"Die Politiker machen ja nichts" – wie Enttäuschungen das Denken verändern
Viele Betriebsräte sind enttäuscht von der Politik. Sie erleben, wie der Neoliberalismus das Denken verändert hat – Erfolge für Beschäftigte sind selten.
Zur "digitalen Verteilungsfrage" wurden Einschätzungen von Franz Steinkühler, ehemaliger Vorsitzender der IG Metall, aus dem Jahr 2017 auf einem Seminar Anfang dieses Monats zur Diskussion gestellt:
Ich denke auch, die Gewerkschaften müssen noch entschiedener und nachhaltiger darauf aufmerksam machen, dass die Politik für diese große Entwicklung der Roboterisierung, der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz verantwortlich ist. Sie begnügt sich bisher damit, das mit Steuermitteln zu fördern, was die Unternehmen sowieso planen und wollen.
Mit diesen neuen Techniken, werden sie denn von den Unternehmen tatsächlich flächendeckend angewandt, wird ein enormer Produktivitätsfortschritt einhergehen.
Wem gehört der? Den Unternehmern allein? Es kann doch nicht sein, dass die Kapitalseite alle Gewinne einstreicht und Arbeitnehmerschaft und Steuerzahler die Verluste tragen.
Diese Verteilungsfrage ist eine politische Frage und keine, die in Tarifkämpfen alleine gelöst werden kann.
"Das würden die Politiker doch nie umsetzen – bei den vielen Lobbyisten", war die entrüstete Reaktion einer langjährigen Betriebsrätin auf seinen Beitrag.
In der daraus resultierenden Diskussion wird "die Politik" häufig als etwas Schmutziges dargestellt, bei der die meisten sich betrogen fühlen. Dass Politik bedeutet, gemeinsam die Arbeitsbedingungen – gegen die Vorstellungen der Unternehmensseite – zu gestalten, wird dabei übersehen.
"Die Politik" – wer und was ist das?
Der Hinweis an Betriebsräte, sie seien ja auch "Politiker", da sie Betriebspolitik betreiben, sorgt oft für Verwunderung bei den Angesprochenen.
Dabei zeigt ein aktuelles Handlungsfeld, wie schwierig das Agieren in Zeiten des Neoliberalismus ist: Ein großes Streitthema in vielen Betrieben ist die Arbeitszeit, genauer die Arbeitszeiterfassung. In einer Grundsatzentscheidung schreibt das Bundesarbeitsgericht (BAG) bereits seit 2022 die Zeiterfassung für jeden Betrieb vor (BAG vom 13.09.2022, Az: 1 ABR 22/21). Kontrollen von Aufsichtsbehörden gibt es dazu kaum.
Viele Unternehmen sitzen diese Entscheidung aus und machen deutlich: Wenn der Betriebsrat nichts unternimmt, lassen wir es wie bisher. Denn heutige Unternehmensstrategien machen die Zeiterfassung zu einem umkämpften Thema.
Denn Unternehmen betreiben oft weiterhin verschiedene Formen des Zeitdiebstahls: Das kann die arbeitsvertragliche Regelung sein, Überstundenbezahlung sei mit dem Gehalt abgegolten. Arbeitsrechtlich so pauschal nicht zulässig, oft auch ein Verstoß gegen den Tarifvertrag – aber trotzdem in vielen Betrieben Praxis.
Eine andere Form des Zeitdiebstahls ist "Vertrauensarbeitszeit": Dabei wird auf die Erfassung von Arbeitszeit verzichtet.
In der Praxis erleben Beschäftigte, dass die Einführung der "Vertrauensarbeitszeit" weitgehende negative Folgen hat. Denn die Zeiterfassung stellt eigentlich eine Absicherung des Arbeitenden dem Unternehmen gegenüber dar. Gerade mobile Arbeit oder erweiterter Technikeinsatz infolge der Digitalisierung wird von Unternehmen gerne als Vorwand für die Abschaffung der Zeiterfassung genutzt.
Das muss nicht so bleiben: Eine klare Regelung zur Zeiterfassung muss hier die erste Forderung aus Sicht der Belegschaften sein.
