Das verlorene Gesicht

Wie sah er aus - der Neandertaler?

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Kein Mensch, der das Gesicht dieser Frau längere Zeit betrachtet, kann sich dem Eindruck des ungeheuren Leidens entziehen, das aus ihm spricht. Es handelt sich um das Gesicht einer Frau; ihr Name ist überliefert. Truganini. Sie war Angehörige einer mit ihr ausgestorbenen Menschenart.

Truganini, gegen Ende ihres Lebens

Sie und ihre Familie waren die letzten Tasmanier. Die Fotos, die von ihnen gemacht wurden, hielten Gesichter von Menschen fest, die man niemals wieder auf dieser Erde sehen wird. Gesichter, in denen sich das Unrecht widerspiegelt, das ihnen angetan wurde, das Leiden jenseits der Schmerzgrenze, das unbegreifbare kollektive Schicksal, Zeuge und Opfer eines Völkermords gewesen zu sein.

Mein Interesse, an diesem Punkt, gilt der Rekonstruktion von Gesichtern von Menschen, die wir nie gesehen haben, spezifisch, der Neandertaler (Siehe: Neues vom wilden Mann).

Die Tasmanier helfen uns dabei nicht, denn es gibt keine Ähnlichkeit zwischen Tasmaniern und Neandertalern, außer der, dass beide in ihrer ursprünglichen Form ausgestorben sind. Auch bei den Neandertalern muss es irgendwann einmal „den letzten seiner Art“ gegeben haben. Aber niemand hat je das Gesicht eines Neandertalers gesehen, oder wenigstens nicht fotografiert; bekannt sind einzig ihre Schädel. Durch einen grotesken Zufall der Geschichte besitzen oder besaßen „wir“ hingegen Fotos von Original-Tasmaniern, und Fotos ihrer Schädel, in manchen Fällen sogar die Original-Schädel zu den Fotos. Die wissenschaftlich naturgetreue Rekonstruktion eines Tasmaniergesichtes ist also relativ einfach, eine lebensechte Büste der Truganini wäre eine Kleinigkeit.

Das Leid der Tasmanier in diesem Zusammenhang und an dieser Stelle zu übergehen, weil es „eigentlich nicht mein Thema ist”, wäre einzigartig schofel. Dennoch muss hier der Verweis auf die zahlreichen Internet-Quellen zum Schicksal der tasmanischen Ureinwohner genügen.

Der Völkermord in Tasmanien diente, nicht anders als in allen anderen Kolonien der Welt, dem Erhalt der Macht der Fremdherrschaft, und es gab scheinbar keine Grenzen für die Auswüchse an Bestialität und Sadismus der Kolonisten. Und am Ende des Mordens trafen die Hyänen der „wertneutralen Wissenschaft“ auf dem Schlachtfeld ein und schleppten die Schädel der Erschlagenen davon in ihre Schauvitrinen. Und sie glaubten, sie hätten sich dabei die Hände NICHT schmutzig gemacht.

Auch die deutschen Kolonialherren in Afrika ließen die Schädel ihrer afrikanischen KZ-Opfer für die Wissenschaft nach Berlin transportieren.Dazu eine Originalbildunterschrift Eine Kiste mit Hereroschädeln wurde kürzlich von den Truppen in Deutsch=Süd=West Afrika verpackt und an das Pathologische Institut in Berlin gesandt, wo sie zu wissenschaftlichen Messungen verwendet werden sollen. Die Schädel, die von Hererofrauen mittels Glasscherben vom Fleisch befreit und versandfertig gemacht wurden, stammen von gehängten oder gefallenen Hereros.

Die solcherart geprägte Wissenschaft brauchte denn auch mehr als ein Jahrhundert, um sich von ihren rassistischen Ursprüngen zu befreien. Im Wiener naturhistorischen Museum las man beispielsweise noch 1997 (!) vor einem Schaukasten im Rassensaal (!): „Durch einen glücklichen Zufall befindet sich das Museum im Besitz eines echten Tasmanier-Schädels.” Ich selber habe noch vor wenigen Jahren genau diesen (oder mindestens einen von vielleicht mehreren solcher) tasmanischen Schädel – leicht erkennbar an der spitz zulaufenden Hausdach-förmigen Schädelkuppe – auf einem der Arbeitstische der dortigen Direktorin gesehen.

