Der Militärbischof und der gerechte Krieg

Seite 4: Die Leerstelle: Gewaltfreiheit und gerechter Frieden

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Bereits 1990 hat die Ökumenische Weltversammlung von Seoul die nach 1945 erfolgte weltkirchliche Ächtung des Krieges konkretisiert durch ihr Grundsatzvotum für aktive Gewaltfreiheit. Aufgrund seines Irlands-Friedenseinsatzes in jungen Jahren wird Sigurd Rink mit dem Lebenswerk der weltweit engagierten Friedensnobelpreisträgerin Mairead Corrigan-Maguire vertraut sein.

Sie hat uns 2016 auf der Internationalen katholischen Konferenz "Nonviolence and Just Peace" im Einklang mit den Erfahrungen aller aus "Krisengebieten" angereisten Teilnehmer den Ausgangspunkt jeder realistischen Friedensarbeit auf dem Globus so zugesprochen: "Violence doesn’t work!" Das Buch "Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict" von Erica Chenoweth und Maria J. Stephan gehört zu jenen Studien, die aufzeigen, wie erfolgreich aktive Gewaltfreiheit im Gegensatz zu militärischen Abenteuern ist.

Der Papst hat 2017 zu einem durchgreifend neuen Politikstil der Gewaltfreiheit aufgerufen. Christen in der Badischen Landeskirche wollen die herrschende Untätigkeit nicht länger ertragen und legen konkrete Vorschläge - nebst Zeitplan - vor, wie der Umstieg auf Friedenspolitik gelingen kann. 2019 verständigen sich die christlichen Friedensbewegungen unter dem Leitmotiv "Friedensklima" mit der jungen Generation, die unter Beifall der gesamten Wissenschaftselite kompetenter als die Spitzen der etablierten Politik die "Klimakrise" beleuchtet und nunmehr sieht, dass die Kriegsapparatur alle Prozesse zum Guten hin blockiert … Von all dem findet man im Buchessay von Sigurd Rink nichts.

So kann darin das ewig alte bzw. ewig neue Bild konstruiert werden, der Pazifismus sei eine gesinnungsethische "Außenseiterposition", die "sich aus allem heraushalten" mag, "keine Verantwortung übernehmen und sich nicht die Hände schmutzig machen" muss und "gleichzeitig das Treiben der anderen mit dem moralisch reinen Blick der Unbeteiligten" verurteilt - auf Deutsch übersetzt: Drückeberger. Als Domäne der gewaltfreien Christinnen und Christen erscheinen die Bespiegelung des eigenen "Gutseins" und das Nichtstun, welches sich nicht dafür einsetzen will, "dass die Erde ein bisschen weniger Hölle ist".

Sigurd Rink schreibt freilich selbst: "Gewalt ist die allerschlechteste Antwort auf einen Konflikt." Gegen die Position, dass Kriegsgewalt noch nie eine annehmbare Antwort und taugliche Lösung war, gibt es auch bei ihm keine empirischen Argumente.

Vor drei Jahrzehnten kam es in Europa zu einer Revolution, die den "Kalten Krieg" beendete und bei der kein einziger Schuss abgefeuert wurde. Alle Türen standen über Nacht weit auf, um eine "Friedensdividende" einzufahren und den Vorsatz der UN-Charta von 1945 in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen - den noch nicht Geborenen - endlich wahr werden zu lassen. Im Handumdrehen diktierte jedoch eine ultimativ hochgerüstete Supermacht ihre Vorgabe, die Neue Weltordnung werde eine Ära der Militärinterventionen sein. Die UNO sollte klein gehalten, gegängelt und verächtlich gemacht werden.

Das Buch des Militärbischofs bewegt sich - statt an das europäische Wunder der Gewaltfreiheit und die Chance für einen neuen Zivilisationskurs im Jahr 1990 anzuknüpfen - leider noch immer auf diesem Plateau.

Ich halte das für grundfalsch, zumal Sigurd Rink eben kein einziges Interventionsbeispiel in seinem Essay anführen kann, das gemessen am Anspruch und vorgeblichen Zielen der Weltordner als "erfolgreich" bezeichnet werden kann.

Martin Luthers altruistischer "Notwehrkrieg der Nächstenliebe" ist in unserer Welt nirgendwo ansichtig. Der militärische Heilsglaube stellt - wie gehabt - unentwegt seinen Bankrott unter Beweis. Deshalb votiert die Christenheit heute - mit Ausnahme der nationalreligiösen Kulturchristen und Fundamentalisten - dafür, die geistigen, seelischen, kulturellen, wissenschaftlichen, technologischen und materiellen Reichtümer unserer Menschenwelt diesem Komplex vollständig vorzuenthalten, stattdessen aber jenen Strategien einer gewaltfreien und solidarischen Verhinderung bzw. Lösung von Krisen zuzuführen, die nachweislich funktionieren.

