Der Ausnahmezustand als neue Normalität

Seite 5: Schwul = pädophil = Kommunist

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Simon überwältigt Major Holland und nimmt ihm den Geigerzähler weg. Im Film wird nun Bernards Geheimnis gelüftet. Der Geigerzähler schlägt aus, wenn Simon sich den Kindern nähert. Simon und Joan beginnt zu dämmern, was mit den Kindern los ist. Simon flüchtet sich in die Hoffnung, dass es die Kleider sein könnten und fordert die Kinder auf, sich auszuziehen. Am nackten Oberkörper eines der Jungen tickt der Geigerzähler noch lauter als zuvor. Das ist nicht sehr realistisch, dafür aber wirkungsvoll.

Den Zensoren vom BBFC fielen zu der Szene, einer der schlimmsten in The Damned, in erster Linie Sex und Perversion ein. "Falls die Kinder wie Heranwachsende aussehen", kommentierte Audrey Field das von ihr begutachtete Drehbuch, "wollen wir jedenfalls von den Mädchen keine Einstellungen von vorne oder von der Seite, nicht in dieser Art von Kontext." Der Kontext ist die atomare Verstrahlung der Kinder, und auch die der Erwachsenen, die nach dem ersten Schock begreifen, was der tickende Geigerzähler für sie bedeutet.

Nicht für das BBFC. Für Frau Field war der Kontext, dass die Volltrottel, die als Publikum für diesen Film in Frage kamen, womöglich auch ins Kino gehen würden, um die knospenden Brüste kleiner Mädchen zu sehen und darin eine sexuelle Befriedigung zu finden. Das musste verhindert werden. Ob zwischen der von den Zensoren entdeckten kommunistischen Propaganda und der Pädophilie ein direkter Zusammenhang besteht, wird in den Akten des BBFC nicht weiter vertieft. Losey dürfte das bekannt vorgekommen sein.

Schwul = pädophil = Kommunist (11 Bilder)

The Damned

In McCarthys Amerika, das er verlassen hatte, galt die mit der Pädophilie in einen Topf geworfene Homosexualität als Indikator für eine kommunistische Gesinnung, und nicht nur das. Weil sich Schwule in einem Staat, der die Homosexualität unter Strafe stellte, verstecken mussten, sie also notgedrungen Erfahrung mit Heimlichtuerei hatten, galten sie als prädestiniert dafür, die fünfte Kolonne Moskaus zu bilden und den Umsturz vorzubereiten. Oft genug ist die Wahrheit von heute der Unsinn von morgen. Zumal bei Maßnahmen zur Sicherheit des Staates ist darum Vorsicht angebracht.

Leider wurde Friedrich Merz nicht zum Kommunismus befragt, als er bei "Bild live" erklärte, nichts gegen einen schwulen Kanzler zu haben, dass für ihn der Spaß aber da aufhöre, wo Pädophile kleine Kinder missbrauchen: "Über die Frage der sexuellen Orientierung, das geht die Öffentlichkeit nichts an. Solange sich das im Rahmen der Gesetze bewegt und solange es nicht Kinder betrifft - an der Stelle ist für mich allerdings eine absolute Grenze erreicht - ist das kein Thema für die öffentliche Diskussion." Wenn Herr Merz nicht mag, könnte sich in diesem Kontext vielleicht Julia Klöckner zum Kommunismus äußern?

Frau Klöckner sprang ihrem Parteifreund bei und wies Unterstellungen zurück, dass dieser die Homosexualität mit der Pädophilie gleichgesetzt habe. Wenn bei Schwulen dieser Eindruck entstand, weil Merz zur Homosexualität die Pädophilie einfiel, als sei das eine nicht mehr tolerable Sonderform davon, sind sie selber schuld. Frau Klöckner ist die Ministerin mit der Pflicht zum Gassigehen. Aus gegebenem Anlass noch ein Formulierungstipp für den bayerischen Ministerpräsidenten: Das mit "die Zügel wieder anziehen" war nicht so geschickt. Wie wäre es mit "an die Leine nehmen", wenn die nächste Rechtsverordnung fällig wird, weil die Untertanen zu viel Auslauf haben?

Wer Verständnis hat muss nichts verstehen

Frau Field sorgte sich umsonst. Als hätte sie ihr Gutachten gelesen, weist Victoria Simon darauf hin, dass die Kinder ihre Uniformen nicht ablegen können. Das schickt sich nicht. Nur die Jungen ziehen ihr Unterhemd aus, dann ist die Aktion beendet. The Damned ist doch kein Film für Pädophile, so wenig wie für Volltrottel. Major Holland sagt, was der Kontext ist: "Die Kinder selbst sind radioaktiv." Simons entgeisterte Frage, was er und Bernard hier machen, beantwortet er mit einem Satz, der zum Standardrepertoire seines Chefs gehört: "Man kann von Ihnen nicht erwarten, dass Sie das verstehen."

