Der Ausnahmezustand als neue Normalität

Seite 2: Kunst am Abgrund

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Die Tunnelblick-Wissenschaft als Staatsreligion (mit Bernard als Hohepriester eines hinter Scheinrationalität verborgenen Todeskults) kontrastiert Losey mit der Poesie und mit der Kunst. Joans vor der Kinoauswertung entfernter Wolken-Dialog (siehe Teil 2) wird in der gekürzten Fassung auch deshalb schmerzlich vermisst, weil er die junge Frau genauer charakterisiert und eine Alternative aufzeigt. Joan hat ein sinnliches Verhältnis zu den Dingen, von Simons Boot bis zu Freyas Kunstwerken, die sie zärtlich streichelt, als wolle sie alles darauf abtasten, ob es wirklich existiert und welche Konsistenz es hat.

Da, wo Joan einen anderen Blick auf die Wirklichkeit hat, einen, durch den die fest gefügten Konturen eines geschlossenen Weltbilds unscharf werden (die Felsen der Isle of Portland scheinen sich in den Wolken aufzulösen), sieht Bernard nur eine zukünftige Zerstörung (die Atomkraft wird die Portland-Steine schmelzen lassen). Freya als Vertreterin der bildenden Kunst glaubt nicht an die Unausweichlichkeit eines Atomkriegs und geht hinaus auf die Klippe, um weiter an ihren Skulpturen zu arbeiten, mit denen sie der Welt den Spiegel vorhält. Das ist ihre Art, die Zukunft zu gestalten.

Kunst am Abgrund (10 Bilder)

The Damned

Für Losey ist die Kunst mindestens so systemrelevant wie die Lufthansa oder die TUI (eine Einsicht, die bei der sich nicht nur gegenüber den Geisteswissenschaften durch Ignoranz hervortuenden deutschen Bundesregierung noch nicht wirklich angekommen ist). Durch die räumliche Nähe - Freyas Atelier liegt über den Bunkern mit den festgehaltenen Kindern - stellt der Film eine Verbindung zwischen den Skulpturen und Bernards Projekt her. Es geht um Offenheit und Transparenz. Sie erzähle allen, die ihr zuhören wollen, von dem, was sie für ihre Aufgabe halte, sagt Freya; Bernard hingegen mache aus seiner Aufgabe ein Geheimnis.

Losey illustriert das mit einer Einstellung auf der Klippe. Freya arbeitet dort an einer ihrer Skulpturen. Exponierter könnte sie kaum sein. Wie aus dem Nichts erscheint Captain Gregory. Er trägt Zivil wie immer außerhalb des Edgecliff Establishment. Bernard raunt ihm etwas zu. Wie ein Verschwörer von der Bühne geht Gregory wieder ab. Ein Staatsdiener wie Bernard, kommentiert Freya mit einer der Szene angemessenen Theatralik, sei der einzige Diener, der Geheimnisse vor seinem Herrn habe. Wieder einer dieser Losey-Dialoge mit eingebautem Verfremdungseffekt (Brecht, dessen Leben des Galilei er 1947 inszeniert hatte, war für den Regisseur ein großes Vorbild).

Der Herr des Staatsdieners, das sind wir alle, das Volk. Bernard handelt am Souverän vorbei, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, weil diese nichts davon wissen soll, dass er für die Zeit nach dem Atomkrieg plant, statt ihn abwenden zu wollen. Was aus dem Mangel an Transparenz und einer falsch verstandenen Sicherheit entstehen kann, zeigt Freya mit einer Geste. Mit ausgestrecktem Arm reckt sie ihr Schnitzbeil in die Höhe. Mit diesem Beil kann man wie Freya ein Kunstwerk schaffen, man kann damit ein Kunstwerk zerstören wie King, und in der nach oben gereckten Hand wird es zum Symbol der Diktatur. Das in einem Rutenbündel steckende Beil war das Abzeichen von Mussolinis Faschistischer Partei.

Anhand der Bildkomposition - Freya, Bernard, die gerade in Arbeit befindliche Skulptur dazwischen - kann man sich auch wie Glenn Erickson die Frage stellen, ob sich der Staatsdiener, der wie Dr Strangelove ("Mein Führer! … Nein, Mr. President!") die Bombe umarmt, sich einst in Freya verliebt hat oder in ihre Kunst, weil die verkohlten Körper die Welt nach der nuklearen Katastrophe repräsentieren, um die sich sein ganzes Denken und Handeln dreht. Letzteres wäre ein noch größeres Missverständnis als jenes, das dazu führte, dass Losey für die Hammer diesen Film drehte.

Freya lässt keinen Zweifel daran, dass ihre Kunstwerke eine Mahnung sind, aus der Vergangenheit zu lernen (der Zweite Weltkrieg, Hitler-Deutschland) statt eine Zukunft vorwegzunehmen, wie Bernard sie für unabwendbar hält. Jemand habe ihr einmal gesagt, erzählt sie gleich am Anfang, dass ein Bürokrat, wenn er seinen Job behalten will, alles für streng geheim erklärt. Damit entfällt die Notwendigkeit, Maßnahmen zu begründen und öffentlich zu rechtfertigen. Das ist der Wegbereiter für die Diktatur. Die Kunst, die den Finger in die Wunde legt, ist systemrelevant für die Demokratie.

