Der Ausnahmezustand als neue Normalität

Seite 6: Wissenschaft als die neue Religion

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Ein Zitat des Physikers und Friedensforschers Carl Friedrich von Weizsäcker, sehr beliebt bei Verschwörungstheorien zugeneigten Gegnern der Corona-Politik. Bei Demos wird es gern auf Transparenten mitgetragen: "Zum Zweck der Machterhaltung wird man die Weltbevölkerung auf ein Minimum reduzieren. Dies geschieht mittels künstlich erzeugter Krankheiten." Weizsäcker, möchte man als Verschwörungsgläubiger meinen, war ein Prophet. Allerdings kann man sich schwer vorstellen, dass er solche Sätze geschrieben hat, wenn man eines seiner Bücher gelesen hat. Das Zitat ist erfunden. Warum nicht mal ein echtes nehmen?

1961, als Losey The Damned drehte, hatte Weizsäcker soeben eine erste Reihe von Vorlesungen abgeschlossen und mit einer zweiten begonnen, die er von 1959 bis 1961 an der Universität von Glasgow hielt. Im Rahmen der Gifford Lectures beschäftigte er sich mit der Rolle der Wissenschaft im Atomzeitalter. Unter anderen Vorzeichen, heute aber wieder sehr aktuell, zeigte er sich besorgt über eine Entwicklung, die seiner Wahrnehmung nach dazu führte, dass der Glaube an die Stelle des Zweifels und der permanenten Selbstkorrektur trat.

Wissenschaft als die neue Religion (9 Bilder)

The Damned

"Der Glaube an die Wissenschaft", lautet der am häufigsten zitierte Satz, "spielt die Rolle der herrschenden Religion unserer Zeit." Im Vereinigten Königreich wurde das nicht erst mit Erscheinen der Vorlesungen in Buchform (1964 unter dem Titel The Relevance of Science, deutsch als Die Tragweite der Wissenschaft) breit diskutiert, weil die Gifford Lectures ein fester Bestandteil des geistigen Lebens waren und Weizsäcker sich an die Vorgabe des Stifters gehalten hatte, sich einer einfachen, gut verständlichen Sprache zu bedienen. Lord Gifford, ein schottischer Richter, hatte sich Veranstaltungen zur Bildung und Erbauung breiter Schichten der Gesellschaft gewünscht, keinen akademischen Diskurs im Elfenbeinturm.

Egal, ob Losey und Jones die Debatte verfolgt hatten oder nicht, als sie das Drehbuch schrieben: Bernard ist der Wissenschaftler, vor dem Weizsäcker damals warnte. Erst stellt er sein Projekt durch ein Bibelzitat in einen religiösen Zusammenhang, dann fordert er Freya auf, an die unbedingte Richtigkeit seiner Sicht der Dinge zu glauben und sich ihm und seinen Leuten anzuschließen wie einer Sekte oder einem Geheimbund, und schließlich verlangt er von ihr, ein Schweigegelübde abzulegen, weil sie, nun im Besitz seines Geheimnisses, sonst sterben muss wie eine Ketzerin, die sich dem rechten Glauben verweigert.

Freya als Repräsentantin der Offenheit und des Expressiven kann nicht anders, als Bernards Ansinnen zurückzuweisen. Statt seiner Glaubensgemeinschaft beizutreten fordert sie ihn auf, ihr nicht die Zeit zu stehlen, die ihr noch bleibt. Auf der Klippe arbeitet sie weiter an der Skulptur eines ihrer Vogelmänner. Dazu hört man Seevögel und das Rauschen der anbrandenden Wellen. Während Bernard das Leben in einen Bunker sperren will und seinen im Grunde destruktiven Traum vom Neuanfang nach der atomaren Zerstörung träumt, ist Freya Teil der Elemente und bis zum letzten Atemzug kreativ. Die Künstlerin ist eine starke Frauenfigur, wie man sie damals im Kino äußerst selten sah.

Tod einer Künstlerin

Am Ende der Einstellung mischen sich Motorengeräusche in den Klang der Vögel und der Brandung. Der schon sehr kranke King und Henry rasen in Freyas Jaguar in Richtung Weymouth, verfolgt von zwei Helikoptern. Unterwegs werden sie gestoppt. Männer in Schutzanzügen bringen Henry zurück in die Bunkeranlage. King kann nach einem Handgemenge die Fahrt fortsetzen. Eskortiert von einem der Hubschrauber, rast er von der Brücke beim Royal Victoria Hotel in den Tod (vgl. Teil 1). Der Helikopter dreht ab, und wir sehen Simons Boot, die Dolce Vita, aus der Vogelperspektive.