Eben. Leuten, die sowieso nichts verstehen, muss man auch nichts erklären. Bernard allerdings ist geschickter als der eher simpel gestrickte, an das Kommandieren gewöhnte Major. Als guter Rhetoriker weiß er, wie hilfreich der Zeitfaktor ist. Die Uhr im Edgecliff Establishment zeigt fünf vor zwölf. In der Krise "schlägt die Stunde der Exekutive" (sehr beliebt auch in der Corona-Pandemie), die rasch handeln muss, um Schlimmeres zu verhüten. Verstehen wird durch Verständnis ersetzt - Verständnis dafür, dass jetzt nicht lange debattiert werden kann (eventuell sogar in einem Parlament, mit Opposition), sondern dass man das auf später verschieben muss, "wenn die Zeit dafür gekommen ist" (Bernard).

Wer Verständnis hat muss nichts verstehen (22 Bilder)

The Damned

Losey führt vor, wie man sich nicht anstellen sollte, wenn man unverständige Leute zur Kooperation (Loyalität, Solidarität) bewegen möchte. Simon will die Kinder aus ihrem Verlies befreien. Holland versucht, ihm Angst zu machen: "Das können Sie nicht tun, sie sind gefährlich." Das ist die Wahrheit, aber ohne irgendeine Begründung kommt der Major damit nicht gegen die Kinder an, die Simon anflehen, sie nach draußen zu bringen, in die Freiheit. Es nützt auch nichts, wenn Holland sein "Das können Sie nicht tun!" wiederholt und - aus Verzweiflung über die Ignoranz dieses Amerikaners, dem nichts erklärt wurde (so wenig wie den Kindern) - den Blick zu Boden senkt.

Losey fasst die Erbärmlichkeit dieser Art von Kommunikation in einem sprechenden Bild zusammen: Bernard sitzt sinnierend vor einem Monitor, auf dem nichts zu sehen ist. Vorher hat er noch seine Quarantäne-Truppe losgeschickt, um die Entflohenen wieder einzufangen. In Erinnerung bleibt die Einstellung, in der die Kinder, geblendet vom Licht der Sonne, aus der Höhle ins Freie stolpern. Shirley Anne Field mag schauspielerisch nicht immer ganz auf der Höhe sein, darf jetzt aber mit der kleinen Mary auf der Klippe sitzen und ihr zeigen, was sie bisher verpasst hat.

"Schau nur", sagt Joan mit Blick auf die Weite des Meeres. "Das ist die Welt." Der Gegenentwurf zu Bernards verengter Perspektive ist es auch. Um Mary die Angst vor der Größe der Welt zu nehmen gibt Joan ihr etwas Kleines, eine Blume. Bevor die Szene in den Kitsch abgleiten kann taucht aus dem Hintergrund einer von Bernards schwarzen Männern im Schutzanzug auf und trägt Mary davon. "Der Schwarze Tod kommt", schreien die Kinder und machen dadurch Freya auf sich aufmerksam, die ihnen so wenig helfen kann wie Sid, der zur Sicherung des Infektionsschutzes niedergeschlagen wird.

Die Kinder werden zurück in den Bunker gebracht. Bei dieser Verschleppungsaktion verrutscht der Rock eines der Mädchen und man sieht die Unterhose. Von Protesten des BBFC ist nichts bekannt. Wahrscheinlich stimmte jetzt der Kontext. Die Staatsmacht hat wieder die Oberhand. "Das sind Kinder, Bernard!", erinnert Freya ihren Ex-Geliebten, der sie ignoriert und Gregory darauf hinweist, dass Henry mit King entkommen ist, in Freyas Jaguar. Das ist eine der vielen feinen Ironien dieses Films.

Henrys Namenspatron, Heinrich VIII., war bekanntlich der König, der sogar den Bruch mit dem Papst in Rom in Kauf nahm und sich mit wechselnden Ehefrauen abmühte, um zur Sicherung der Dynastie einen (männlichen) Thronfolger zu zeugen. Ein bleibender Erfolg war ihm nicht vergönnt. Sein einziger legitimer Sohn starb mit 15 Jahren. Nach dem Tod von Heinrichs Töchtern Mary und Elizabeth (beide ebenfalls in Bernards Kindergruppe vertreten) war die Dynastie der Tudors nicht mehr existent.

In The Damned büchst der kleine Henry mit King aus, der die eigene Schwester begehrt und sich in gewalttätige Ersatzhandlungen flüchtet, um die verbotene Liebe zu Joan zu unterdrücken. Für Bernards Projekt, die Schaffung eines neuen Menschengeschlechts, ist das kein gutes Omen.

