Der Fall Peggy

Seite 2: "Warum hätte er eine Tat durch einen Mord verdecken sollen, für die er gar keine Schuld empfinden konnte?"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wie und mit welcher Begründung wurde Herr Kulac für schuldig erklärt?

Christoph Lemmer: Herr Kulac war in dem selben Prozess auch wegen mehrerer sexueller Missbrauchsdelikte an Kindern angeklagt. Von denen ist er freigesprochen worden, weil das Gericht meinte, er wäre nicht schuldfähig. Die Gutachter haben Ulvi bescheinigt, dass sein geistiger Zustand der eines Kindes war, sein Körper und seine Sexualität die eines Erwachsenen. Viele Leute in Lichtenberg wussten zwar, dass er sich ab und zu vor anderen Kindern entblößte, aber das nahm kaum jemand ernst. Darum habe er da kein Schuldbewusstsein entwickeln können, meinten die Gutachter. Im Fall des Mordvorwurfs wurde er als schuldfähig angesehen, weil er laut Gutachtern und Gericht wusste, dass man einen anderen Menschen nicht töten darf.

Schwer zu verdauen ist allerdings das Motiv, das das Gericht ihm für den Mord unterstellte - nämlich den sexuellen Missbrauch von Peggy. Den habe er verdecken wollen. Nur: Warum hätte er eine Tat durch einen Mord verdecken sollen, für die er gar keine Schuld empfinden konnte? Das ist nicht logisch.

"Die Jungen haben es mit der Angst zu tun bekommen"

Wie wurden die Zeugenaussagen behandelt, die der offiziellen Version des Tathergangs widersprachen?

Christoph Lemmer: Entweder man hat ihnen nicht geglaubt, sie ignoriert und auch beim Prozess nicht angehört oder man hat ihre Aussagen verdreht und manipuliert. Zeugen haben uns sehr glaubwürdig geschildert, dass dies unter erheblichem Druck und mit Vorsatz geschehen ist. Besonders eindrücklich haben uns das zwei Schulkameraden von Peggy erzählt: Sie hatten bei den ersten Verhören detailliert ausgesagt, dass sie Peggy noch am Nachmittag, also nach dem von der Polizei angenommenen Zeitpunkt des Mordes, gesehen haben.

Einige Wochen später haben dann beide diese Aussagen wortkarg zurück gezogen. Als wir für das Buch recherchierten, haben wir uns gefragt wie diese Widerrufe zustande gekommen sind und sind deswegen mit den beiden in Kontakt getreten. Sie haben uns dann erzählt, die Polizei habe sie jeweils einzeln vernommen und behauptet, der andere hätte die Beobachtung widerrufen.

Daraufhin haben es die Jungen mit der Angst bekommen und angegeben, dass ihre Aussagen frei erfunden gewesen wären. Beide sagen heute klipp und klar, dass sie Peggy sehr wohl am Nachmittag gesehen haben und sie ihre Aussagen nur auf Druck der Beamten zurückgezogen haben.

Sechs Jahre nach dem Urteil hat der V-Mann, dem Ulvi in der Psychiatrie den Mord gebeichtet haben soll, seine Aussage widerrufen. Warum hat er das getan?

Christoph Lemmer: Er leidet an einem Tumor und wollte vor seinen Ableben reinen Tisch machen. Jedenfalls war das seine Begründung. Er hat sich einen Termin bei einem Richter in Bayreuth geben lassen und da an Eides statt erklärt, dass Ulvi Kulac ihm niemals den Mord gestanden habe. Er habe sich das ausgedacht und frei erfunden. Das hat er auch schriftlich niedergelegt, wir zitieren aus diesem Dokument. Den Zeitpunkt für diese Erklärung hatte er so ausgewählt, dass er nicht mehr wegen Falschaussage belangt werden konnte. Da war gerade die Verjährung eingetreten.

Die Einmischung der Politik

Und wie hat die Justiz darauf reagiert?

Christoph Lemmer: Gar nicht. Später hat sie im Laufe der zunehmend kritischen Berichterstattung zum Fall Peggy behauptet, sie hätte davon nichts gewusst. Das ist natürlich absurd, wenn die Bayreuther Justiz so etwas sagt, wo doch diese Erklärung vor einem Bayreuther Richter abgegeben wurde. Ich habe letztes Jahr im März schriftlich bei der Staatsanwaltschaft angefragt, was man zu diesem Widerruf mitzuteilen hätte und die Antwort war, man wüsste davon nichts und gebe hierzu auch keine Auskunft.

Dass sich die Politik in die Ermittlungsarbeit einmischt ist doch relativ ungewöhnlich. Oder passiert das in Bayern öfters?

Christoph Lemmer: Erst einmal: Die Politik hat sich gar nicht in die Ermittlungsarbeit einzumischen. Die Staatsregierung gehört zur zweiten und die Justiz zur dritten Gewalt. Die Exekutive mag sich um Personalfragen, Budget, Organisation, etcetera kümmern, aber nicht um die Verfolgung von Straftätern. Meiner Meinung gibt es aber seit dem Fall Mollath ein Indiz dafür, dass sich die Politik eben doch in die Strafermittlungsbelange einmischt.

Die Justizministerin hat nämlich bei der Generalstaatsanwaltschaft in Nürnberg ein Wiederaufnahmeverfahren für den Fall Mollath bestellt. Das ist aber nicht die Aufgabe der Justizministerin, sondern der Justiz selber. Da aber dieser Fall als Skandal in der Öffentlichkeit diskutiert wurde und sich Ministerpräsident Seehofer daran störte und sich vernehmlich räusperte, hat wohl aus diesem Grund die Justizministerin eingegriffen - jedenfalls sieht es so aus, als wäre es so.

