Die Deutschen und Scientology - Wiederkehr des Faschismus?

Überlegungen zum offenen Brief einiger Angehöriger der amerikanischen Kulturindustrie an Bundeskanzler Kohl

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Gestern waren es die Juden, heute sind es Mitglieder von Scientology, die verfolgt werden. Droht eine Wiederkehr des Faschismus in Deutschland? Das fragen sich einige Angehörige der amerikanischen Kulturindustrie und wollen dem im Zeichen eines neuen Weltgewissens durch einen offenen Brief an Helmut Kohl frühzeitig begegnen. Der findet, daß eine Reaktion darauf unnötig sei, weil die Unterzeichner von Deutschland keine Ahnung hätten. Politisch unbedarft scheint dieser Brief tatsächlich zu sein, aber vielleicht sollte man sich einige Gedanken dazu machen.

Angehörige der amerikanischen Informationsindustrie haben an Bundeskanzler Helmut Kohl einen offenen Brief geschrieben, in dem sie dazu auffordern, endlich Schluß mit der "organisierten Verfolgung" von Mitgliedern der Scientology-Organisation zu machen. Schon seit längerem läuft bekanntlich nach dem Ende des Kalten Krieges und der Wiedervereinigung Deutschlands eine seltsame Kampagne gegen Deutschland. Seit 1994 geistern Anzeigen von German Alert in der Presse herum. Die sind von der International Association of Scientologists finanziert. Bei dem offenen Brief, der unter anderem von Constantin Costa-Gavras, Dustin Hoffman, Oliver Stone oder Gore Vidal unterzeichnet wurde, weiß man das nicht, auch wenn er in dasselbe Horn bläst.

Die Scientologen haben eine gute Masche entdeckt, sich im deutschen Sprachraum Angriffen zu erwehren: hier zieht der Verweis auf die nationalsozialistische Vergangenheit immer und ist ein Totschlagargument, das billig zu haben, aber auch schon reichlich abgewirtschaftet ist. In Deutschland, so Scientology, deren Praktiken erwiesenermaßen auch nicht die feinsten sind, würden ihre Mitglieder wie einst die Juden von den Nazis verfolgt. Das ist starker Tobak. Man könnte ja verstehen, wenn Tom Cruise, John Travolta oder Chick Corea dagegen protestieren, daß sie als Scientologen in Deutschland angegriffen wurden, warum aber jetzt diese unbedingte Solidarität von anderen mit den zu Märtyrern der Freiheit stilisierten Schauspielern und Künstlern - ohne ein Wort über Scientology selbst zu verlieren?

Wenn es nur ums Prinzip ginge, wäre Scientology nur ein Beispiel. Aber hier ist es der Präzedenzfall. Warum solidarisieren sich Nicht-Angehörige der Scientology-Organisation mit den so schrecklich Diskriminierten und sagen, daß sie "einfach nicht wegschauen können, wenn diese erschreckende Situation weitergeht und stärker wird"? Erinnert sie die Verfolgung, die faktische Diskriminierung und das Zusammenschlagen von Ausländern, die schärferen Immigrationsgesetze, das Schließen der Grenzen, die Einbunkerung und Entsolidarisierung der Reichen vielleicht zu sehr an ihren eigenen Alltag, so daß er ihnen weder bedrohlich noch faschistisch zu sein scheint? Warum müssen sie, wenn sie schon möglicherweise ihre Freunde und explizit die Religionsfreiheit in Schutz nehmen wollen, gleich mit der Wiederkehr des Faschismus argumentieren?

Die neuen Verteidiger der Religionsfreiheit in Deutschland sind selbsternannte Weltbürger und sehen sich wegen der Globalisierung gezwungen, mit der Macht ihrer Autorität einzugreifen. "Heute", so heißt es im Brief, "ist die Welt kleiner und anders. Wir hängen weit mehr voneinander ab. Wenn eine moderne Nation ihre Unwilligkeit demonstriert, die Grundrechte einer Gruppe ihrer Bürger zu schützen, und die Bereitschaft zeigt, deren Verfolgung zu billigen und daran teilzunehmen, dann müssen 'right thinking' Menschen in anderen Ländern sich dagegen wenden. Extremisten Ihrer Partei sollen nicht glauben dürfen, daß der Rest der Welt wegschaut. Nicht dieses Mal." Die Unterzeichner mit ihrem globalen Gewissen hätten also viel zu tun, wenn sie auf der ganzen Welt nicht wegschauen wollen.

Doch in anderen Ländern und in den USA gab es nicht den Faschismus. Fragt sich nur, ob für die Opfer von anderen Pogromen, Völkermorden, Kriegen und Verfolgungen diese Unterscheidung so wichtig ist. Jedenfalls, so die aufrechten Kämpfer, wurde im Deutschland der 30er Jahre durch Hitler die religiöse Intoleranz zur offiziellen Regierungspolitik: "Juden wurden zuerst an den Rand gedrängt, dann von vielen Aktivitäten ausgeschlossen, dann eingesperrt und schließlich unaussprechbaren Qualen unterworfen." Richtig ist, daß die Welt dazu geschwiegen hat und daß es vielleicht anders gekommen wäre, wenn man dagegen protestiert hätte. Ob das freilich durch einen offenen Brief von ein paar Angehörigen der Informationselite gelungen wäre, ist eine andere Frage.

