Der Überfluss an Unnötigem und Schädlichem
Seite 4: Das "gute Leben" und die Minimum-Moral
Die Privatisierung aller ethischen Fragen (die gesellschaftliche Lebensführung und das "gute Leben" betreffend), das Primat des juristisch Richtigen vor dem Guten und die klientelistische Aufsplitterung der politischen Öffentlichkeit in rivalisierende Sonderinteressen und -gruppen stehen in Wechselwirkung.
Wo Gesellschaft kein gemeinsames Projekt ist, sondern neutrale Rahmenbedingungen setzt für untereinander indifferente bis inkompatible private Interessen, dort nehmen kollektive Güter Schaden, die nicht in der Summierung individueller Güter aufgehen. Die "verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs" gelten dem Individuum "als bloßes Mittel für seine Privatzwecke, als äußere Notwendigkeit".34 Vor diesem Hintergrund erscheinen das Gemeinwesen und die kollektiven Güter nurmehr als Kostenfaktor und als "ärgerliche Tatsache" (Dahrendorf).
Anwälte befördern bzw. beschützen die Bürger in ihrem Drang, zulasten ihrer Mitmenschen Umverteilungen zu praktizieren, die sich im legalen Rahmen bewegen und diesen dafür so flexibel auslegen wie eben möglich. Darin findet die Artistik des Advokaten seine wahre Leidenschaft. Advokaten gelten so schon Heinrich Heine als "Bratenwender der Gesetze, die so lange die Gesetze wenden und anwenden, bis ein Braten für sie abfällt."
Rechtsanwälte sind nicht nur Diener am Recht, sondern auch Verdiener am Unrecht. Und Georg Christoph Lichtenberg formuliert die für Advokaten und ihre Mandanten einträgliche Sophistik in einem Aphorismus: "In England wird ein Mann der Bigamie wegen angeklagt, und von seinem Advokaten dadurch gerettet, dass er bewies, sein Klient habe drei Weiber." Rechtsanwälte gelten als Spezialisten im Spalten fremder Haare.
Die Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität und das Nichtzustandekommen eines übergreifenden, die verschiedenen Akteure vereinenden gesellschaftlichen Inhalts legen eine Orientierung nahe, die sich bloß an das Erlaubte hält. Und als erlaubt gilt dann, was nicht verboten ist. Unterstützt wird derart ein Verhalten, das "sich grundsätzlich an der untersten möglichen Grenze des Erlaubten orientiert, ein Verhalten, bei dem geradezu die Grenze als Grenze gesucht wird".35
Der Schlaue aber nutzt alle seine Vorteile
Als schlau gilt, wer "sich wohlüberlegt auf dem gesellschaftlich eben noch tragbaren untersten Niveau" bewegt "im Rahmen einer "Minimum-Moral".3637 Und diese Grenz- oder Minimum-Moral wird um so wahrscheinlicher, desto größer die ökonomischen Prämien ausfallen, die mit ihr zu erreichen sind. Die Minimum-Moral stellt einen Wettbewerbsvorteil dar.
Die "Moral der am wenigsten durch moralische Hemmungen im Konkurrenzkampf behinderten Sozialschicht (hat) … unter übrigens gleichen Umständen die stärksten Erfolgsaussichten".38 Der ökonomische Erfolg durch Minimum-Moral legt eine Negativspirale nahe und die Angleichung auf unterem Niveau. Insofern ist der "Mensch der Grenzmoral" gefährlicher als der Verbrecher.
Denn der Verbrecher stellt sich offen gegen das Gesetz; der ‚Schlaue’ aber nutzt alle seine Vorteile und gehorcht nur dem nackten Zwang, unter höhnischer Verachtung jedes höheren Motivs.
Wer sich die hier nicht mit Anspruch auf Vollständigkeit39 genannten Varianten problematischer Arbeitsinhalte und ihren Umfang vergegenwärtigt, wird für den Rückbau bzw. die Einsparung von Arbeiten und Arbeitsplätzen eintreten, die ökologisch, sozial bzw. für die Entwicklung der Individuen schädlich sind.