Können Sie eine Dunkelziffer nennen, wie oft dies in Bayern geschieht?

Christoph Lemmer: Ehrlich gesagt nein. Ich staune nur über die vielen Fälle gerade in Bayern, in denen Gerichte immer nach bestimmten Schemata ihre Urteile fällen: Es gibt einen Mord, aber keine Leiche und keinen Beweis, aber einen Geständnis und hinterher lebenslange Haftstrafen. Dies führe ich auf eine gewisse Systematik zurück, die mit politischem Einfluss zu tun hat. Letztlich ist ja auch die Einführung der Reid-Methode auf politischen Einfluss zurückzuführen, denn es war das Innenministerium, das mit der Firma Reid verhandelte.

Bei vielen dieser Fälle werden Menschen, die geistig nicht auf der Höhe sind als Hauptverdächtige präsentiert...

Christoph Lemmer: Das ist ja auch praktisch, weil sie sich nicht so gut wehren können. Sie kennen häufig ihre Rechte nicht genau, haben wenig Geld und sind hoffnungslos überfordert, wenn sie in die Fänge von speziell geschulten Ermittlern geraten, die offenbar skrupellos genug sind, diesen Menschen unter allen Umständen ein Geständnis herauszupressen.

Das krasseste Beispiel in dieser Richtung war der Todesfall des Bauern Rudi Rupp in Neuburg bei der Donau, wo die Familie angeklagt und zwei Angehörige zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurden. Auch hier gab es keine Leiche, dafür aber Geständnisse, die nicht einmal zueinander passten. Der Familie wurde vorgeworfen, die Leiche mal an Schweine, mal an Hunde verfüttert zu haben, worauf der Richter ein lebenslängliches Urteil strickte.

Nachdem die Leiche am Stück aus der Donau herausgezogen wurde und klar war, dass das Urteil so nicht stimmen konnte, hat es trotzdem zwei Anläufe gebraucht, um eine Wiederaufnahme in Gang zu setzen.

Klischeetäter

Sehen Sie Parallelen im "Fall Peggy" zu den Link auf http://www.heise.de/tp/artikel/36/36006/1.html? Und können Sie sich vorstellen, dass beim Link auf http://www.heise.de/tp/artikel/33/33015/1.html auf ähnliche Art und Weise ermittelt wurde?

Christoph Lemmer: Um mit Letzterem anzufangen: Beim Oktoberfestattentat ist das schwer zu sagen. Dubios ist allerdings, dass der Attentäter eben kein klassischer Einzelgänger war, sondern in einer rechtsextremen Organisation, nämlich der Wehrsportgruppe Hoffmann, agierte. Und was davon zu halten ist, dass da womöglich Geheimdienste und diese sagenumwobenen Gladio-Hintergrundtruppen beteiligt gewesen sein sollen, kann man im Moment einfach noch nicht richtig einschätzen.

Sehr viel deutlicher werden die Parallelen beim NSU-Fall. Das fängt damit an, dass der Chefermittler Wolfgang Geier in beiden Fällen derselbe war. Weiter wurde beide Male mit unhaltbaren Tathergangshypothesen gearbeitet. Außerdem wurden zweimal Klischeetäter gesucht: Im NSU-Fall war das bequemste Klischee, dass es sich dabei um türkische Mafiakämpfe oder etwas ähnliches gehandelt haben muss, wobei die Opfer noch einmal zusätzlich kriminalisiert worden sind.

Im Fall Peggy hatte man als ersten Verdächtigen einen Türken und als zweiten Verdächtigen immerhin einen Halbtürken. Ulvi Kulac hat ja einen türkischen Vater. Außerdem schaut er nicht ansprechend aus, er ist groß, ein wenig plump und spricht nicht elegant. Möglicherweise lag das Kalkül darin, ihn gut als unsympathischen Tätertypus verkaufen zu können.

Das Dumme war allerdings, dass das Volk in Lichtenberg ihn nicht als Täter sehen wollte. Das sehe ich durchaus positiv. Die normalen Leute sind offenbar gar nicht so eine rachsüchtige Meute, wie wir manchmal glauben. Im Gegenteil: Statt nach Lynchjustiz zu rufen werfen sie in diesem Fall den Behörden Lynchjustiz vor.

Wie wird es Ihrer Einschätzung nach mit dem Fall weiter gehen?

Christoph Lemmer: Der Antrag auf Wiederaufnahme wurde zwar gestellt, aber der zuständige Richter hat bereits mitgeteilt, dass er dieses Jahr darauf nicht mehr reagieren wird. Ich vermute, es wird sehr lange dauern, bis eine Entscheidung fällt.

Last but not least: Sie haben bei Ihren Recherchen einen eigenen Verdächtigen entdeckt. Um wem handelt es sich?

Christoph Lemmer: Wir haben bei unseren Recherchen die Ermittlungsakten sehr aufwändig durchforstet und festgestellt, dass die SoKo 2 noch einen dritten Verdächtigen in petto hatte. Bei diesem Mann handelt es sich um einen inzwischen wegen eines anderen Falles verurteilten Pädophilen. Dieser Mann war in Peggy regelrecht verschossen, sie aber nicht in ihn.

Die Ermittlungen gegen diesen Mann hat die Polizei einfach fallen lassen, nachdem das Geständnis von Ulvi Kulac vorlag, und das war womöglich der entscheidende Fehler. Hätte sich herausgestellt, dass er mit Peggys Verschwinden zu tun hatte und hätte man ihn dafür eingesperrt, dann hätte er später kein anderes Kind mehr missbrauchen können.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.