Weitere auffällige Leerstellen

Der "Krieg der Zukunft" infolge der seit Jahrzehnten unaufhörlich anschwellenden "Revolution in military affairs" wird von Sigurd Rink kritisch gesehen. Die extralegalen Hinrichtungen durch bewaffnete - wohl sehr oft von Deutschland aus gesteuerte - US-Drohnen bewertet er als kontraproduktiv, den Einsatz autonom agierender Waffensysteme ("künstliche Intelligenz") lehnt er ab.

Wenn die Weltgesellschaft dem Rad nicht in die Speichen greift, werden die "autonomen Systeme" freilich kaum noch aufzuhalten sein. Was in Rinks Buch nicht zum Tragen kommt, ist ein ausgeprägtes Bewusstsein für die totalitären Potenzen moderner Kriegstechnologien, die schon in naher Zukunft "multilaterale" - also demokratische, kommunikative und kooperative - Prozesse auf dem Globus schier unmöglich machen könnten.

Aus dem Drama der Aufkündigung des INF-Vertrages 2019 schließt der Verfasser, "dass Atomwaffen als ultimatives Abschreckungsmittel noch immer nicht ausgedient haben, doch technologisch sind sie kaum mehr zeitgemäß". Diese lapidare Abhandlung des Themas kommt einer Befürwortung oder zumindest weiteren Duldung der atomaren Bewaffnung gleich.

Dem Militärbischof dürfte aber kaum verborgen sein, dass derzeit an "zeitgemäßen" - und insbesondere auch leichter einsetzbaren - Nuklearwaffen gearbeitet wird und hierbei im Rahmen eines neu aufgelegten atomaren Wettrüstens Kosten in astronomischer Höhe anstehen.

Rein gar nichts wird im Buch des Militärbischofs ausgeführt zur neuen Qualität der Ächtung schon der Infrastruktur atomarer Massenvernichtung auf Ebene der UNO und im weltkirchlichen Diskurs, zum skandalösen Agieren der deutschen Bundesregierung im Sinne der Atombombenbesitzer (und der eigenen völkerrechtswidrigen "Teilhabe" an der Bombe), zur zivil-militärischen Zusammenarbeit in der Atomindustrie (Gronau), zum Fortdauern der NATO-Erstschlagoption, zur Nuclear Posture Review (USA 2018) und zu den in Deutschland stationierten Atomwaffen, für die Deutschland neue Flugzeuge beschaffen will und die im Ernstfall von Soldaten bedient werden, für deren Seelenheil der Militärbischof Verantwortung trägt.

Sollten die Kirchen hierzulande - eingedenk der lästerlichen Bomben-Apologien von deutschen Staatskatholiken und Staatsprotestanten im 20. Jahrhundert - jetzt nicht endlich eintreten in jenen Kreis der Ökumene, der dem Atomgott ohne Hintertüren widersagt? Ganz ausgespart ist im Buch ebenfalls der rüstungsindustrielle Komplex Deutschlands, der im Weltvergleich einen Spitzenplatz einnimmt, seit Jahrzehnten Kriegsgüter exportiert, die dem Unfrieden in aller Welt dienen, und nicht zuletzt Voraussetzung dafür ist, durch Waffenlieferungen (anstelle von Soldatenentsendungen) deutschen Einfluss in fernen Ländern zu sichern.

Der u.a. von den USA unterstützte Krieg einer von Saudi-Arabien angeführten Militärallianz im Jemen hat eine der größten "humanitären Katastrophen" der Gegenwart herbeigeführt. (Dies spielt im deutschen Mediengefüge kaum eine Rolle. Im Buch von Sigurd Rink werden dem Schauplatz Jemen fünf Wörter gewidmet.) Erst aufgrund eines Beschlusses des italienischen Parlaments kann eine Tochter des deutschen Rüstungskonzerns Rheinmetall, dessen Kriegsprofite stetig steigen, seit Sommer 2019 keine Mordbomben mehr für den Einsatz im Jemen liefern.

Inzwischen gehört es gleichsam zur Staatsräson, dass die eigene Militärdoktrin mit der Sicherung geostrategischer und geo-ökonomischer Machtinteressen, mit Rohstoffsicherung, mit freien Märkten, Meeren und Handelswegen sowie mit der Abwehr(!) von Flüchtlingen aus Elendsregionen zu tun hat.

Spätestens ab 2006 haben tausende Christinnen und Christen von unten die großen Kirchen in einer Ökumenischen Erklärung aufgerufen, eine solche Militarisierung der deutschen Politik öffentlich anzuklagen. In ihrem Schreiben vom 1. September 2015 fordern die evangelischen und katholischen Friedensorganisationen gemeinsam alle Kirchenleitungen im Lande zu einer öffentlichen Klarstellung darüber auf, dass Zielvorgaben zur geostrategischen und ökonomischen Interessenssicherung in Militärplanungen schon mit dem Minimalkonsens der ökumenischen Friedensethik unvereinbar sind. Der Komplex der Militärdoktrin ist zentral für die von Sigurd Rink bearbeitete Frage "Können Kriege gerecht sein?", doch er schweigt sich in seinem Buch hartnäckig über dieses Thema aus.