Die Kunst des Rückzugs

Zur Lage in Afghanistan - Die Interventionseuphorie ist vorbei. Gespräch mit Herfried Münkler, 2.Teil

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Der Afghanistan-Einsatz gilt unter Kennern der Materie als gescheitert. Im zweiten Teil des Telepolis-Gesprächs mit dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler (Teil 1 Ein diffuser Krieg ohne Entscheidungsschlacht) geht es um Exit-Strategien, den Bedeutungsverlust des Militärischen, "lauwarme" Kriegszustände und Fragen zum Erfolg bzw. Scheitern des Rückzugs.

Nachdem der Aufbau eines starken Zentralstaates nicht die gewünschten Ergebnisse erzielte, haben die Amerikaner ihre Taktik geändert und versuchen gegenwärtig Lokalmilizen aufzustellen. Diese Milizen laufen nicht nur der afghanischen Verfassung zuwider, die ein Machtmonopol vorsieht, sie haben innerhalb kürzester Zeit den zweifelhaften Ruf errungen, die Bevölkerung aufs Übelste zu drangsalieren. Darf die "Exit-Strategie" des Westens überhaupt so aussehen, oder verspielen da die westlichen Demokratien nicht nachhaltig ihre moralische Autorität?

Herfried Münkler: Nun ja, hier haben wir es mit einem grundsätzlichen Problem von Koalitionskriegführung zu tun, nämlich der Absprache der Verbündeten untereinander bzw. der unabgesprochenen Änderung der Strategie durch den Mächtigsten der Verbündeten. Offenbar haben die Amerikaner, nachdem erkennbar wurde, dass mit Karsai und seinen Leuten das Land nicht unter Kontrolle zu bringen war, auf ein altes Konzept der Partisanenbekämpfung gesetzt, nämlich die Aufstellung von Milizen.

Dabei treten dann zwangsläufig die beschriebenen Folgen auf, denn vermutlich handelt es sich ja nicht um besonders gute Gutmenschen, die sich in diesen Milizen bewaffnen, sondern um raue Krieger und solche, die glauben, mit der Waffe in der Hand sei für sie mehr zu gewinnen, als mit ordentlicher Arbeit. Das war und ist eine nachhaltige Abkehr vom Ziel der Errichtung einer Friedensökonomie, in der es ja gerade um die Transformation von Kämpfern in Leute geht, die ihre Zukunft nicht in der Gewalt, sondern in Arbeit sehen.

Geordneter Rückzug: zuverlässige Absprache mit dem Gegner nötig

Auch die Bundesregierung scheint sich mit der richtigen "Exit-Strategie" schwer zu tun. Zwar unterstreicht Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) unermüdlich, dass die deutschen Soldaten 2014 abgezogen werden, aber als die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am 12. Februar dieses Jahres das Land besuchte, sorgte sie für Verwirrung mit der Aussage, dass Sie "noch nicht sagen" könne, ob der Abzug bis 2014 zu schaffen sei1. Es scheint also nicht einmal innerhalb der Bundesregierung Konsens im Umgang mit der afghanischen Frage zu herrschen. Wie sollte die Bundesregierung Ihrer Meinung nach den nun zu erwartenden Abzug verwalten - oder soll der Einsatz doch noch verlängert werden?

Herfried Münkler: Die Kunst des Rückzugs ist in diesem Falle eine wirklich große Kunst, denn sie hängt von einer Fülle nicht beplanbarer und auch nicht vorhersehbarer Faktoren ab. Nochmals zum Problem Koalitionskriegführung: Wenn François Hollande in Frankreich die Präsidentschaftswahlen gewinnt, will er noch in diesem Jahr die französischen Truppen abziehen. Dann kommt eine Dynamik in Gang, die das Jahr 2014 für die Bundeswehr in Frage stellt. Auch aus den USA hört man ähnliches.

Vermutlich hat Frau Merkel das im Kopf gehabt, als sie die etwas verwirrenden Äußerungen zum Abzugszeitpunkt gemacht hat. Außerdem muss man in einem solchen Zusammenhang darauf achten, dass die Nachhut nicht abgeschnitten wird, d.h., dass man die erforderliche Zeit für einen geordneten Rückzug hat. Das ist aber schwer möglich, wenn man einen Rückzug durchzuführen hat, der nicht darauf hinausläuft, die Front um ein paar Kilometer zurückzuverlegen, sondern ein Land zu verlassen und Tausende von Kilometern zurückzulegen.

