Der Ausnahmezustand als neue Normalität

The Damned

Geometrie der Angst. (Teil 3)

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Was bisher geschah: Simon Wells, ein amerikanischer Tourist, lernt die junge Joan und ihren Bruder King kennen, den Anführer der örtlichen Teddy Boys. Verfolgt von King, finden Joan und Simon Zuflucht im Atelier der Bildhauerin Freya und geraten dann auf das Gelände einer staatlichen Forschungseinrichtung, in welcher der Wissenschaftler Bernard neun radioaktive Kinder in unterirdischen Katakomben auf eine Zeit nach dem Atomkrieg vorbereitet. Die Kinder warnen die Besucher, dass der "Schwarze Tod" kommen und sie holen wird, wenn Bernard sie auf den Monitoren seiner Überwachungskameras entdeckt.

Teil 1: Der untypischste aller Hammer-Filme, wiedergesehen im Schatten der Corona-Pandemie
Teil 2: Unter Friedhofsvögeln

Virus im politischen System

Wer in der Welt der Elfjährigen der Schwarze Tod ist, stellt sich heraus, wenn die subjektive Kamera im Aufzug von der Kommandozentrale nach unten fährt. Wir teilen die Perspektive des unheimlichen Eindringlings, der den Lift verlässt und die Katakomben betritt. Vor ihm liegt der Medienraum. Es gibt Bücher, eine Leinwand, und was aussieht wie eine Trockenhaube beim Friseur ist eine Vorrichtung zum Abhören von Tondokumenten. Für eine Szene, in der wir Elizabeth beim Lernen mit audiovisuellen Medien beobachten, hat Losey Lord Byrons "The Prisoner of Chillon" ausgesucht.

Byron schrieb das Gedicht über einen eingekerkerten Freiheitskämpfer, nachdem er und Percy Shelley bei einer Segeltour auf dem Genfer See das Verlies im Château de Chillon besucht hatten. Man kann es als Kommentar zu The Damned und zur Funktion der Kunst verstehen (die Kinder, die es hören, werden bald den Aufstand wagen), und weil das ein Film voller Anspielungen ist, darf man auch an Mary Shelley denken, die am Genfer See den berühmten Traum hatte, aus dem dann der Roman Frankenstein wurde. Jetzt aber ist der Medienraum menschenleer. Wir hören nur die schweren Schritte des Eindringlings.

Hier und da ist Spielzeug verstreut, eine Puppe und ein Teddybär, um uns daran zu erinnern, dass es kleine Kinder sind, mit denen Bernard, die Frankenstein-Figur des Films, seine Experimente macht. Neben einem Regal mit Büchern steht ein altertümlicher Globus. Der Eindringling kann der Versuchung nicht widerstehen, ihn anzufassen und zu drehen. Dabei gerät - weiter mit subjektiver Kamera aufgenommen - seine Hand ins Blickfeld. Sie steckt in einem Schutzhandschuh.

Der Eindringling geht an Alarmglocken und Überwachungskameras vorbei, am Chemielabor, in dem die Kinder ihre eigene Nahrung herstellen und am gedeckten Frühstückstisch. Das wirkt ein bisschen wie im Märchen, hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen, und soll wohl auch so sein, um darauf hinzuweisen, dass man den kleinen Probanden ihre Kindheit gestohlen hat. Anstelle von Schneewittchen kommt der Schwarze Tod; Bernard ist die böse Hexe mit dem Zauberspiegel (dem Überwachungsmonitor).

Bei den Betten, in denen die Kinder schlafen, werden die subjektiven Kameraeinstellungen durch einen Gegenschuss abgelöst. Wir sehen Major Holland in einem Schutzanzug. Schnitt zurück auf eines der Kinder, das Gesicht von Angst verzerrt. In diesem Film sind die Garanten der Sicherheit die Monster. Major Holland ist der Schwarze Tod. "Hier ist die Parallele zwischen Bernard und King deutlich:", schreibt Georg Alexander im Losey-Band der blauen Filmbuchreihe des Hanser Verlags, "beide gebieten über jene zerstörerischen schwarzgekleideten Schutzstaffeln, die jeweils auf ihre Weise individuellen oder institutionellen Terror verbreiten."

Losey fehlte es schon aus biographischen Gründen am Verständnis für solche Institutionen, die andere überwachen, ausspionieren, ihrer Freiheit berauben. Gedanklich war er stark mit dem McCarthyismus beschäftigt, als er The Damned drehte, was er nur tat, weil seine Pläne für eine Rückkehr in die USA hinfällig geworden waren und ihn außer der Hammer niemand beschäftigen wollte. Die eigenen Erfahrungen hatten seinen Blick für gesellschaftliche Vorgänge geschärft, die scheinbar harmlos anfangen und sich dann verselbständigen.