Welchen „Wert“ das anatomische Material für die Wissenschaft im 19. Jahrhundert besaß, mag man ermessen an dem Gerangel, das zwischen dem Königlichen Ärzte College in England und der Königliche Gesellschaft von Tasmanien entbrannte, als sie sich um die letzten Reste des letzten tasmanischen Mannes (er hieß William Lanney) stritten. Dr Crowther vom Königlichen College erhielt den Kopf (allerdings ohne die Ohren und Nase), Dr Stockel von der Königlichen Gesellschaft machte sich mit den Händen und Füßen davon -- und mit der Haut, aus der er sich eine Tabakstasche anfertigen ließ. Truganini, die letzte weibliche Überlebende, hatte darum gebeten, dass sie auf See begraben werden möge, um einem ähnlichen Schicksal zu entgehen. Sie wurde jedoch, als sie 1876 starb, an Land begraben und zwei Jahre später wieder ausgegraben. Ihr Skelett wurde dann im Museum von Tasmanien bis 1947 öffentlich ausgestellt, danach wurde es den Blicken der Öffentlichkeit entzogen und blieb einzig der wissenschaftlichen Schaulust vorbehalten. 1976 wurde der 100. Jahrestag ihres Todes gefeiert – indem man ihre Knochen verbrannte und ihre Asche auf dem Meer verstreute.

Lebend haben tasmanische Gene sich erhalten in heutigen Nachkommen, Mischlingen aus Tasmaniern und Weißen, die dem völkermörderische Treiben widerstehen konnten, ebenso wie der Behauptung der Rassenkundler des 19. Jahrhunderts, wonach Europäer und Tasmanier biologisch zu weit entfernt wären, um fruchtbare Nachkommen zu haben. Das Resultat solcher Vereinigungen zwischen weit auseinanderliegenden genetischen Gruppen wurde als Mulismus bezeichnet (von „Mule”, Maultier, daher auch das Wort Mulatte) – solche Menschen galten also als unfruchtbare Hybride. Tatsächlich hat es niemals zwischen irgendwelchen Menschen auf der Erde dieses Problem gegeben.

Als „störrisch wie ein Maulesel“ galt übrigens, nach einem Wort seiner Mutter, Kaiserin Maria Theresia, auch der österreichische Kaiser Joseph II (im allgemeinen Gedächtnis erhalten geblieben durch die Szene aus dem Film Amadeus (1984),

wo er, dargestellt von Jeffrey Jones, dem jungen Mozart –verkörpert von Tom Hulce -- zu verstehen gab, es seien „zu viele Noten“ in seiner Musik). Joseph II, im realen Leben ein sehr viel kleinerer Mann als im Film, war ein besonders aufgeklärter Monarch, der sich auch als Schachpartner einen klugen Hofneger hielt: Angelo Soliman.

Als dieser, ein gebürtiger Nigerianer, 1796 starb, wurde ihm zunächst einmal die Haut vom Leib gezogen und, taxidermistisch ausgestopft, für zehn Jahre im kaiserlichen Naturalienkabinett ausgestellt, um schließlich und endlich, nach jahrelangen Fürbitten der Familie Solimans an den einstigen kaiserlichen Freund, doch noch „richtig“ bestattet zu werden. Seine Totenmaske, in gipsernem Weiß, befindet sich heute, zusammen mit den Lebend- und Totenmasken verschiedener anderer Afrikaner aus dem 18. Jahrhundert, im Wiener Naturhistorischen Museum. Sie stellen damit gewissermaßen die ältesten „Fotografien“ von afrikanischen Gesichtern dar, die es gibt. Nicht in Schwarzweiß, sondern in Ganzweiß. Und das wird zweifellos irgendwann in der Zukunft einmal sehr interessant für die Afrikaner selber sein, wenn sie das gleiche Interesse an Wissenschaft entwickelt haben werden, wie die Europäer.

