hoher Energie eintrommeln, die lebensnotwendige DNA-Stücke an sich reißen. Einige Bakterien sind der Chromosomengleichheit verhaftet, indem sie sich einfach teilen und jeder Zwillingszellen eine Replik der mütterlichen Gene mitgeben. Andere vermischen ihre Gene mit den zusammenpassenden eines erwählten Geschlechtspartners. Der Vorteil offenbart sich, wenn die Atmosphäre die Kleinstlebewesen nicht mehr vor den schädlichen ultravioletten Lichtwellen der Sonne schützen kann. Dann stellen die sexuell gemischten Bakterien die gleichartigen nicht-sexuellen beim Überleben in den Schatten.

Mikroorganismen unterhalb der Erdoberfläche können eine Vielzahl von zunächst unverdaulich erscheinenden Stoffen vom Erdboden bis zu einem Stein verzehren - ein Ergebnis ihrer evolutionär erworbenen Fähigkeit, erstaunliche Variationen aus einem grundlegenden zellulären Thema zu komponieren.

Diversitätsgeneratoren setzen sich auch bei weit größeren Tieren durch. Makakenweibchen können wie manche Männer und Frauen der Ausstrahlung von großen dunklen Fremden nicht widerstehen, die nicht aus ihrer Gruppe stammen. Das Ergebnis ihrer abtrünnig erscheinenden Begierde ist ein Geschenk an die Gruppe, das aus den Genen des Außenseiters besteht, deren Aufnahme in den Reproduktionspool diese vor der Stagnation und der Anfälligkeit für Krankheiten schützt. Doch besonders wirksam sind Diversitätsgeneratoren bei Menschen.

Streit, Mord und Haß und Brüdern

Es ist viel leichter, mit einem Mitglied der gegnerischen Partei als mit einem der eigenen Partei befreundet zu sein, da man sich mit Mitgliedern der gegnerischen Partei nicht in einer direkten persönlichen Konkurrenz um Posten wie mit den eigenen Kollegen befindet.

Jonathan Lynn: The Complete Yes Minister

Vor etwa zwei Millionen Jahren gab ein mächtiger Diversitätsgenerator den Hominiden einen Anstoß. In einer Welle nach der anderen zogen die Vorfahren der Menschen von Afrika nach China, Südostasien und Europa. Dann fuhren sie bereits vor 176000 Jahren über weite Strecken des Meeres und ließen sich in Australien nieder, wo ihre Wanderungen wieder einsetzten. Die Kräfte hinter dieser Zerstreuung kennen wir nicht.

Einer der mächtigsten Diversitätsgeneratoren bei Menschen und Tieren ist eine Kraft, die Sigmund Freud "den Narzißmus des kleinen Unterschieds" nannte. Einander sehr ähnliche Individuen finden eine belanglose Unterscheidung und geraten darüber in Streit. Eine Gemeinschaft von Heiligen wird, um Emile Durkheim zu paraphrasieren, eine Fluse auf den himmlischen Gewändern als intolerabel betrachten und boshaft diejenigen verfolgen, die nicht flusenfrei sind. Irgendwann werden die als ungepflegt Angesehenen vielleicht andere suchen, die diesbezüglich nachlässiger sind, und sich als eigene Gruppe abtrennen, um ihrem schmutzigeren Schicksal nachzugehen.

Eine primitive Form dieses Antriebs gibt es schon lange vor der Menschheit. Je ähnlicher sich Insekten hinsichtlich ihrer Körpergestalt und ihren Verhaltensweisen sind, desto wahrscheinlicher sind sie auch Feinde. Die gefährlichsten Feinde von Ameisen sind andere Ameisen. Die größten Gegner südamerikanischer Lebewesen sind andere südamerikanische Lebewesen. Und allgemein ist die größte Gefahr für jede soziale Insektengruppe kein plündernder Vogel, keine Eidechse und kein Säugetier, sondern eine andere Horde sozialer Insekten. Ich will damit nicht sagen, daß soziale Insekten bösartiger als wir sind. Sie grüßen einander freundlich, eilen den anderen zu Hilfe, unterwerfen sich duckmäuserisch den Stärkeren und tragen einander sogar herum. Doch kannibalistische Ameisen neigen dazu, sich ihre Mahlzeiten von denen zu holen, die ihnen am meisten gleichen. Und parasitäre Ameisen beuten Wirte aus, die nahezu ihre Doppelgänger zu sein scheinen. Ein wichtiger Grund dafür ist, daß Insekten derselben Größe und Gestalt und mit denselben Vorlieben die gleichen Orte für ihre Nester, dieselbe Nahrung und dieselben Jagdgründe bevorzugen, so daß sie bereit sind, um diese wertvollen Güter zu kämpfen - manchmal bis zum Tod.