Was Losey am meisten schockierte war die Bereitschaft seiner Landsleute, Bürgerrechte und demokratische Freiheiten über Bord zu werfen, um einer als existenzbedrohend wahrgenommenen Gefahr zu begegnen. Um bei der Infektionsmetaphorik zu bleiben: Loseys Überzeugung nach hatte das politische System der USA ein Virus befallen (der rabiate Antikommunismus, durch den das Recht auf freie Meinungsäußerung genauso beschnitten wurde wie die Versammlungsfreiheit), das nicht weniger lebensgefährlich war als eine körperliche Krankheit.

Adam und Eva des Atomzeitalters

Das Drehbuch zu The Damned hat ein paar Schwächen, ist aber insgesamt sehr gut konstruiert. Wenn King nachts in Freyas Atelier auftaucht ist damit zu rechnen, dass ihm Bernard bald folgen wird, der Parallelen wegen. Er kommt am nächsten Morgen. Freya berichtet, dass sie Besuch von "Romeo und Julia" (Simon und Joan) hatte und von einem "unglücklichen, gefährlichen Jungen" (King), der ihre Skulptur zerschlagen hat. Dann wirft sie Bernard ihren Frühstücksapfel zu. In einem Film, der so mit Bedeutung aufgeladen ist wie dieser, ist ein Apfel nicht nur ein Apfel.

Wir sehen - schon etwas in die Jahre gekommen - Adam und Eva (Freya und Bernard waren früher ein Liebespaar), halb sitzend und halb liegend auf dem Bett, in dem Romeo und Julia vorher Sex hatten. Zentral im Hintergrund ein gekreuzigter Jesus von Elisabeth Frink, die viele Aufträge von Kirchen erhielt. Das Netz der in Handlung und Dekors verwobenen Anspielungen auf die Religion wird dichter. Jesus starb am Kreuz, um uns von der Erbsünde zu befreien, nachdem Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis genascht hatten, mit den bekannten Konsequenzen, Kain und Abel inklusive.

Adam und Eva des Atomzeitalters (9 Bilder)

The Damned

Jetzt sitzt da der Wissenschaftler Bernard als Adam des Atomzeitalters und träumt davon, ein neues Menschengeschlecht in die Welt zu bringen - eine Welt, die atomar verseucht ist. The Damned ist auch als Satire ziemlich gut. Bernard, sagt Freya, sei zu einem Mann mit einer Aufgabe geworden. "Ich hatte das Gefühl, keine Wahl zu haben", sagt ihr Ex-Geliebter, mit dem sie früher in diesem Bett geschlafen hat. "Es ist zu spät, irgendetwas im Privatleben zu machen." "Zu spät? Warum?", fragt Freya. "Ich lebe mit einer Tatsache", antwortet Bernard. "Eine Kraft ist freigesetzt worden, die diese Steine zum Schmelzen bringen wird."

Und dann sein Mantra: "Wir müssen bereit sein, wenn die Zeit gekommen ist." "Du glaubst wirklich, dass es passieren wird, stimmt’s?", erwidert Freya ein wenig ratlos. "Sicher", sagt Bernard. "Das steht völlig außer Frage." Das ist einer der stillen Horrormomente in diesem Film und erklärt die religiöse Ikonographie. Losey geht es hier nicht um christliche Erbauung. In der Romanvorlage sind die Menschen durch atomare Strahlung zeugungsunfähig geworden. Die Ausnahme sind die radioaktiven Kinder. Auf sie kommt es also an, wenn die Geschichte der Menschheit, die - im Weltbild der Christen - mit Adam und Eva im Paradies beginnt, nicht ein baldiges Ende finden soll.

Dr Strangelove

Der Film ist radikaler und ersetzt die verlorene Fortpflanzungsfähigkeit durch einen Atomkrieg, der Bernards Überzeugung nach unausweichlich ist. Die von Bernard vertretene Form der Wissenschaft ist zur neuen Religion geworden. Kubricks Dr Strangelove endet mit einer schwarzhumorigen Variation darauf. Der an den Rollstuhl gefesselte Dr. Seltsam, der Prophet des nuklearen Armageddon, entwirft seinen Plan für das Überleben der Menschheit nach dem großen Knall und kann in Erwartung des freudigen Ereignisses wieder gehen, als habe Jesus ihn berührt und ein Wunder an ihm gewirkt.

An die Stelle von Skepsis, Selbstkritik und dauernder Korrektur im Lichte neuerer Erkenntnisse ist in The Damned der Glaube an etwas getreten, das ganz sicher kommen wird. Das Gruseligste daran ist, dass Bernard mit seinem Projekt nur Erfolg haben kann, wenn es vorher - ganz biblisch - die Apokalypse gibt. Nach dem Atomkrieg sollen die radioaktiven Kinder aus ihrem Bunker kommen und in einer atomar verseuchten Welt ein neues Menschengeschlecht begründen. Für den Rest der Bevölkerung ist das keine gute Nachricht. Darum muss das Unternehmen unbedingt geheim gehalten werden.

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