Der Ausnahmezustand als neue Normalität

Seite 3: Bangemachen gilt nicht

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Demokratie und Rechtsstaat bleiben in The Damned auf der Strecke. Losey demonstriert den militaristischen Charakter des Unternehmens, ohne viele Worte dafür zu brauchen. Wie kleine Soldatinnen und Soldaten beim Appell laufen die Kinder (in Schuluniform) zu ihren Tischen, wenn die Glocke schrillt. Bernard verlangt Ruhe und Ordnung und dann die Kooperation der Schülerinnen und Schüler. Kooperation ist ein anderes Wort für Denunziation. Die Kinder sollen dem in paternalistischer Besorgnis handelnden Direktor verraten, wie viele Erwachsene sich bei ihnen befinden und sie ausliefern.

Begründung: Die "großen Leute" sind eine Gefahr für sie. Das Beschwören einer Gefahr ist seit jeher ein bewährtes Mittel, um an autoritäre Charaktere zu appellieren und deren Mitwirkung zu erlangen. Bernard wird wohl ein paar Extrastunden in Untertanenkunde einplanen müssen. Die Schülerinnen und Schüler sind unfolgsam. Unter den Tischen reichen sie eine Nachricht weiter, die einer der Jungen aufgeschrieben hat: "Sagt ihm nichts." Realistischerweise sollte das ein kleiner Zettel sein. Losey hat sich für Großbuchstaben auf einem Blatt Papier entschieden.

Bangemachen gilt nicht (16 Bilder)

The Damned

Das Blatt ist an einem Haltegriff befestigt wie das Transparent für eine Demonstration, die Bernard - unter Verweis auf die drohende Gefahr - sofort verbieten würde. Losey will das "Sagt ihm nichts" als politische Botschaft verstanden wissen. Deutlichkeit ist ihm wichtiger als ein dröger Realismus, dem ohnehin nie sein Interesse galt. Dabei ist er nicht das, was man heute einen "Corona-Leugner" nennen würde. Die Kinder sind das Produkt eines Atomunfalls und radioaktiv. Wer ungeschützten Kontakt mit ihnen hat, erkrankt oder stirbt. Das ist keine Erfindung von Bill Gates.

Die Botschaft ist eine andere. "Sie versuchen nur, uns Angst zu machen, Sir", sagt Victoria. "Wir glauben Ihnen nicht!" Losey hat eine extreme Großaufnahme für Victoria reserviert, als visuelles Ausrufezeichen. Das ist gegen jene Form von schwarzer Pädagogik gerichtet, wie sie etwa der österreichische Bundeskanzler an den Tag legte, als er am Beginn der Pandemie davor warnte, dass bald jeder im Familien- und Freundeskreis jemanden kennen werde, der dem Corona-Virus erlegen sei. Von sechsstelligen Opferzahlen in Österreich war die Rede, wenn man nicht entschlossen gegensteuere.

Jede Erziehungswissenschaftlerin kann einem sagen, dass man mit so etwas kurzfristige Erfolge erzielt, langfristig aber ein Problem kriegt, wenn sich das an die Wand gemalte Menetekel nicht mit der Wirklichkeit deckt. Unabhängig von der Frage, wie alternativlos oder nicht die Eingriffe in die Bürger- und Menschenrechte per Rechtsverordnung waren und sind, um das Virus einzudämmen: Nach der ersten Schockstarre des Publikums (auch der sehr braven Journalisten) genügten ein paar einfache Rechenbeispiele, um zu belegen, wie stark Sebastian Kurz übertrieben hatte.

In The Damned ist zu besichtigen, was aus der schwarzen Pädagogik werden kann. Was für Kurz die ritualisierte Pressekonferenz zur Verkündung neuer Schutzmaßnahmen (in Spitzenzeiten täglich von Montag bis Freitag, monatelang, nicht einmal Markus Söder konnte da mithalten), ist für Bernard die vormittägliche Fragestunde, auch mehr eine Verlautbarungsveranstaltung als die Einladung zur Kommunikation. Weil Bernard sie im Unklaren darüber lässt, was aus dem Kaninchen geworden ist, haben die Kinder ihre eigene Theorie gebildet.

Elizabeth spricht aus, was alle denken: "Sie haben das Kaninchen getötet, weil wir es geliebt haben! Sie haben ihm den Schwarzen Tod geschickt, weil wir es geliebt haben!" "Stimmt nicht", sagt Bernard. "Ich versuche, euch zu beschützen." Bisher hat das genügt, jetzt nicht mehr. "Das tun Sie nicht! Das tun Sie nicht!", skandieren die Kinder wie bei einer Protestversammlung gegen die Regierungspolitik. "Das tun Sie nicht!" Es geht nicht darum, ob jemand radioaktiv, an Corona erkrankt oder sonstwie infektiös ist. An keiner Stelle wird bestritten, dass Bernard eine sehr schwierige Aufgabe hat.

Der Protest gilt den Methoden, mit denen er die Aufgabe lösen will. Keine Kooperation mit Leuten, die einem Angst machen wollen, statt aufzuklären und nachvollziehbare Begründungen zu liefern, sagt der Film. In Loseys Fall war es die Angst vor Atomkrieg und kommunistischer Unterwanderung, die vielen seiner amerikanischen Landsleute das Hirn so sehr erweicht hatte, dass sie alles mitmachten, Abweichler denunzierten oder zumindest brav den Mund hielten, während andere zur Tat schritten und Leuten wie ihm die berufliche Existenz zerstörten, ohne Rücksicht auf von der Verfassung garantierte Bürgerrechte.