Dieser Konflikt zwischen Klons hat, wie es bei vielen Auseinandersetzungen der Fall ist, auch einen kreativen Aspekt. Wenn fast identische Tiere auf einer Weide zusammengepfercht werden, dann spalten sie sich in gegnerische Gruppen auf, die entschlossen entgegengesetzte evolutionäre Pfade hinaufklettern. E. O. Wilson , der vor vierzig Jahren auf dieses Phänomen aufmerksam machte, nannte dies die Eigenschaftenverdrängung. Der Kampf um Nahrung und Lebensraum zwingt jede Clique, ihre Bedürfnisse aus einem unterschiedlichen Ort der gemeinsamen Umwelt herauszumeißeln.

Beispielsweise scheint eine Reihe ähnlich aussehender Cichliden in den ostafrikanischen See Nyas vor 12400 Jahren vorgedrungen zu sein. Die schwimmenden Eroberer brauchten nicht lange, um den See zu überbevölkern. Als sich Nahrung immer schwerer finden ließ, brachten wahrscheinlich Streitigkeiten und harte Kämpfe die Population dazu, sich in bekriegende Cliquen aufzuteilen. Je weiter die Gruppen auseinander drifteten, desto verschiedenartiger wurden sie. Die Einzelheiten dieser Entwicklung sind zwar spekulativ, aber das Ergebnis ist unbezweifelbar. Jede Untergruppe entwickelte ein Brecheisen zur Auskundschaftung von offenstehenden Chancen, die von anderen übersehen wurden. Manche bekamen Mäuler, die groß genug waren, um gepanzerte Schnecken schlucken zu können. Anderen wuchsen dicke Lippen, um Würmer von Felsen abzureißen. Mitglieder einer diabolischen Art erwarben Zähne wie Spieße, mit denen sie die Augen ihrer Rivalen herausrissen und sie wie Cocktailzwiebeln verschluckten. In einem Augenblick der geologischen Zeit wurde aus einer kleinen Gruppe sehr ähnlicher Kopien 200 verschiedene Arten - ein Karneval der Vielfalt .

Wahrscheinlich setzten die Wanderungen des Homo erectus aus einen bestimmten Grund ein. Clans der menschlichen Vorfahren überforderten wie die Cichliden die Belastungskapazität ihrer Umwelt und zogen dann los, um noch unerschlossene Möglichkeiten zu suchen. Die Yanomamostämme im Nordwesten Brasiliens und im südlichen Venezuela werden größer, bis sie ungefähr 300 Mitglieder umfassen. Dann brechen Streitereien zwischen den Blutsverwandten aus, die oft in Gewalt enden und eine Gruppe von Unzufriedenen, die die Nase voll haben, dazu bringen, woanders ein neues Leben zu beginnen.

Die Neigung derjenigen, die einander gleichen, sich zu bekämpfen, wenn die Zeiten schlechter werden, widerspricht einem Hauptgesetz der konventionellen Evolutionstheorie , nämlich daß die Lebewesen sich desto mehr gegenseitig helfen, je ähnlicher die Zusammenstellung ihrer Gene ist. Die Gewalttätigkeit ist beim Kampf unter Brüdern besonders stark. Arten genetisch verwandter Ameisen sind, wie E. O. Wilson sagt, "am wenigsten bereit, die Anwesenheit der anderen zu dulden." Dasselbe gilt manchmal bei Menschen. Als Hannibal über die Alpen zog, um den Überraschungsangriff auf Rom zu beginnen, traf er auf den Höhepunkt einer Schlacht zwischen zwei Gruppen von Galliern. Was war das Problem? Zwei Brüder kämpften gegeneinander um die Führung des Stammes. Bei den Yanomamo finden die größten Kämpfe zwischen Familienmitgliedern statt - und zwischen den Gruppen, die sie anführen. Das ist ein gutes Beispiel für den Narzißmus des kleinen Unterschieds.