"Wir können nochmal von vorn anfangen", sagt Simon zu Joan. "Wir können zurückgehen an den Anfang." Über ihnen fliegt der Helikopter, der ihr Sterben überwacht. Was den beiden nicht vergönnt ist, zurückzugehen an den Anfang, kann der Film. Wie zu Beginn bringt uns die Kamera auch am Ende vom Meer zurück zum Land. Bernard steht auf Portland Bill, der schnabelartigen Felsformation, und schießt auf Freya, die bis zum letzten Atemzug an ihrer Vogelmann-Skulptur arbeitet. Tödlich getroffen, fällt sie zu Boden. Freyas Sterbeszene endet mit einer Einstellung aus der Vogelperspektive, von einem die Leiche umkreisenden Helikopter aus.

Tod einer Künstlerin (23 Bilder)

The Damned

Kurz vor dem Kinostart erzählte Losey in der Zeitschrift Movie, dass Freya in seiner Fassung von einer anonymen Macht getötet worden sei, ganz unpersönlich. Man habe nur den Hubschrauber gesehen und die aus ihm abgegebenen Schüsse gehört. Die Columbia habe ohne sein Einverständnis und ohne seine Mitwirkung eine nachträglich gedrehte Einstellung mit dem mit einer Pistole bewaffneten Bernard eingefügt, der Freya jetzt tötet. Den Produzenten habe er deshalb angekündigt, jede Kopie mit dem schießenden Bernard, der er habhaft werden könne, höchstpersönlich in Stücke zu reißen.

Auf die amerikanischen Partner der Hammer hatte Losey ohnehin eine Wut, weil er sie dafür verantwortlich machte, dass The Damned erst mit großer Verspätung anlief und so vermarktet wurde (als zweite Hälfte eines Double Feature mit Michael Carreras’ eher langweiligem Psychothriller The Maniac), dass er keine Chance hatte, das von ihm intendierte, nicht auf leicht zu kategorisierende Genrefilme festgelegte Publikum zu erreichen. Die Einstellung mit dem schießenden Bernard sieht tatsächlich so aus, als sei sie nachträglich im Studio gedreht und ziemlich ungeschickt eingefügt worden.

Bernard mit Pistole wirkt wie ein die Flugaufnahme unterbrechender Fremdkörper und wie ein handwerklicher Fehler, der Reginald Mills, Loseys eigens mitgebrachten Cutter, kaum unterlaufen wäre. Andererseits schreibt der gründlich recherchierende Wayne Kinsey in seinem Buch Hammer Films. The Bray Studio Years, dass die Hammer den Hubschrauber wollte, der Freya im Vorbeifliegen erschießt. Losey, so Kinsey, habe erfolgreich bei der Columbia interveniert; die Hammer sei dann gezwungen worden, es so zu lassen, wie Losey es haben wollte, mit Bernard und der Pistole.

Die Evidenz der Bilder spricht mehr für Loseys Version. Das schließt nicht völlig aus, dass doch er es war, der sich ursprünglich für den schießenden Bernard entschied, dass er ihn gegen die Wünsche der Hammer durchsetzte und dass er es sich in der langen Zeit bis zum Kinostart im Mai 1963 anders überlegte. Sehr wahrscheinlich ist es nicht. 1969 drehte er mit Figures in a Landscape einen Film, in dem Hubschrauber mit gesichtslosen Piloten, als Symbol einer entindividualisierten Macht, hinter zwei Männern her sind. Das wird bis zum Schluss konsequent durchgehalten, ohne Rücksicht auf kommerzielle Erwägungen.

Freiheit der Kunst und der eigenen Meinung

Wie auch immer es bei The Damned genau gewesen sein mag: Die sinistren Hubschrauber, mit ihren Besatzungen in schwarzen Schutzanzügen, gehören zu den eindringlichsten Bildern des Films. Das Fliegen, üblicherweise mit Freiheit assoziiert, wird durch sie zum Teil einer Gefängniswelt. Die Helikopter sind Raubvögel, die Jagd auf Abweichler machen, auf Leute, die sich Bernard, dem Hohepriester einer zur Religion gewordenen Wissenschaft, nicht anschließen wollen und den Glauben an seinen Kult verweigern. Der Gegenentwurf ist Freya, die Schöpferin der Vogelmenschen.