Vermutlich wird das nur möglich sein, wenn man mit dem Gegner, den Taliban oder wer sonst auch immer an den jeweiligen Stellen das Sagen hat, konkrete, verbindliche und zuverlässige Absprachen trifft.

Man hat zu lange auf militärische Lösungen gesetzt

Dieser Krieg wird also letztendlich nicht auf dem Schlachtfeld, sondern am Verhandlungstisch und in Absprache mit den Taliban, mit dem Erzfeind, entschieden?

Herfried Münkler: Nun ja, wie ich gerade gesagt habe, ohne Absprachen mit den Taliban wird es keinen geordneten Abzug geben. Vermutlich hätte man in dieser Frage schon früher auf die Taliban zugehen sollen, um sie in eine Kompromissstruktur einzubinden. Das ist nicht geschehen, man hat zu lange auf militärische Lösungen gesetzt, wiewohl diese gar nicht mehr erfolgversprechend waren, und darüber hat man das Erfordernis politischer Gespräche aus dem Auge verloren. So jedenfalls erscheint es von hier aus betrachtet.

Das Problem Pakistan ist ein Riesenproblem

Der Krieg in Afghanistan überschreitet bekanntlich die pakistanische Grenze. Wäre es nicht weise, den Anspruch Islamabads als Schutzmacht der Region zu erkennen und die dortige Regierung an den Friedensbemühungen offiziell zu beteiligen?

Herfried Münkler: Das Problem Pakistan ist ein Riesenproblem, weil die Pakistani seit der Unterstützung der Mujaheddin im Kampf gegen die Rote Armee darauf gesetzt haben, durch die Schaffung eines eng verbündeten Afghanistan an strategischer Tiefe gegenüber Indien zu gewinnen. Die Konfrontation mit Indien, also Probleme an der gegenüberliegenden Grenze Pakistans, ist der Grund, warum namentlich der pakistanische Geheimdienst immer wieder darum bemüht war, Afghanistan strukturell unter seine Kontrolle zu bekommen. Andererseits würde ich bei Pakistan von einer "Schutzmacht der Region" nicht sprechen.

Was die Pakistani hinbekommen haben, ist eher die Blockierung von Strukturen, die ihnen nicht angenehm sind, aber sie haben es nicht geschafft, nicht einmal in ihrem eigenen Land, selber Strukturen auszubilden, die belastbar sind. Man kann also Pakistan in die Friedensbemühungen einbinden, aber die dahinterstehende Frage ist eigentlich, wen in Pakistan man dann ansprechen will. Die Regierung, das Militär oder aber die Stammesfürsten, die in den Grenzregionen das Sagen haben? Das Problem hinter dem Problem ist also die Instabilität Pakistans.

Allmählicher Bedeutungsverlust des Militärischen

Die USA - und ihre Alliierten - haben also diesen Krieg verloren oder zumindest ihre Ziele offenkundig nicht erreicht. Der Westen und sein Wertesystem dürften in den Augen der Weltgemeinschaft nun nicht mehr als überlegt, und unschlagbar gelten. Was bedeutet das für die Zukunft Europas und der USA auf der weltpolitischen Bühne?

Herfried Münkler: Ich denke, die entscheidenden Schachzüge auf der weltpolitischen Bühne werden zurzeit auf dem Felde der Ökonomie gemacht. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, spätestens aber seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation beobachten wir einen allmählichen Bedeutungsverlust des Militärischen, und das hat unter anderem zur Folge, dass ein Scheitern des Militärs nicht mehr so weitreichende Folgen hat, wie das früher einmal der Fall gewesen ist.

Rettungsaktion der US-Airforce. Bild: USAF/CC BY 2.0

Die Zukunft Europas entscheidet sich in der Frage der Staatsschuldenkrise, aber auch anhand der Fähigkeit der Bevölkerungen, die tiefgreifenden Mentalitätsunterschiede innerhalb Europas auszuhalten. Und auch die Rolle der USA auf der weltpolitischen Bühne wird auf der darunterliegenden Bühne der Weltökonomie entschieden.