Der Brutofen der Spaltung

Wenn es schwierig wird, beginnen die Diversitätsgeneratoren zu arbeiten. Am Beginn haben wir Bakterienkolonien beschrieben, deren Angehörige ein Nahrungsparadies entdeckten, dann Signale sowohl für die Kollegen als auch für Fremde aussandten, zu ihnen zu kommen. Aber wenn die Nahrung ausging, verbreiteten die chemischen Mitteilungen der Bakterien eine weniger gesellige Botschaft: "Kommt nicht her - Geht weg!" Das Prinzip der Bakterien zieht sich durch die gesamte Kette des Lebens.

Menschen lassen Hinweise, daß eine einst behagliche Umwelt nicht mehr den Bedürfnissen genügt, nervös werden und treiben sie zur Aufspaltung. Manche Menschen werden feindselig, wenn sie aus ihrer ruhigen Routine aufgeschreckt und in eine Aufgabe hineingetrieben werden, die mit großer Angst besetzt ist und sich ihnen dann stellt, wenn das Leben hart wird. Andere gleiten hingegen in eine träge geistige Stimmung. Untersuchungen zeigen, daß gut gestimmte Menschen im allgemeinen ziemlich leutselig sind. Aber wenn ihre Stimmung getrübt wird, schimpfen und stänkern sie und bringen ihre Bekannten dazu, sich zu verziehen. Man zeige modernen Männern und Frauen einen deprimierenden Film , und sie gehen sich aus dem Weg, wenn der Film vorüber ist. Aber das sind nicht nur individuelle Neigungen. In einer Gesellschaft, deren soziale Bande durch Stress auseinandergerissen werden, brechen Recht und Ordnung zusammen.

Hunger und Verzweiflung sind dramatische Zeichen dafür, daß eine Gruppe ihre Nische ausgelöscht hat. Doch auch schwächere Zeichen, daß eine Gemeinschaft ihren Halt verliert, können die soziale Einheit zerstören. Je heißer es wird, desto stärker wird die Gewalt zwischen den Menschen. Als Experimentatoren die Raumtemperatur in einem Testraum von lauwarm auf unerträglich heiß steigerten, wuchs die Begierde der schwitzenden Insassen, sich gegenseitig mit Elektroschocks zu quälen. Wenn einige moderne Menschen unter einer solchen Hitze leiden, bauen sie ihre Frustration leider mit Gewehren und Messern ab. Die amerikanischen Rassenunruhen in den 60er Jahren fanden beispielsweise während extrem heißer Tage statt. Luftverschmutzung , Krach und die Verbreitung schlechter Nachrichten erhöhten überdies den Grad der Reizbarkeit. Das Verschwinden von wichtigen Dingen die unsere Lebensqualität ausmachen, beeinflußt nicht nur unsere Handlungsweise, sondern auch wie wir uns sehen und hören. Wenn ein Ehepaar streitet und ein Partner versucht, etwas Nettes zu machen, deutet der andere diese beruhigende Geste wahrscheinlich als einen verschleierten Angriff. Zudem sind Menschen im allgemeinen freundlich, wenn ihre Energie hoch ist, und mürrisch, wenn ihre innere Kraft ausgeht. Daher ist leicht vorstellbar, daß vor zwei Millionen Jahren stinkender Abfall, Nahrungsmangel und ständige schlechte Nachrichten auf einem überbeanspruchten Lagerplatz zu all diesen bösartigen Folgen geführt haben können.

Eine Gemeinschaft von Bakterien reagiert auf die Beeinträchtigungen durch widrige Umstände mit der Aufspaltung in Gruppen, deren Flucht voreinander in unbekannte Gegenden führt. Zu den Schlägen, die die Vorfahren der Menschen in Ableger aufsplitterten und sie schließlich über drei Kontinente ausbreiten ließen, gehörte fast ganz sicher eine ähnliche Reizbarkeit.