Losey besteht im Interview mit Michel Ciment darauf, dass Elisabeth Frinks Mensch-Vogel-Hybriden Wesen ohne funktionstüchtige Flügel sind, deutet aber auch an, dass es nicht nur physische Käfige sind, denen es zu entfliehen gilt, sondern mehr noch solche des Geistes: "Freya, die Künstlerin, repräsentierte die Notwendigkeit und das Recht, wenn man dieses ausüben kann, sich selbst eine Meinung zu bilden, jeden Fall für sich zu beurteilen, was eine Art von Freiheit darstellt." Sie ist bereit, diese Freiheit mit dem Leben zu bezahlen. Das ist bei aller Theatralik dann doch ganz unpathetisch, mehr existentielle Notwendigkeit als Heldentat.

Freiheit der Kunst und der eigenen Meinung (10 Bilder)

The Damned

Was bleibt ist Elisabeth Frinks am Abgrund stehender "Bird Man", den (leeren) Blick hinaus aufs Meer gerichtet: "eine Skulptur", wie es im Drehbuch heißt, "welche die Beseeltheit des Menschen und seine Blindheit zum Ausdruck bringt". Ein Schnitt führt uns nach unten, zum Fuß der Klippe. Wir sehen die Portland-Felsen und hören die Stimmen der Kinder, die zurück in ihrem Quarantäne-Verlies sind und um Hilfe schreien. Die Kamera schwenkt nach rechts, dann folgt eine Einstellung mit den Esplanaden von Weymouth, wieder vom Meer aus gesehen wie am Anfang.

"Hilft uns denn niemand!", schreien die Kinder. "Hilfe! Bitte helft uns!" Niemand von den Urlaubern an der Strandpromenade kriegt es mit, oder vielleicht - das ist das eigentlich Beunruhigende - hat man sich in Weymouth schon so an die Schreie gewöhnt, dass man sie nicht mehr zur Kenntnis nimmt. In der Mitte des Bildes steht der Jubilee Clock Tower auf seinem Portlandsockel, der Uhrturm, bei dem Joan Simon anspricht und in eine Geschichte hineinzieht, die sie beide nicht überleben werden. "Sie werden nie wieder Kontakt zu einem anderen menschlichen Wesen haben", sagt Bernard zu Freya, bevor er die Bildhauerin tötet, weil sie sich seinem Apokalypsekult nicht anschließen will.

"Und wenn sie sterben", so Bernard weiter, "wird das Boot vernichtet." Nicht nur hier wird deutlich, warum Alexander Knox einer von Loseys Lieblingsschauspielern war. Knox sagt solche Sätze mit der Gnadenlosigkeit eines scheinbar der Rationalität verpflichteten Wissenschaftlers, der für sich erkannt hat, was das einzig Wahre und Richtige ist und der keine anderen Meinungen mehr zulässt und keine Zweifel am eingeschlagenen Weg, keine Skepsis, die für die Wissenschaft unentbehrlich ist. Das macht ihn zum Mad Scientist, ohne dass man es gleich erkennen würde.

Knox spielt Bernard mit kontrolliertem Understatement und ohne die Manierismen, die man von solchen Figuren erwartet. Das ist ganz im Sinne des Films, den Losey drehen wollte. Ein exaltierter, am Rande des Nervenzusammenbruchs stehender Wissenschaftler, der wie Frankenstein "It’s alive!", brüllt, wäre in die falsche Geschichte geraten. The Damned zeigt eine Gesellschaft, in der "der Ausnahmezustand zur neuen Normalität geworden" ist, um den Satz von Finanzminister Scholz aus dem März dieses Jahres zu zitieren, der vielfach nachgebetet und zur Zielvorgabe erklärt wurde, statt dass ihm energisch widersprochen worden wäre, weil der Ausnahmezustand das Gegenteil von Normalität ist.

Plötzliche Heimsuchung

Meine alte Penguin-Ausgabe von Daniel Defoes A Journal of the Plague Year enthält eine Einleitung von Anthony Burgess, dem Autor von A Clockwork Orange. Defoes Ziel, so Burgess, sei ein allegorisches: die Pest als Krankheit, mehr noch aber als eine Figur für eine tyrannische Besatzungsmacht. Von Defoe habe H. G. Wells gelernt, wie man eine Stadt unter der Anspannung einer plötzlichen Heimsuchung porträtiert (die Invasion vom Mars in The War of the Worlds).