Der Mann, der alle Antworten kennt

Simon erkennt in Bernard den Mann wieder, dem er im Hotel Gloucester begegnet ist: "Ich habe Sie schon mal gesehen. Sie sind der Mann, der alles über die Gewalt weiß, stimmt’s? Sie sind der Mann, der alle Antworten kennt, stimmt’s? Warum tun Sie das? Was soll das alles?" Bernards Schweigen bringt Simon in Rage. "Antworten Sie mir!", brüllt er den Staatsdiener an. "Antworten Sie mir endlich!" Stärker als die Dialoge sind die Bilder. Losey zeigt Bernard aus extremer Untersicht. Er steht auf dem (unfruchtbaren) Felsen wie eine der Führerfiguren im Diktatorenkino. Ein Symbol der Repression.

Anstelle einer Antwort gibt Bernard Joan und Simon die Erlaubnis, zu ihrem Boot zu gehen und wegzufahren. Atomar verstrahlt, werden sie nicht mehr lange genug leben, um anderen zu erzählen, was sie in den Katakomben unter dem Edgecliff Establishment gesehen haben. Aus Bernards ursprünglichem Idealismus ist der pure Zynismus geworden. Als Zuschauer hat man kaum Zeit, sich darüber klar zu werden, wie brutal das ist. Durch die Entwicklung dazu gezwungen, muss Bernard sich Freya gegenüber doch noch erklären. Losey und sein Drehbuchautor Evan Jones machen daraus einen Horrortrip durch das geschlossene Denksystem dieses Wissenschaftlers.

Der Mann, der alle Antworten kennt (12 Bilder)

The Damned

Bernard erzählt, was es mit den Kindern auf sich hat und drückt sein Bedauern darüber aus, dass es bisher nicht gelungen ist, die Umstände zu reproduzieren, unter denen sie geboren wurden. Wäre es anders, gibt er unumwunden zu, würde er sofort zur Tat schreiten und weitere Kinder atomar verseuchen, um mehr Versuchskaninchen für sein Projekt zu haben. Das legt die Vermutung nahe, dass irgendwo auf dem Gelände dieser Forschungseinrichtung die Leichen der Probanden zwischengelagert sind, die Bernards bisherige Experimente nicht überlebt haben.

Menschenversuche sind für diesen Staatsdiener kein Tabu, zumal es einen internationalen Wettlauf um "den Schlüssel zum Überleben" (Bernard) gibt, den die Briten zufällig gefunden haben. In der Krise sucht man sein Heil im Nationalismus. Von den reflexartigen "Mein Land zuerst"-Reaktionen auf die Corona-Pandemie ist das nicht allzu weit entfernt, auch wenn es in den Sonntagsreden mancher verantwortlicher Politiker ganz anders klang und Experten mit guten Argumenten zur grenzüberschreitenden Kooperation aufriefen. Das "auf die Wissenschaft hören" war da doch eher selektiv.

Am Schluss seiner Ausführungen zitiert Bernard - auch eher selektiv, die Sanftmütigen lässt er weg - eine der zentralen Stellen der christlichen Heilslehre, die Bergpredigt (Matthäus 5:5). Seine Kinder, sagt er, seien der vergrabene Samen des Lebens. Wenn die Zeit gekommen sei würden sie hinausgehen, um die Erde in Besitz zu nehmen ("inherit the Earth"). Freya ist entsetzt und will nichts mehr davon hören. "Welche Erde, Bernard?", fragt sie. "Welche Erde wirst du ihnen hinterlassen? Nach allem, was der Mensch geschaffen hat und was er noch zu schaffen vor sich hat? Ist das das Ausmaß deines Traumes? Neun eiskalte Kinder in der Asche des Universums freizusetzen?"

Das ist sehr theatralisch, funktioniert aber recht gut, weil Viveca Lindfors die Verzweiflung Freyas glaubhaft über die Rampe bringt und ein Spannungsverhältnis entsteht, indem das Pathos der Künstlerin der unterkühlten Sachlichkeit des Wissenschaftlers gegenübergestellt wird. Bernard ist die Fleisch gewordene Alternativlosigkeit. Der Atomkrieg und die nukleare Verseuchung der Erde sind unvermeidlich, also geht es nur noch darum, sich darauf vorzubereiten. Sein Traum braucht die Apokalypse, weil sein Projekt nur erfolgreich sein kann, wenn vorher die uns bekannte Welt untergeht.

Bernard ist der Agent der Destruktivität und des Repressiven. Den Kindern ist er ein fürsorglicher Vater, aber er behandelt sie wie Objekte und Gefangene. Sein Projekt ist streng geheim, es findet in einer unterirdischen, vor den Blicken der Öffentlichkeit verborgenen Welt der Bunker und Höhlen statt. Freya dagegen, die Vertreterin der Kreativität und des Expressiven, könnte exponierter kaum sein als auf dieser Klippe, auf der sie ihre Kunstwerke schafft. Bernard ist der Meister der Abgeschlossenheit und der Gefängnismauern (auch im Denken), Freya hat sich der Offenheit verschrieben.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.