Die kulturelle Zentrifuge

Die Wanderer jener Zeit blieben durch einen primitiven gemeinsamen Geist verbunden. Doch Konformitätsverstärker ließen das Gruppengehirn ziemlich langsam werden. Kratzer, Messer, Beile und andere primitive Werkzeuge aus Stein veränderten sich während der zwei Millionen Jahre fast nicht, in denen die aufrecht Gehenden zu fernen Küsten ausschwärmten. Obwohl Clans jetzt durch Entfernungen von nahezu 15000 Kilometern getrennt waren, ließen Gewohnheit, Tradition und die Kommunikation in der Gruppe die Herstellung ihrer Waffen und Gebrauchsgegenstände fast gleichbleiben. Nur ein zerstreutes Sprengsel isolierter Gruppen wie der Homo erectus in Java und der archaische Homo sapiens von Südengland verlor die Synchronisation mit einer gelegentlich auftretenden neuen Sensation wie der Acheuleen-Handaxt.

Vor 130000 Jahren gaben dann Diversitätsgeneratoren Zeichen künftigen Wandels zu erkennen, als Protomenschen in Afrika Farbpigmente und Kieselsteine sammelten, um sie offensichtlich in Zeremonien zu verwenden. Vor 120000 Jahren wurde der Einsatz erhöht. In Terra Amata in Frankreich sammelten die Bewohner eine Palette von 75 Färbungsmitteln, deren Spektrum von gelb bis hin zu rot und braun reichte. Zwischen 77000 und 60000 Jahren vor unserer Zeitrechnung ritzten frühe Menschen in Australien symbolische Kreise in Steine hinein.. Vor 40000 Jahren begannen neue Erfindungen auf der Bühne aufzutauchen, beispielsweise der Speerwerfer , der die Reichweite eines Speers mehr als verdoppelte, die mit Widerhaken versehene Harpune und eine frühe Form des Hakens und der Angelleine, die zusammen die Nahrungsräume der Flüsse und Seen erschlossen. Neue Waffen erleichterten die Jagd auf Tierherden und ließen den Menschen Fleischmahlzeiten immer dann zukommen, wenn sie einen Big-Mac-Angriff ausführten. Es gab auch soziale Durchbrüche . Zerstreut lebende Familien kamen zur Ausführung großer Unternehmungen zusammen, die plötzlich durch das Niederprasseln neuer Hardware möglich wurden. Man konnte eine ganze Herde von Rentieren schlachten, wenn man genügend Menschen zum Ausnehmen koordinierte. Gemeinsame Riten und Feste banden kleine Gruppen zusammen und eröffneten ein Füllhorn zuvor unerreichbarer Schätze.

Als Folge entstand eine Bevölkerungsexplosion. Die Größe der Lagerplätze vervielfachte sich. In Frankreich umfassten Siedlungen etwa sieben Morgen Land. Niederlassungen wiesen Hütten mit einem Durchmesser von 15 Metern und mehreren Feuerstellen auf, die wirkliche Mehrfamilienwohnungen waren. Und diese riesigen Gebäude waren keine vorübergehenden Behausungen von Wanderern, die immer unterwegs sind. Sie waren permanent. Vermutlich waren selbst zu dieser Zeit die gefährlichsten Tiere der Umgebung nicht Löwen und Tiger, sondern, wie bei den Ameisen und Wespen, andere Menschen Das mag erklären, warum die tschechischen Dörfer damals bereits mit den ersten Palisaden geschützt waren.

Der Narzißmus der individuellen Unterschiede beschleunigte sich, als der Einfallsreichtum der Menschen vom Krabbeln zum Hyperdrive umschaltete. Eine Menge neuer Schöpfungen hoben die Unterschiede zwischen den Menschen heraus. Verzierte Bekleidung, Schmuck, Körperornamente und herrliche, mit Fell bespannte Hütten, die von Stoßzähnen und Knochen der Mammuts getragen wurden, zeichneten die höher stehenden Angehörigen eines Stammes gegenüber den niedriger gestellten aus. Der Archäologe A. Gilman vermutet, daß jede neu gebildete Gemeinschaft ihre eigene Herde oder ihre eigenen Jagdgründe monopolisieren wollte - einem engen Pass vergleichbar, durch den Massen von wandernden Mastodons oder Rentieren bei jedem Wechsel der Jahreszeiten ziehen würden. Die Menschen mußten ihr Monopol über ein solch wertvolles Eigentum verkünden können. Andere jagende Tiere konnten Urin oder Moschusdrüsen verwenden, um ihr Territorium mit bestimmten Gerüchen zu markieren. Diese Fähigkeit besaßen unsere Vorfahren nicht mehr. Daher entwickelten sie eine Menge von einfachen, aber klugen Ersatzmöglichkeiten . Schon vor 70000 Jahren umwickelten manche die Schädel ihrer Kinder mit straffen Bändern und Gegenständen, die den Kopf in ein bizarres und dauerhaftes Profil pressten. Später feilten andere ihre Zähne so, daß sie eine unnatürliche Form erhielten. All das zeigte, daß meine Gruppe nicht deine Gruppe ist, so daß man, wenn einem das Leben lieb war, besser nicht näher kam.