"Wenn die post-Wellsianische Science Fiction ihre kollektiven Schrecken präsentiert - entweder in Worten oder im Film -, ist Defoe irgendwo im Hintergrund zu finden", schreibt Burgess. "Robinson Crusoe und das Journal sind die Prototypen aller von der Phantasie geschaffenen Werke, die den Menschen zeigen, individuell und kollektiv, wie er mit dem Entsetzlichen und dem Unerwarteten konfrontiert ist." Meistens wird das vom Beginn des Schreckens aus erzählt: die ersten Pesttoten, die Ankunft der Marsianer, das Herannahen des Kometen in Burgess' (sehr komischem) Weltuntergangsroman The End of the World News.

In Bernards Szenario ist es nicht viel anders. Der Atomkrieg wird kommen, und es gilt, sich darauf vorzubereiten. Bernard reklamiert für sich, das Unplanbare planen, die biologische Verwundbarkeit des Menschen überwinden und die Zukunft bestimmen zu können. In Zeiten der allgemeinen Verunsicherung und der Angst vor dem Tod, dessen Existenz man sonst gern verdrängt, ist so etwas sehr verführerisch. Man muss Bernard dabei nicht folgen. Losey tut es nicht. Bei ihm ist die "tyrannische Macht" eine eminent politische und damit ein Fall für Bürgerrechtler, nicht für Virologen und Epidemiologen oder - auf den Film bezogen - Nuklearforscher und Strahlenmediziner.

Einige Kritiker haben an The Damned bemängelt, dass da eine Welt behauptet wird, die unter ständigen Atomunfällen leidet (300 in den vergangenen 15 Jahren, sagt Bernard) und sich auf einen Nuklearkrieg zubewegt, man davon aber gar nichts sieht: keine Übungen des Zivilschutzes, kein Militär auf den Straßen, keine Strahlenopfer, keine mutierten Riesenameisen (Them!) und Riesenspinnen (Tarantula), kein Godzilla, der vor Weymouth aus dem Meer auftaucht. Gerade darin steckt der Horror. The Damned erzählt nicht den Anfang, sondern das Ende der von Burgess skizzierten Geschichte.

Dafür braucht man keine Riesenmonster. Alles hat sich so eingespielt, dass das Leben in einem Urlaubsort wie Weymouth seinen gewohnten Gang gehen kann. Für die Sicherheit ist das von Bernard befehligte Militär zuständig, nicht die Polizei. Dem Straßenbild sieht man das nicht an. Bobbys regeln weiter den Verkehr. Soldaten tragen Zivil, wenn sie das Edgecliff Establishment verlassen. Der Ausnahmezustand ist so sehr zur Normalität geworden, dass man ihn gar nicht mehr bemerkt, solange Menschen nicht von Helikoptern gejagt werden, in denen Männer in Schutzanzügen sitzen. Das ist ein autoritärer Albtraum.

Naturalismus-Anhänger werden einwenden, dass man die Hilfeschreie der Kinder in Weymouth nicht hören kann, weil ihr Gefängnis auf Portland Bill zu weit weg ist und sie hinter dicken Felswänden festgehalten werden. The Damned ist kein naturalistischer Film, sondern politische Science Fiction. Wenn Losey die Totale mit den Esplanaden von Weymouth mit den Hilferufen von Bernards Probanden kombiniert, steht das sinnbildlich für eine Gesellschaft, in der Ungeheuerliches passiert und dieses Ungeheuerliche kaum mehr wahrgenommen wird, weil man sich so sehr daran gewöhnt hat.

Alles im Zeichen der Sicherheit. Die bittere Ironie daran ist, dass diese mutmaßliche Sicherheit, falls Bernards Plan aufgeht, für die gesamte Bevölkerung in den Tod führen wird, mit Ausnahme von neun radioaktiven Kindern, oder wie viele davon noch übrig sein werden, "wenn die Zeit gekommen ist", der Atomkrieg also die Erde verwüstet hat. Besser, man verlässt sich nicht auf den starken Mann, der alle Antworten kennt und überlegt sich vorher, auf welche Wissenschaft man hören will. Es könnte sonst böse ins Auge gehen.

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