Das Starke-Bildungsgerechtigkeits-und-Schulbedarfspauschale-2,31-Euro-Teilhabegesetz

Ein Satz aus dem März 2020, von Gesundheitsminister Spahn: "Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen." Warum erst nach der Pandemie, was mit den "paar Monaten" wohl gemeint war? Weil dann "die Zeit gekommen ist"? Nicht in jedem Fall braucht man so lange zu warten. Das Recht auf Bildung musste hinter den Erfordernissen des Infektionsschutzes zurückstehen. Es stand so weit hinten, dass man es gar nicht mehr erkennen konnte, als die Schulen pauschal geschlossen wurden und der Staat den Eltern eine Aufgabe übertrug, die viele nur unter großen Mühen und andere gar nicht schultern konnten.

Von Bildungsgerechtigkeit kann keine Rede sein, wenn diese von der digitalen Teilhabe abhängt und viele ohnehin benachteiligte Kinder kein Laptop haben, um ein einfaches Beispiel zu nehmen. In einem System wie dem deutschen, in dem die Verantwortung immer hin und her geschoben wird und der schulische Erfolg so stark von der sozialen Herkunft abhängt, wird sich die Kluft zwischen Arm und Reich durch die Maßnahmen zum Schutz der (körperlichen) Gesundheit weiter vergrößern. Man braucht keine neueren Forschungsergebnisse abzuwarten, um das zu wissen.

Das Starke-Bildungsgerechtigkeits-und-Schulbedarfspauschale-2,31-Euro-Teilhabegesetz (9 Bilder)

The Damned

Die Politik hat reagiert. Dank "Bildungspaket" und "Starke-Familien-Gesetz" erhielten armutsgefährdete Kinder, die Sozialleistungen beziehen, schon vor Corona pro Schuljahr eine Pauschale von 150 Euro für den "persönlichen Schulbedarf" (Bücher, Schreibmaterial usw.). Den Erfordernissen der neuen Zeit Rechnung tragend, sollen Kinder von sechs bis 13 Jahren nun zusätzliche 2,31 Euro monatlich bekommen, ab 2021 und "für Datenverarbeitungsgeräte sowie System- und Anwendungssoftware". 2,31 Euro monatlich. Wer 14 oder älter ist, geht leer aus.

So steht es in einem Gesetzesentwurf der Bundesregierung. Es sind Vorhaben wie dieses, an denen man merkt, wo in der Corona-Krise die Prioritäten liegen. Bei der Bildungsgerechtigkeit für benachteiligte Kinder erkennbar nicht. Wie wäre es mit einem "Anti-Veralberungs-Gesetz", gern auch einem "Das-gute-Anti-Veralberungsgesetz"? Wer die berechtigten Anliegen hilfsbedürftiger Menschen nicht ernst nimmt wird mit Internetentzug nicht unter drei Monaten bestraft und muss einmal wöchentlich unsägliche Gesetzestexte abschreiben - händisch, weil die Anti-Veralberungs-Ministerin ihr oder sein Datenverarbeitungsgerät weggesperrt hat.

Bernard muss sich nicht mit einem Virus, sondern mit der atomaren Verseuchung herumschlagen, aber auch bei ihm gehören Quarantäne und Fernunterricht zu den Schutzmaßnahmen. Auf den ersten Blick wirkt sein Verhalten vorbildlich. Bildung wird bei Bernard ganz groß geschrieben. Schwer vorstellbar, dass er den Unterricht ausfallen lassen würde. Die Kinder teilen sich die gemeinsamen Lernmaterialien und technischen Hilfsmittel, die Startvoraussetzungen sind für alle gleich. Beim zweiten Blick dämmert es einem, dass Bernard eine radikale Form der sozialen Auslese betreibt. Schauen wir uns das also genauer an.

Königliche neue Welt

"Es war schwer für mich", sagt Losey im Interview mit Michel Ciment, "an die Idee zu glauben, dass der menschliche Organismus selbst radioaktiv sein und überleben konnte. Aber es war eine Gelegenheit, etwas über das britische System der Public Schools zu sagen und über die Kontrolle der Erziehung." Und über das Orwell’sche Doppelsprech, ließe sich hinzufügen. Bernard ist ein public servant (Staatsdiener), der das Licht der Öffentlichkeit (public) scheut und auf seine ganz eigene Weise interpretiert, wie er dieser zu dienen hat. Public Schools sind nur insofern "öffentlich", als - zumindest der Theorie nach - aufgenommen wird, wer die Gebühren bezahlen kann.

Die "öffentlichen" Schulen sind unabhängige, nicht direkt der Kontrolle des Staates unterworfene Privatschulen. Auf Internaten wie Eton oder Harrow lässt die Elite im Vereinigten Königreich ihren Nachwuchs erziehen, um "die erforderlichen Prinzipien der Führerschaft und der Tradition zu fördern und weiterzugeben", wie Dr Strangelove sagen würde. Tatsächlich leitet Bernard sein Projekt zum Überleben der Menschheit wie der nette, bei Bedarf auch strenge Direktor eines solchen Internats. Er bestimmt den Lehrplan und entscheidet, was die Kinder wissen dürfen und was nicht.