Ära der wesentlich humanitär bestimmten Interventionen ist zu Ende

Der Krieg zwischen Staaten - zuerst der offene Krieg, später der Stellvertreterkrieg - galt lange als patente Möglichkei, um Differenzen zwischen politischen Systemen ultima ratio zu entscheiden. Wird der offene Krieg als Durchsetzungsinstrument des Staates also zum Auslaufsmodell, besonders für die Europäer, die ihre Kinder nicht mehr auf fremden Schlachtfeldern sterben sehen wollen?

Herfried Münkler: Ja, so ist das. Gesellschaften mit niedrigen demografischen Reproduktionsraten können sich Kriege mit höheren Opferzahlen nicht leisten. Man kann, das klingt vielleicht etwas zynisch, auch sagen, bei Staaten mit geringen Geburtenraten sei zu viel emotionales Kapital in jedem einzelnen Kind gebunden, als dass man diese Kinder irgendwo in der Welt zu Tode lassen kommen könnte. Ich glaube also, dass die Ära der wesentlich humanitär bestimmten Interventionen, und darum ging es letzten Endes in Afghanistan, spätestens nach der Abspaltung des Krieges gegen al Qaida vom Afghanistan-Einsatz, zu Ende ist.

Aber das heißt nicht, dass man terroristische Gruppen in Zukunft nicht bekämpfen wird. Man wird das nur anders tun: Nicht mehr so lange und vor allem nicht mehr mit so vielen Soldaten im Land, sondern mit entsprechendem militärischen Equipment, um terroristische Akteure zu identifizieren und sie etwa mit Hilfe von Luft-Boden-Raketen, die von Drohnen abgeschossen werden, zu eliminieren. Also: die amerikanische Strategie der letzten zwei/drei Jahre in Afghanistan und zum Teil auch im pakistanischen Grenzland gibt hier eher das Muster vor. Man macht sich selber unverwundbar, was ja bei Drohnen der Fall ist, wenn sie von weit entfernten Orten gesteuert wurden.

"Lauwarme" Kriegszustände

Der Krieg scheint sich in den letzten Jahren in Afghanistan "orwellisiert" zu haben, könnte man sagen: Es herrschen keine allumfassende Kriegszustände aber auch keinen greifbaren Frieden. Vielmehr ist eine Mischform entstanden, mit zeitlich und geografisch wechselhaften Konstellationen bestehend aus einerseits friedlichen Gebieten und anderseits Gebieten, die vom Krieg heimgesucht werden. Auch die Akteure des Krieges wechseln ihre Allianzen beliebig nach unmittelbarem Nutzen. Wird der anzustrebende, aber vielfach unerreichbare, Friedenszustand in den "Neuen Kriegen" durch einen limitierten, "lauwarmen" aber dauerhaften Kriegszustand ersetzt, und als solcher von der Weltgemeinschaft als "annehmbarer Ersatzfrieden" akzeptiert, etwa um den Abzug aus Afghanistan in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen?

Herfried Münkler: Genau das ist die bedrückende Diagnose, die ich bereits 2002 bei Erscheinen meines Buchs über die Neuen Kriege so formuliert habe. Es war die große Ordnungsleistung der territorialen Akteure, also der Flächenstaaten, klare Grenzlinien zwischen Krieg und Frieden zu schaffen und die Übergänge entsprechend zu formalisieren, also Kriegserklärung, Waffenstillstand, Friedensschluss. Das alles hat sich mit der Transformation der Akteure, die ja in der Regel gar nicht mehr Territorialstaaten sind, verändert. Es gibt Regionen der Erde, in denen der Krieg endemisch geworden ist. Dazu gehört auch, dass er sich mit der organisierten Kriminalität verbunden und vermischt hat.

Über die Drogenökonomie der Warlords in Afghanistan habe ich schon gesprochen, aber natürlich ist da auch an Mexiko(Ist Mexiko ein Kriegsgebiet?) zu denken oder an Kolumbien. Es gibt einen Gürtel, der sich um den Globus zieht, in dem kein Frieden in unserem Sinne herrscht, aber auch kein erklärter Krieg, sondern so etwas, wie Sie es nennen, wie ein "lauwarmer" Kriegszustand.