40000 Jahre später erreichte die symbolische Repräsentation eine halsbrecherische Geschwindigkeit. Die erste Schrift kam bereits 27000 Jahre vor unserer Zeitrechnung auf. Bildhauerei und Höhlenmalereien brachten die Unterschiede zwischen den Gruppen in die Wohnstätten. Mit aller Wahrscheinlichkeit setzten die Menschen die wachsende Geschmeidigkeit ihrer Zungen ein, um auch Wortbilder zu malen - zur Mitteilung von Geschichten über die Ausbeute des Tages, zum Meinungsaustausch über den nächsten Schritt im Jagen und Sammeln von Nahrung und zur Bildung von Mythen, mit denen sich die Geheimnisse einer oft unkontrollierbaren natürlichen Welt erfassen ließen. Unsere Begriffe, unsere Worte und unsere rituellen Techniken verbanden sich mit unserem Stil beim Bau von Mauern, beim Schnitzen und beim Schmücken von Werkzeugen als Zeichen dafür, wer zu unserer Gruppe und wer zu einer anderen gehörte.

In einem der vorangegangenen Kapitel haben wir ausgeführt, wie jede Kultur die Gehirne der Neugeborenen und Kleinkinder auf leicht unterschiedliche Weise vernetzt. Als Gruppen ihre Einzigartigkeit mit verschiedenen Dialekten, Methoden und Glaubensvorstellungen zur Geltung brachten, werden sie wahrscheinlich Jugendliche so geprägt haben, daß sie die Welt aus höchst unterschiedlichen Perspektiven sahen. Eine Fermentierung der daraus entstehenden Ansichten und Ideen wird das gemeinsame Repertoire der Menschen bereichert haben, denn der interkontinentale Geist des Pleistozän-Zeitalters bildete sich durch ein stetiges Anwachsen des Handels .

Weitere Unterschiede werden leicht aufgetaucht sein, beispielsweise eine geringfügige Veränderung der Gene jeder Gruppe, worüber man gegenwärtig nicht gerne nachdenkt. Erik Erikson prägte den Begriff der Pseudo-Artenbildung , um die stärker werdende Einstellung zu beschreiben, daß Außenseiter der Gruppe nicht als Menschen galten. Aber die Pseudo-Artenbildung scheint weiter zu reichen, als sich Erikson das vorgestellt hatte. "Der anfängliche Bruch", so David Smillie , "erzeugt einen großen genetischen Unterschied zwischen den Kinder- und Elterngruppen."

Man kann leicht sehen, wie dies vor sich gegangen sein konnte. Sich aufspaltende Stämme eng miteinander verwandter Yanomamo-Indianer unterscheiden sich schnell durch die Bildung neuer Dialekte und Rituale. Auf dieselbe Weise zeigen archäologische Funde, daß sich bei auseinanderbrechenden Gruppen des Pleistozän andere Kunst- und Modeformen herausbilden.

Das vorhergehende Kapitel wiesen auf die vielen Anhaltspunkte hin, daß Frauen vom jeweils spezifischen kulturellen Modell des perfekten Mannes gefangen werden und daß dieselben Frauen die verrückten Typen meiden, die mit den Gruppennormen nicht zurecht zu kommen scheinen. Daher haben vermutlich Frauen aufgrund der Ästhetik der Größe ihrer Splittergruppe die Männer ausgewählt. Das unterschied sich wahrscheinlich auf herausfordernde Weise vom Ideal derjenigen, die zwei Täler entfernt lebten. Als Ergebnis sollte sich daraus eine Veränderung der sexuellen Ressource im Pleistozän ergeben haben. Männer, die dem neuen kulturellen Bild der Vollkommenheit ähnelten, werden dann mehr fruchtbare Frauen in ihre Betten gelockt und mehr Kinder gezeugt haben als die häßlicheren Angehörigen des Stammes. Die Ressourcenveränderungen im Hinblick auf Status und Popularität wird das Beste an Nahrung, Werkzeugen, Heimen, schöner Kleidung und anderen beneidenswerten Dingen den Paragonen der neuen Gruppe eingebracht haben. Währenddessen haben die vormenschlichen Antriebe diejenigen, die von der Gruppe abweichen, an die Peripherie gestoßen. Die Kinder der "schönen" Menschen einer jeder Gruppe im Pleistozän werden folglich gesünder und beliebter gewesen sein, besser ausgesehen und einen größeren Erfolg als Erwachsene erzielt haben. Das trifft sogar auf die Nachkommen von Affen und Menschenaffen mit einem hohen Rang zu. Die weniger zahlreichen Kinder, die von kauzigen Eltern geboren wurden, werden hingegen schikaniert, gemieden und manchmal getötet worden sein, was auch für unsere Primatenverwandten gilt.