Königliche neue Welt (21 Bilder)

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Im Unterricht haben die Kinder gelernt, dass sie untereinander heiraten dürfen, weil sie nicht Bruder und Schwester sind. George beunruhigt bei der morgendlichen Fragestunde das Problem, dass es fünf Jungen und vier Mädchen sind, er oder einer der anderen Jungen also übrig bleiben wird, ohne Partnerin. "Deine Arithmetik ist fehlerfrei", lobt Direktor Bernard, "aber ich glaube nicht, dass du dir darüber schon Gedanken machen musst." Gedanken kann man sich nicht früh genug machen, sagt der Film, und Bernard selbst wird die Kinder bald zum Nachdenken auffordern, dies allerdings nur, wenn es ihm in den Kram passt.

Mit Georges Wortmeldung stellt Losey eine Frage in den Raum, die zu beantworten sein wird, sobald die Kinder im fortpflanzungsfähigen Alter sind: Wird die monogame Zweierbeziehung, mit Trauschein und Ehering, noch eine Zukunft haben, oder wird der Direktor Anleihen bei Heinrich Himmlers Germanenideologie machen, damit möglichst viele Nachkommen für die Herrenrasse gezeugt werden können? Die Antwort gab ein paar Jahre später Stanley Kubrick.

In Dr Strangeloves Zukunftsvision werden nach einer computergestützten Auswertung des Datenbestandes Amerikaner mit besonders erstrebenswertem (arischem) Genmaterial den Atomkrieg in unterirdischen Bergwerken überleben, ihre Nachkommen später an eine dann wieder bewohnbare Oberfläche zurückkehren. Das Verhältnis von Frauen zu Männern müsste 10:1 sein, um den Erfolg zu garantieren, meint Dr Strangelove. Für Spitzenfunktionäre aus Politik und Militär wird ein Sonderkontingent eingerichtet, weil sie sich mit der Weitergabe der "Prinzipien der Führerschaft und der Tradition" am besten auskennen. Der US-Präsident und der Chef des Generalstabs werden also mit in den Bergwerksschacht einfahren.

Losey und Kubrick haben verschiedene, zu ähnlichen Ergebnissen gelangende Herangehensweisen gewählt. Bernard ist keine satirisch zugespitzte Karikatur wie die Generale Buck Turgidson und Jack D. Ripper, sondern ein Idealist, der über Leichen geht. Das macht ihn so bedrohlich. Einstweilen betreibt er eine Art sozialer und bildungspolitischer Eugenik. Die Kinder, die kurz nach ihrer Geburt und nach dem Tod der Mütter in seine Obhut gegeben wurden, sprechen mit dem (erlernten) Akzent der englischen Oberschicht. Das hat mehr mit Gleichschaltung zu tun als mit einer gerechten Gesellschaft ohne Sozialgefälle.

Bernard war es wohl auch, der den Waisen ihre Namen gegeben hat: Victoria, Richard, Henry, Mary, Elizabeth, Charles, Anne, George, William. Das sind die Namen englischer Königinnen und Könige. Der Film spielt damit auf die Legende von König Artus an, der, so die Überlieferung, in einer unterirdischen Höhle schläft und wiederkehren wird, wenn England in größter Not ist (John Cowper Powys, dessen begeisterte Leser Losey und sein Designer Richard Macdonald waren, widmete sich dem Artus-Mythos in A Glastonbury Romance, bevor er Weymouth Sands schrieb).

In diesen Namen kommt die ganze Hybris von Bernard und seinem Projekt zum Ausdruck, und es wird verständlich, warum Losey keine Gelegenheit auslässt, um auf die royale Vergangenheit von Weymouth hinzuweisen, warum er die Drehorte danach auswählte. Für Bernard liegt im Atomkrieg auch eine Chance. Englands Zukunft soll königlich werden. Nach der Vernichtung allen menschlichen Lebens an der Oberfläche, so der Plan, wird eine neue, elitäre Gesellschaft entstehen, indem die Könige und Königinnen aus dem Bunker kommen und sich paaren.

Der Rest der Bevölkerung ist bei diesem Experiment, das alle Zuchtphantasien der Nazis in den Schatten stellt, verzichtbar. Repräsentiert wird das Ganze durch einen honorig wirkenden Wissenschaftler, einen älteren Herrn im Anzug, der von sich sagt, dem Staat zu dienen (nur: welchem Staat?) und dafür sein Privatleben zu opfern. In der Krise auf die Wissenschaft zu hören, sagt der Film, ist zu wenig, wenn sich diese Wissenschaft auf die Ofenrohrperspektive verengt. Es kommt auch auf die Folgen für die Gesellschaft an, und auf die Schäden am politischen System, die man für die Illusion von Sicherheit in Kauf nimmt.

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