Die Hoffnung am Ende des 20. Jahrhunderts war, dass es mit Geld, Militär und politischer Unterstützung möglich sei, auch hier einen verlässlichen Frieden herzustellen. Auf dem Balkan ist dies den Europäern einigermaßen, sicherlich nicht richtig gut, aber immerhin ein wenig gelungen. Afghanistan ist das Gegenteil dessen. Wir müssen sehen, wie sich die Lage in Syrien, aber auch in Libyen, wo ja alles andere als stabile Verhältnisse herrschen, weiterentwickeln wird. Wir Europäer werden Afghanistan bald aus dem Blick verloren haben, weil wir mit Problemen in unserer unmittelbaren Umgebung in hohem Maße beschäftigt sein werden.

Wie viele wir von unseren Freunden und Verbündeten nehmen wir mit?

Die wahrnehmbare Entwicklungsdynamik spiegelt tatsächlich eine unübersehbare Trennung der Interessengemeinschaft zwischen der Kabuler Regierung und dem Westen wider. Was gilt es beim Rückzug zu bedenken, damit die ungelösten Probleme Afghanistans nicht indirekt auf den Westen - womöglich auch auf Deutschland - zurückfallen?

Herfried Münkler: Ich glaube, dass schon seit geraumer Zeit gar nicht mehr die Situation der Afghanen im Lande im Mittelpunkt der westlichen Überlegungen steht, sondern das, was ich die Kunst des Rückzugs genannt habe. Die Amerikaner haben in Vietnam damit nicht so gute Erfahrungen gemacht2, und auch die Franzosen haben bei ihrem Rückzug aus Algerien sehr viele algerische Freiwillige, die auf ihrer Seite gekämpft haben, zurückgelassen, die dann massakriert wurden3. Afghanistan, d.h. für uns längst, wie viele wir von den Freunden und Verbündeten mitnehmen und wie wir sie dauerhaft in unserer westlichen Gesellschaften integrieren wollen. Das ist die andere Seite beim Rückzug der eigenen Truppen: wen nehmen wir mit? Und wen weisen wir ab, weil er möglicherweise nur ein Einflussagent der Drogenstrukturen ist, der in den westlichen Ländern entsprechende Märkte organisieren soll?

In den "neuen Expeditionskriegen" besteht die Kunst des Rückzugs also darin verlorene Schlachtfelder so zu verlassen, dass man sich und seine Mitstreiter in Sicherheit bringt und gleichzeitig sicherstellt, dass das Unheil des fernen Krieges uns nicht doch indirekt bis in die Heimat verfolgt. Seit Ende der Sowjetunion waren die westlichen Mächte aktiv bemüht, ihre Werte in die ganze Welt zu exportieren. Werden sie nun selbst zu "Helden des Rückzugs" oder vielleicht zu geopolitischen Abschottungskünstler, die sich in eine Art große "Gated Community" zurückziehen, ungeachtet der traurigen Umstände, die an der Peripherie Europas und Amerikas herrschen?

Herfried Münkler: Der Westen wird angesichts seiner begrenzten Ressourcen seine Mission - die Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten - zurücknehmen und stärker auf die der Mission gegenüberstehende Räson setzen: In der spielen die unmittelbaren Eigeninteressen, die Kosten und der Nutzen eine sehr viel stärkere Rolle.

Die Interventionseuphorie ist vorbei. Außerdem werden wir sehr viel mehr mit unserer unmittelbaren Peripherie zu tun haben. Das heißt jedoch nicht Rückzug; die Art der Einflussnahme wird informeller werden und die sichtbare Präsenz geringer. Das Ziel ist, Angreifbarkeit, Vulnerabilität zu vermindern. Und das erreicht man natürlich auch, indem man seine normativen Kriterien reduziert.

Teil 1

Professor Herfried Münkler (60) lehrt Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Bücher "Die neuen Kriege" (2002), "Der neue Golfkrieg" (2003) (Für den amerikanischen Weg gibt es in Europa keine Mehrheiten, nirgendwo!) und "Der Wandel des Krieges : von der Symmetrie zur Asymmetrie" (2010) gelten als Standardwerke der deutschen Konfliktforschung.

Verletzte und Verlassene auf den Feldern Afghanistans, Teil 1 bis 5