Gehen wir zurück zur modernen Zeit, um eine Vorstellung vom wahrscheinlichen Ergebnis zu erhalten. Die Yanomamo ehren wilde Mörder. Männer, die die größte Anzahl von Menschen konkurrierender Stämme abschlachten, werden mit der größten Anzahl von Frauen und mit viel mehr Kindern als alle anderen Dorfbewohner belohnt. Ängstliche Yanomamo-Männer und jene, die das Blutvergießen verabscheuen, haben sehr wenige Kinder. Erfahrungen mit Labortieren und domestizierten Haustieren wie Pit-Bull-Terriern zeigen, daß Aggression eine Eigenschaft ist, die in hohem Maß anerzogen ist. Daher wäre es keine Überraschung, wenn die selektive Fortpflanzung der Yanomamo eine gewalttätige Veranlagung hervorbringt, die sogar noch die ziemlich hohe menschliche Norm überschreitet.

Bei den Eskimos wird andererseits Aggression geächtet. Männern, die sich nicht zusammenreißen können, zeigt man die kalte Schulter. Als Außenseiter ist es für sie schwierig, eine Frau zu finden. Und wenn die Zeit für die traditionelle Weise der Freundschaftsbezeugung kommt, nämlich Frauen zu tauschen, werden diese wütenden Typen ausgeschlossen. Genau wie die Yanomamo Aggression heranzüchten, züchten die Eskimos diese weg. Die Yanomamo befinden sich folglich immer im Kriegszustand, während die Eskimos ein ganz anderes Schicksal erwartet: sie sind durch einen relativen Frieden gesegnet (obgleich Krieg eine derart allgemeine menschliche Eigenschaft ist, daß sich selbst die Eskimos bis vor kurzem periodisch diesem gräßlichen Sport hingaben). Anthropologen haben beobachtet, daß die Auswahl sexueller Fixierungen einer Splitterkultur einige Gruppen groß und andere klein werden läßt und selbst die Gestalt der Brüste und des Penis beeinflußt. Diese Prinzipien waren sicherlich schon lange vor der Ankunft der Eiszeit und der Säbelzahntiger am Wirken. Daher waren Sprache, Kultur und unterschiedliche Werkzeuge für Menschen, was einfachere Evolutionsformen bei den Cichlidenfischen vom See Nyas bewirkt haben: die Erzeuger einer explosiven Vielfalt.

Das Streiten, die Rivalität und die Rebellion, die vom Narzißmus des kleinen Unterschieds ausgingen, gaben den Männern und Frauen, deren Vorfahren in einem warmen und freundlichen Klima lebten, irgendwann die Energie, die arktischen Eisschollen, die kalten Steppen Sibiriens, die malariaverseuchten Sumpfgebiete Südchinas und die unglaublich verschiedenartigen Umwelten des heutigen Frankreichs, Spaniens oder Deutschlands zu erobern. Auseinanderfallende Gruppen entwickelten geniale Mittel, einen Überfluß aus unbekannten Ländern und Gewässern zu gewinnen. Ein Schwarm neuer Diversitätsgeneratoren beschleunigte diese Innovationen während des Zeitalters der Symbole radikal. Der Handel ließ viele Nebenprodukte dieser Anpassungsleistungen zu einer gemeinsamen menschlichen Eigenschaft werden. Seitdem hat sich die kulturelle Evolution mit schwindelerregender Geschwindigkeit beschleunigt und dem gemeinsamen Gehirn eine Flut immer weiter anwachsender Optionen geschenkt.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer