Der König von Deutschland spricht wieder zu uns

Seite 2: Gute Bürger machen alles mit und dürfen außerdem eine Meinung haben

Sicher wird Frank-Walter Steinmeier in seiner Weihnachtsrede nicht so ellenlang über den "Epochenbruch", die drohende russische "Schreckensherrschaft" und die "Zerreißprobe" für "uns Deutsche" sprechen, wie er es Ende Oktober tat. Ebenfalls wahrscheinlich, dass er sich nicht bei den Pflegekräften für ihren Einsatz während der Corona-Pandemie bedankt – wie er es noch 2020 tat. Das kam ja schon ein Jahr später nicht mehr vor.

Wäre auch irgendwie seltsam, angesichts der weiter bestehenden Überlastung und schlechten Bezahlung in der Pflege. Ein einmaliges präsidiales Schulterklopfen kommt halt billiger als dauerhaftes Aufstocken von Personal und Gehalt.

Es geht eben um das Fest der Liebe, da muss das Zusammensein in den Vordergrund rücken, nicht Gegensätze. Anzunehmen ist deshalb, dass er den zweiten Teil seiner damaligen Ausführungen hervorhebt, der auch den Titel abgab: "Alles stärken, was uns verbindet."

Der Bundespräsident sorgt sich nämlich um die Demokratie und den Zusammenhalt in seinem Volk. Dafür bemüht er das Ideal eines Bürgers: Der macht alles von ihm Verlangte mit, verteidigt seine Herrschaft – aber mit ganz eigener Meinung! Die ist folgenlos und soll das bitteschön auch bleiben. Wofür hat man schließlich eine Regierung und den ganzen Staatsapparat? Die haben schließlich die einzige "Meinung", die zählt.

Widerstandskräftige Bürger treten ein für ihre Meinungen, äußern ihre Sorgen – aber sie lassen sich nicht vereinnahmen von denen, die unsere Demokratie attackieren (…) Widerstandskräftige Bürger fordern Freiraum für ihre eigene Art zu leben – aber vergessen nicht, wie sehr wir alle auf andere angewiesen sind.

Frank-Walter Steinmeier

Gegensätze? Einfach mehr an Deutschland denken und lieb sein!

Der Herr Bundespräsident weiß hervorragend um die Versuchungen, denen seine Bürger erliegen könnten. Er spricht daher ganz offen von Gegensätzen: "Jung und Alt", "Ost und West", "Stadt und Land", "Reich und Arm"

Am Weihnachtstag wird er wahrscheinlich darauf nicht so herumreiten, so wie zwei Monate zuvor. Da wird er noch mehr das Versöhnende hervorkehren: Wie lieb doch der Großvater die Enkel hat, auch wenn die sich auf die Straße kleben und ihm vorwerfen, das Klima kaputtgemacht zu haben. Und die Jungen sollten schon ein wenig Respekt haben vor der Lebensleistung der Alten, gell!

Dass bereits nach 32 Jahren die Lebensverhältnisse im deutschen Osten so sind wie im Westen, ist natürlich ein wenig vermessen. Aber es geht voran – jetzt gibt es dort sogar Firmen, die Halbleiter und Elektroautos herstellen. Das wärmt die vergessen geglaubte Ossi-Seele!

Ein wenig mehr Land in der Stadt und Stadt im Land, das muss doch gehen, liebe Landsleute. Also habt Euch einfach alle lieb, egal, ob ihr im Anwesen hinter dem Dorf lebt oder in Berlin-Marzahn.

Reiche und Arme wird es natürlich immer geben. Wichtig ist der Respekt, dass selbst der Mensch ohne Geld etwas wert ist, irgendwie. Und wenn er auch nur als Wähler taugt und sonst nicht weiter negativ auffällt.

Umgekehrt sollte der aber auch nicht neidisch sein auf den Reichtum der oberen Zehntausend – das haben die sich schließlich mühsam durch ehrliche Ausbeutung verdient und damit Deutschland, also uns allen sozusagen, den nötigen wirtschaftlichen Erfolg beschert.

Zum Schluss wird Frank-Walter Steinmeier vielleicht noch seine Lieblingsidee aufwärmen: die "soziale Pflichtzeit".

Eine solche Pflichtzeit braucht kein ganzes Jahr zu dauern, sie kann auch kürzer sein oder auf mehrere Lebensabschnitte verteilt werden. Man könnte den Dienst in sozialen Einrichtungen, in der Flüchtlingshilfe, in der Umwelt- und Klimaarbeit, im Katastrophenschutz oder auch bei der Bundeswehr leisten.

Frank-Walter Steinmeier, Rede am 8. November 2022

Damit soll der von ihm beschworene nötige, aber derzeit zu wünschen übrig lassende Zusammenhalt in der Gesellschaft gestärkt werden. Auf Überzeugung und Freiwilligkeit will er sich offenbar nicht verlassen, da kennt er seine deutschen Pappenheimer. Es sollte schon verpflichtend sein – ein kleiner Widerspruch zu seinem Credo, dass doch eigentlich "wir alle" guten Deutschen uns als Teil einer einigen Nation sehen. Darauf will er sich dann doch nicht verlassen, sondern vorsichtshalber den staatlichen Zwang einsetzen.

Die Idee kam bisher in der Öffentlichkeit nicht besonders gut an, und von den Parteien wurde sie ebenfalls nicht prominent unterstützt. Wir haben doch schon den "Bundesfreiwilligendienst" – und außerdem glücklich den karrierebremsenden Wehr- und Zivildienst hinter uns gebracht. Und was erlaubt sich eigentlich der Bundespräsident, einen solchen konkreten Vorschlag zu machen. Das ist doch gar nicht seine Aufgabe!

Für eine glanzvolle Zukunft: Deutschland über alles in der Welt

Auf positivere Resonanz traf die präsidiale Vision der nationalen Zukunft, wie Steinmeier sie am 28. Oktober vortrug und er sie womöglich bei seiner Weihnachtsansprache wiederholen wird. Kunststück, sie fasst das zusammen, wie auch Kanzler, Kabinett und sonstige Kandidaten ihren Staat am liebsten sehen:

Wir bewahren unsere Freiheit, unsere Demokratie. Wir machen Deutschland zu einer neuen Industrienation – technologisch führend, klimaverantwortlich, in der Mitte Europas. Vernetzt, aber weniger verwundbar. Wehrhaft, aber nicht kriegerisch. Ein offenes, freundliches Land mit mehr und neuen internationalen Partnern.

Frank-Walter Steinmeier

In etwas deutlicheren Worten: Die deutschen Politiker werden mit aller Gewalt ihr System verteidigen – die Freiheit, sich mit Profit oder Lohn durchs Leben schlagen zu müssen und die Freiheit, alle vier Jahre unter ihnen die nächsten Herrschaftsfiguren wählen zu dürfen. Natürlich muss Deutschland konkurrierende Staaten weit hinter sich und entsprechend alt aussehen lassen mithilfe seiner überragenden Technik "Made in Germany".

Die wird das Land selbstverständlich auch beim Klimaschutz zu weltweit besten Geschäften verhelfen. Das Ganze mitten in der Europäischen Union, also als Staat, der selbstverständlich am meisten von diesem Bündnis profitiert. Lieferketten werden verkürzt beziehungsweise umgestellt auf zahlreichere, deutsche Sicherheitsbedürfnisse besser erfüllende Lieferländer.

Die Bundeswehr wird endlich wieder auch einen Krieg in Europa gewinnen können und überall in der Welt die deutschen Interessen mit eindrucksvoller Rüstung vertreten – aber Streit nur dort anzetteln, wo es wirklich sein muss. Dabei ist Deutschland ganz freundlich zu allen Staaten, die sich dieses Programm gefallen lassen.

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