Unterdessen verweisen diese Sammlungen allesamt möglicherweise eher auf einen bizarren Totenkult der Europäer, der nicht mal unbedingt mit dem Christentum zusammen hängen muss. Und es gibt ihn schon lange. Bevor naturgetreue Plastikskelette ihren Einzug in die Biologiesäle Europas hielten, hingen dort in aller Regel über reichliche Hundert Jahre hinweg ertrunkene Inder vom Ganges, erhängte Mörder aus Schottland und erschossene Aborigines aus Australien. Und ebenso ist die Frage noch immer nicht geklärt, was mit den Abertausenden von „Objekten“ geschehen soll, die direkt aus der Tötungsmaschinerie der Nazis in die deutschen und österreichischen Museen gewandert sind.

Ich vermute, niemand wird auf die Idee kommen, wie einst in der tschechischen Gebeinkapelle von Sedlec, die Knochen zu Kronleuchtern zu verarbeiten, und dann gerahmte Kunstfotos davon zu verkaufen.

Aber genau besehen bleibt die Frage, was man mit solchen Museumsbeständen anfangen soll, eine ideologische, im Grunde wenig anders als die Frage, ob man „halal“ geschlachtetes Fleisch (wegen des höheren Grades an Grausamkeit beim Schlachten der Tiere) meiden oder Hühnereier aus Freilandhaltung bevorzugen sollte. Es ist eine Frage, zu der jede Gesellschaft ihre eigenen ethischen Befunde treffen muss. Die Forderung, dass die wissenschaftliche Erforschung in jedem Fall Vorrang hat vor den religiösen oder stammesgeschichtlichen Gefühlen einstiger Natur- oder Kolonialvölker, ist heute selbst als Ideologie enttarnt, andererseits sind natürlich auch die Ansichten der Betroffenen ihrerseits wieder ideologisch gefärbt.

Die Schädel- und Gebeinsammlungen der Museen auf der ganzen Welt stammen aus recht zweifelhaften Quellen. Opfer von Genoziden, von massenhaften Tötungsaktionen. Als typischer Westeuropäer würde ich vielleicht sagen: Natürlich nützen sie der Menschheit und der Wissenschaft trotzdem mehr, wenn wir sie in den Museen behalten, als wenn wir sie pietätvoll wieder in der Erde verbuddeln. Aber wer würde heute noch der „Wissenschaft“ trauen – wenn sie beispielsweise in China, in der Türkei oder gar in den USA praktiziert wird? Sie ist überall, auch in Europa, ideologisch suspekt geworden, oder geblieben. Im Internet halten die Ideologeme sich zuböserletzt die Waage – hier die gestutzte Intelligenz der politischen Korrektheit – dort die verkümmerte der Schlichtgeister.

Versuchen wir einmal, Bilder von Tasmanier-Schädeln im Internet zu ergoogeln. Es gibt sie nicht. Sie gelten als „politisch nicht korrekt“, und daher werden sie versteckt. Ich selber habe das Internet eine zeitlang als eine Art technologisches „Overmind“ aufgefasst, ein globales Bewusstsein der Gesamtmenschheit – den mystischen Ausdruck „Overmind“ hatte ich dabei von Sri Aurobindo geborgt – heute neige ich eher dazu, das Weh-Weh-Weh als eine Art weltweites „Undermind“ zu betrachten, einen Tsunami der universalen Blödheit. Das gilt ganz besonders für das kritische Denken, das zugeschüttet wird von Trivialschrott jeder Art. Oder schlichtweg von Verboten.

Wissenschaften wie die Ethnologie, Archäologie, Anthropologie oder Paläanthropologie, die von einem dezidierten Mehr an kritischem Bewusstsein profitieren könnten, werden hier in ihre gated communities abgedrängt, während das Internet als Spielwiese dient, auf der sich Crackpots, Kreationisten und schamanistische Echolaliker ein munteres Stelldichein geben.

Damit reflektiert das WWW natürlich, recht demokratisch, die reale Welt, deren Diskurse, ebenso real, von Amerika dominiert werden. Beispiel, in diesem Kontext: der Kennewick Man.

Ein Skelett, das zufällig, wie der bekannte Ötzi, bei einer Flugveranstaltung im US-Bundesstaat Washington, 1996, aus der Erde ragte. Fast 8 Jahre lang wurde die wissenschaftliche Arbeit durch verschiedene Einsprüche indianischer Stammesgruppen behindert und aufgehalten, die auf eine sofortige und ehrenvolle Bestattung ihres „Ahnen“ drängten. Endlich konnte ermittelt werden, dass es sich um einen „kaukasoiden“ (gewissermaßen „europäischen“) Mann handelte, der am ehesten Ähnlichkeit mit den Ainu (den Ureinwohnern Japans) aufwies und vor rund 10.000 Jahren eines vermutlichen gewaltsamen Todes gestorben war. Rekonstruktionsversuche resultierten in einem Gesicht, das dem des englischen Schauspielers Patrick Stewart (Star Treks "Captain Picard") glich.

Tatsächlich sind alle solche Rekonstruktionen ziemlich relativ. Nicht relativ fragwürdig, aber doch relativ. In der Forensik stehen den Kriminalisten heute neben Tonerde und Plastilin auch computergestützte Hilfsmittel zur Verfügung.

Trotzdem: Sogar im scheinbar völlig eindeutigen Fall der russischen Zarenfamilie, wo man einerseits die Fotos, andererseits die Schädel zur Hand hatte, war die zweifelsfreie Zuordnung jeweils dieses Schädels zu jenem Foto, keineswegs gesichert. Da, wo, wie beim Neandertaler, die gesicherten Eckdaten fehlen, bleibt, bei aller Wissenschaft, das meiste immer noch der Intuition überlassen. Oder der Phantasie

Als Pendant zum Kennewick Mann könnte man die Penon Frau aus dem mexikanischen Teil von Kalifornien ansehen. Im Jahr 2001 ergab eine Messung, dass ihr Schädel 20.000 Jahre alt sei – es handelt sich also um einen der ältesten Funde dieser Art in Amerika. Anders als in den Vereinigten Staaten konnten Stammes- und Religionsgruppen nicht auf eine rasche Bestattung drängen, der Schädel stand also für mögliche genetische und andere Analysen zur Verfügung. Freilich waren die im Fundgebiet angesiedelten Pericu Indianer bereits vor längerem ausgestorben, aber die Ähnlichkeiten der knöchernen Überreste waren verblüffend. Hauptmerkmal der Schädel war ihre längliche und schmale (dolichocephale), statt wie bei Indianern eher üblich, breite und kurze (brachycephale) Form. Kontakte mit den benachbarten, aber nicht befreundeten Guaycura-Stämmen waren zu Lebzeiten dieser Bevölkerungen gering gewesen. Immerhin, es gibt Fotos wie dieses aus dem Jahr 1892.

Es zeigt María Ignacia Melina aus Loreto, die zu diesem Zeitpunkt 85 Jahre alt war und eine der letzten vier damals noch lebenden Guaycuras war. Ihr Vater war ein „Halbblut“, also ein Mischling, ihre Mutter eine „unvermischte“ Guaycura Indianerin. Wer sich das Bild ein Weilchen betrachtet, könnte meinen, eine alte Fotografie einer Bäuerin aus dem Schwabenlande vor sich zu haben. Richtige Anhaltspunkte für die Rekonstruktion der Penon Frau liefert dieses Foto dennoch nicht. Bestenfalls den Schimmer einer Ahnung, wie die frühesten Einwanderer in Amerika ausgesehen haben mögen.

Teil 2: Neil Young kein Neandertaler