Das Kohlhaas-Syndrom: Wenn "Waffenstillstand" zum Bäh-Wort wird

Seite 2: Das Friedensgebot der UN-Charta

Auch völkerrechtlich modifiziert nach über einem Jahr Krieg der Zeitfaktor die Situation. Zwar ist richtig, dass die UN-Charta Angriffskriege verbietet. Aber wenn ein Krieg dennoch ausgebrochen ist, gebietet sie:

Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.

Der ehem. UN-Diplomat i.R., Michael von der Schulenburg, bringt es treffend auf den Punkt6:

Die Verpflichtung zu friedlichen Lösungen von Konflikten besteht nicht nur, um Kriegen vorzubeugen, sondern auch, um Wege aus Kriegen herauszufinden.

Dementsprechend fordert die Resolution der UN-Vollversammlung ES 11/1 vom 2. März 2022, in der 141 der 191 UN-Mitglieder "auf das Schärfste die Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine" verurteilen, zugleich "die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel."

Außerdem verlangt die Vollversammlung "sich an die Minsker Vereinbarungen zu halten und in den einschlägigen internationalen Rahmen, einschließlich des Normandie-Formats und der Trilateralen Kontaktgruppe, konstruktiv auf deren vollständige Durchführung hinzuwirken."

Mit dem Verweis auf das Normandieformat werden neben den unmittelbaren Konfliktparteien Russland und Ukraine auch gezielt Frankreich und Deutschland angesprochen. Doch scheinen jene, die dort so gerne von der regelbasierten Weltordnung reden, damit nur solche Regeln zu meinen, die ihnen in den Kram passen.

Deshalb ignorieren sie auch die erneute Aufforderung der Weltgemeinschaft zu Verhandlungen in der Resolution der UN-Vollversammlung vom Februar 2023, die dazu aufruft, diplomatische Anstrengungen für die friedliche Beendigung des Krieges "zu verdoppeln".

Die Minsker Vereinbarung taucht in der neuen Erklärung allerdings nicht mehr auf. Auch in der Uno hat man wohl zur Kenntnis nehmen müssen, dass Angela Merkel und François Hollande, die seinerzeit das Abkommen unterzeichnet hatten, inzwischen offen erklären, die Verhandlungen seien darauf ausgelegt gewesen, Zeit für die Aufrüstung der Ukraine zu schinden.

Wörtlich sagte Merkel der Wochenzeitung Die Zeit:

Das Minsker Abkommen 2014 war ein Versuch gewesen, der Ukraine Zeit zu geben. Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht. Die Ukraine von 2014/15 ist nicht die Ukraine von heute. Wie man am Kampf um Debalzewe Anfang 2015 gesehen hat, hätte Putin sie damals leicht überrennen können. Und ich bezweifle sehr, dass die Nato-Staaten damals so viel hätten tun können wie heute, um der Ukraine zu helfen.

Angela Merkel

Auch gegenüber dem Spiegel sagte sie, ihre Haltung zur Ukraine in den Minsker Friedensgesprächen habe Kiew Zeit verschafft, um die militärischen Fähigkeiten zu verbessern.

Auf einem anderen Blatt steht, dass die Aussage in Moskau zugespitzt worden ist und Putin sagte, Deutschland habe "die Ukraine für Kriegshandlungen vorbereiten wollen". Denn wahr ist auch, dass russische Militärs längst in der Ukraine aktiv waren.

Dennoch hat durch die Äußerungen Merkels und Hollandes die Glaubwürdigkeit Deutschlands und Frankreich schweren Schaden erlitten; die Minsk-Verhandlungen stehen rückblickend per se in einem fragwürdigen Licht.

Vor diesem Hintergrund sind Forderungen von Kritikern einer diplomatischen Verhandlungsinitiative keineswegs mehr moralisch und rechtlich so plausibel, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Der hohe moralische Anspruch verkehrt sich, ganz wie bei Kohlhaas, in sein Gegenteil, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.

Der Tod der anderen

Seit Beginn des Krieges starben nach Angaben der Uno 8.231 Zivilisten (Stichtag 12.3.2023) durch Kriegseinwirkungen. Die Zahl der gefallenen Soldaten, die auf beiden Seiten geheim gehalten wird, dürfte zusammengenommen um die 200.000 erreichen.

Wer für die Fortsetzung des Krieges plädiert, muss sich fragen lassen, ob er noch einmal 200.000, 300.000 oder gar eine halbe Million Tote in Kauf nimmt, um eine günstige Verhandlungsposition zu erreichen. Abgesehen davon, dass in den Sternen steht, ob ein solches Ziel realistischerweise überhaupt erreichbar ist. Wer im Gestus des wissenden Realpolitikers Diplomatie für zwecklos erklärt, sollte sich besser mal fragen, wie realistisch die Utopie von substantiellen Erfolgen der Ukraine auf dem Schlachtfeld ist.

Der Krieg hat weitgehend den Charakter eines Stellungs- und Abnutzungskriegs angenommen. Ein militärischer Erfolg der Ukraine ist daher nicht absehbar. Natürlich sind Überraschungen möglich.

Es gehört nun mal zum Wesen von Kriegen, dass sie nur sehr begrenzt planbar sind. Russland hat das selbst bei Kriegsbeginn mit dem Scheitern seiner Blitzkriegsoffensive vor Kiew erlebt. Doch wäre es reines Abenteurertum, darauf eine Strategie zu gründen und auf Wunder zu hoffen, auch wenn der Glaube an wunderbare Wendungen des Kriegsglücks seinerseits typisch ist für Kriegsparteien – vor allem wenn sie auf die Verliererstraße geraten sind.

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