Sicherheitsindex

The Damned möchte ich all jenen ans Herz legen, die in der Corona-Krise dafür sind, das Demonstrationsrecht aufzuheben - so lange, "bis die Zeit gekommen ist", Verbote wieder zurück zu nehmen -, weil da auch Figuren ihr Geschäft betreiben, die an den Führer glauben, an die jüdische Weltverschwörung oder an das Sperma von Aliens in Medikamenten, oder weil Abstandsregeln und Maskenpflicht ignoriert werden. Wir haben eine Polizei, die dafür da ist, für das Einhalten von Regeln zu sorgen und sicherzustellen, dass demonstriert werden kann, auch wenn Bürger auf die Straße gehen, die das Regierungshandeln ablehnen und möglicherweise einen Sprung in der Schüssel haben.

Wenn plötzlich Reichsbürger, Nazis und seltsame Heilpraktiker die Berichterstattung dominieren, könnte das ein Indiz für das Versagen einer kritischen Öffentlichkeit sein, die sich zu lange in die häusliche Quarantäne zurückgezogen und geschwiegen hat. Warum haben andere europäische Länder den Unterricht für die Kinder sehr viel besser organisiert als wir? Warum gelten für Kulturveranstaltungen strengere Regeln als für Baumärkte und Wirtshäuser? Warum waren die großen Kirchen so lammfromm, als die Religionsfreiheit beschnitten wurde?

Warum wird ein Gesundheitsminister, dessen Haus die Auftragsvergabe bei der heimischen Maskenproduktion vermurkst und dabei sehr viel Geld versenkt hat, als potenzieller Finanzminister gehandelt, ausweislich seines tatkräftigen Agierens in der Krise? Meiner Wahrnehmung nach war die kritische Öffentlichkeit schon mal kritischer als in der Corona-Pandemie. Wer aber auf sachliche Kritik verzichtet, weil man in der Krise zusammenstehen und solidarisch sein muss (nicht solidarisch mit den Menschen in den griechischen Flüchtlingslagern oder den Werten der Europäischen Union, nur solidarisch eben), braucht sich nicht zu wundern, wenn andere den frei gewordenen Platz einnehmen.

Vom bereits erwähnten Werner Heisenberg und seiner Unschärferelation ist zu lernen, dass sich das Beobachtete durch den Akt des Beobachtens verändert. Für Wissenschaftler ist das genauso bedenkenswert wie für Reporter. Fernsehteams müssen nicht reflexartig die Kamera draufhalten, wenn ein Reichsbürger, der weiß, wie man sich medientauglich inszeniert, die Fahne ausrollt. Warum nicht mal die Transparente der Geisteswissenschaftler zeigen, die demonstrieren gehen, um auf ihre schwierige Lage hinzuweisen, und auf die Langzeitfolgen einer Politik, die sich um so etwas nicht auch noch kümmern kann?

Mit jeder Talkshow steigt meine Bewunderung für Politiker und Journalisten, die da sitzen und genau wissen, was das für Leute sind, die auf einer Demo mit tausenden von Teilnehmern waren. Mir ist diese scharfe Beobachtungsgabe versagt geblieben, weshalb ich nur eine sehr heterogene Ansammlung von Menschen sehe, angetrieben von allen möglichen (und manchmal unmöglichen) Beweggründen. Offenbar ist es aber so, dass sich vier Gruppen identifizieren lassen: Rechtsradikale, Linksradikale (im Fernsehen ist man um Ausgewogenheit bemüht), Spinner und nützliche Idioten.

Die nützlichen Idioten lassen sich vor den Karren der Radikalen spannen. Jemandem mit der Vergangenheit von Joseph Losey würde angesichts dieses doch arg schematischen Befundes die Haare zu Berge stehen. Die FBI-Akten der McCarthy-Ära sind voller Informationen über Menschen, die sich auf einer schwarzen Liste wiederfanden, weil sie auf einer Veranstaltung für Bürgerrechte demonstriert hatten, an der auch (tatsächliche oder mutmaßliche) Mitglieder der KP teilgenommen hatten oder, noch schlimmer, die von "Kommunisten" (im McCarthyismus ein sehr dehnbarer Begriff) organisiert worden war. Das Anliegen trat da hinter der Frage zurück, in wessen Nähe man gesehen worden war.

Neun der "Hollywood Ten": Robert Adrian Scott, Edward Dmytryk, Samuel Ornitz, Lester Cole, Herbert Biberman, Albert Maltz, Alvah Bessie, John Howard Lawson und Ring Lardner Jr. / Bild: UCLA Library / public domain

Natürlich ist es ein Unterschied, ob man mit einem faktischen Berufsverbot belegt oder in einer Quasselsendung mit gespieltem Informationsanspruch pauschal als Schwachmat verunglimpft wird, weil man sich um seinen Laden sorgt, um die Zukunft der Kinder oder um die Verfassung der Gesellschaft, und diese Besorgnis auf die Straße trägt, weil man den Eindruck hat, sonst nicht gehört zu werden. Der Mechanismus aber, mit dem man zum Mitläufer abgestempelt wird, scheint mir ganz ähnlich zu sein. Schuldig per Assoziation.

Losey erhielt eine eigene Karteikarte als gefährlicher Subversiver in J. Edgar Hoovers "Sicherheitsindex", nachdem er im Oktober 1947 eine Kundgebung organisiert hatte, bei der Geld zur Unterstützung der 19 vom Ausschuss für unamerikanische Aktivitäten vorgeladenen Filmschaffenden gesammelt wurde (zehn von den 19 wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie sich auf den ersten Zusatzartikel zur Verfassung beriefen und die Aussage verweigerten). Bert Brecht wurde am 30. Oktober vom Ausschuss befragt. Losey begleitete ihn in einem Akt echter Solidarität nach Washington. Zu dem Zeitpunkt gehörte dazu schon viel Mut.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.