"Wir können nicht die Geschichte ändern, aber wir können versuchen, sie nicht zu wiederholen." Jaja, dem ist nur zuzustimmen. Aber dann kommt eben die Schlußfolgerung, die man tatsächlich, bei aller möglichen Sorge um die Religionsfreiheit, nicht recht Ernst nehmen kann: "In den 30er Jahren waren es die Juden. Heute sind es die Scientologen." Ist die lange, weltweite "Tradition" des Anti-Semitismus, die in Deutschland explodierte, denn wirklich mit dem Unbehagen an Organisationen wie den Scientologen vergleichbar? Im Nazi-Deutschland ging es auch weniger um die jüdische Religion, denn um die jüdische "Rasse", wobei für das faschistische Regime und seinen Untaten wohl die Aushebelung der Religionsfreiheit nur eine geringe Rolle spielte. Mindestens müßte man, wenn man nicht der Naivität bezichtigt werden will, auch auf die Verfolgung Andersdenkender und die bereits zuvor erfolgte Ausschaltung der Demokratie hinweisen. Für Deutschland sind aber gerade Gruppen, an deren demokratischen Tendenzen man zweifeln kann, bedrohlich, um ein Wiederaufleben des Faschismus zu verhindern.

Es ist jedenfalls eine seltsame Diskrepanz zwischen den Unterzeichnern des offenen Briefs und den hierzulande lebenden Antifaschisten festzustellen, die ja auch gelegentlich der CDU und der CSU nicht wohlgesonnen sind und sie mancher präfaschistischer Tendenzen bezichtigen, dies aber keineswegs aufgrund der "Verfolgung" der Scientologen geschieht. Sind wir Deutschen also blind, wenn wir zwar immerhin auf die Straße gegangen sind, um gegen die Verfolgung von Ausländern zu protestieren, aber nicht, wenn überlegt wird, ob Scientology wirklich eine Religion ist oder wenn gegen Tom Cruise oder John Travolta protestiert wird? Naivität muß man den Unterzeichnern auf jeden Fall vorwerfen, sich mit fadenscheinigen Argumenten gegen ein Wiederaufleben des Faschismus vor den Karren der Scientologen spannen zu lassen.

Natürlich haben die Unterzeichner recht, wenn sie sagen, daß ein Staat nicht bestimmen sollte, was eine Religion ist und was nicht. Vielleicht wäre es an der Zeit, die damit verbundenen rechtlichen und steuerlichen Bedingungen zu verändern, die zugunsten der großen Kirchen geschaffen wurden. Parteien werden sicherlich das Recht haben, nicht jeden Vertreter jeder beliebigen Weltanschauung aufzunehmen. Schließlich sind sie selbst Weltanschauungsorganisationen. Ob man Mitgliedern einer Organisation, die nicht unbegründet verdächtigt wird, ihre Mitglieder finanziell und mental abhängig zu machen und deren freien Willen zu hintergehen, wenn sie austreten wollen, den Zugang zu Staatsämtern erlauben soll, ist schon eine schwierigere Frage, denn hier kollidiert das Grundrecht auf Religionsfreiheit mit der Verletzung anderer Grundrechte. Dennoch sollte es keine Berufsverbote geben, auch wenn die deutsche Tendenz dazu wiederum aus der Geschichte der eigenen Vergangenheit mit totalitären Organisationen stammt. Daß Kinder von Eltern, die Scientologen sind, von der Schule ausgeschlossen werden, darf jedenfalls keineswegs vorkommen.

Aber es scheint ein allgemeineres Unverständnis von Amerikanern gegenüber dem Verhältnis der Deutschen zu den Scientologen zu geben. Die amerikanische Tradition ist geprägt von Religionsfreiheit, von der strikten Trennung von Religion und Staat. Noch haben die Amerikaner damit kein großes Debakel erlitten und dulden die verrücktesten und militantesten Sekten und Gruppierungen, solange sie nicht kriminelle Akte begehen oder gar, wie jüngst die Freemen, sich für staatlich unabhängig erklären. Das ist in Deutschland anders, wo Scientologen gerade nicht als die neuen Juden, sondern höchstens denn als die neuen Nazis gelten, die eine gefolgsame Anhängerschaft erzeugen.

Doch hinter diesen ganzen Verwicklungen aufgrund unterschiedlicher Ängste steckt möglicherweise Tieferes. Entwickeln sich vielleicht nach dem Zusammenbruch des Kalten Krieges und der Einheit in der Abwehr des "Reichs des Bösen" die europäische und amerikanische Kultur auseinander? Sind das die ersten Anzeichen für den von Samuel Huntington prognostizierten Kampf der Kulturen, an dem auch die Einheit des Westens zerbricht, obwohl Huntington glaubt, daß der Westen nur dann eine Überlebenschance hat, wenn er unter der Führung der Weltmacht USA sich einordnet? Will Europa mit dem wiedervereinigten Deutschland in seiner Mitte und der jetzt offenen Grenze nach dem Osten einen Sonderweg einschlagen und seine "Westbindung" aufkündigen? Oder ist vielleicht alles viel einfacher, weswegen den offenen Brief Angehörige der amerikanischen Kulturindustrie unterschrieben haben?

Erstmals haben Amerikaner erfahren, daß Angehörige ihrer Nation - und noch dazu solche der weißen Oberschicht - in Deutschland von großen Parteien Ablehnung erfahren. Betroffen waren Angehörige der Kulturindustrie, die von den USA dominiert wird und die anerkannterweise zu einem gigantischen Zukunftsmarkt werden wird. Sehen sie also ihre ideologische und kulturelle Vormachtstellung bedroht? Fürchten sie, daß sich Märkte auch in Europa vor der amerikanischen Kulturindustrie verschließen könnten? Daß etwa der Versuch Frankreichs, sich auch der englischen Sprache zu verschließen, Schule machen könnte?