Damit jedoch tun sich viele Betriebsräte schwer. Rechtlich können sie die Vorlage der Arbeitszeitdaten – wer hat von wann bis wann gearbeitet – verlangen und Betriebsvereinbarungen durchsetzen, die den Umgang mit zusätzlich anfallender Arbeitszeit regeln. Die Dokumentation der tatsächlichen Arbeitszeiten kann dazu beitragen, dass gesetzliche Höchstarbeitszeiten und zwingende Ruhezeiten besser eingehalten werden als bisher.
Dies versucht das Management oft mit allen Kräften zu verhindern. Denn Verstöße gegen gesetzliche Arbeitszeitregeln werden für Unternehmen teuer: Ergibt die Zeiterfassung, dass Arbeitnehmer über die vertraglich geschuldete Arbeitszeit hinaus arbeiten, können sie Zeitausgleich oder Nachzahlungen verlangen.
Dagegen eine Strategie zu entwickeln, fällt vielen Beschäftigtenvertretern schwer. Denn Betriebsräte, die gegen ständige Erreichbarkeit vorgehen möchten, müssen nicht nur dem Unternehmen, sondern auch den Beschäftigten gegenüber agieren. Wichtig sind dabei die unterschiedlichen Ebenen:
- Zunächst hat eine Verständigung im Betriebsrat zu erfolgen – schätzen alle die Situation für so problematisch ein?
- Da viele Beschäftigte – aus der Erwartung an sich selbst – häufig die Erreichbarkeit ins Private hinein anbieten, steht Aufklärungsarbeit des Betriebsrates an. Dazu gehört auch die Präsenz vor Ort, durch Betriebsbegehungen, da so direkter Kontakt möglich ist.
- Erste Forderungen können die Anforderung von Arbeitszeitlisten sein, die Erarbeitung einer neuen Betriebsvereinbarung ist der nächste Schritt.
Das überfordert manche Interessenvertreter, die dann entscheiden, "das will ich mir nicht auch noch aufhalsen". Oder anders gesagt: sie wählen eine Vorgehensweise, die sie bei anderen – "den Politikern" – kritisieren. Dieses Beispiel macht deutlich: Die wenigen, rechtlich klar umschriebenen Gestaltungsmöglichkeiten des Betriebsrates überfordern viele Kolleginnen und Kollegen in ihrem Ehrenamt in der heutigen Zeit.
Enttäuschung wird offen kommuniziert
Eine Diskussion mit Betriebsräten macht schnell deutlich, wie sich durch Jahrzehnte des Neoliberalismus das Denken verändert hat. Politische Erfolge im Sinne der Beschäftigten sind für sie kaum erkennbar. Rentenkürzungen der SPD durch die Riester-Gesetze oder die Hartz-Regelungen werden schnell genannt. Ähnlich sieht es mit Erfolgen der Linkspartei als Regierungspartei aus. Dies sorgt für viele Enttäuschungen, auch unter Betriebsräten.
Die Demontage des Bürgergelds ist ein weiteres Beispiel: "Es ist grotesk", schreibt Helena Steinhaus über das "Feindbild 'Sozialschmarotzer'":
Wir leben in einer Zeit, in der Reiche immer reicher werden und die Politik sie dabei auch noch aktiv unterstützt oder schützt, wie bei der hochprofitablen Steuertrickserei von CumEx- und CumCum-Finanzprofis. Anstatt die Schuldenbremse zu lockern und progressive Steuermodelle zu ersinnen, müssen wie immer wieder jene herhalten, die sich ohnehin nicht wehren können: Erwerbslose und Niedriglohnschufter. Dabei ist hier noch nicht einmal nennenswertes Geld zu holen.
Doch parteitaktische Manöver sind wichtiger als jede politisch seriöse Ambition. Es geht nicht um die Staatskasse, es geht um die Wahlurne.
Gegenwehr über Tarifverhandlungen
Dass Politik auch anders möglich ist, zeigt sich für viele Beschäftigte erst im Betrieb. Auch Betriebsräte erleben über gewerkschaftliche Vernetzung und den Kampf für Tarifverträge, dass die heutige Welt nicht alternativlos ist. Ein typisches Beispiel schildert der Journalist Sebastian Bähr für nd-aktuell.de:
Bei der Großbäckerei Aryzta in Nordhausen haben die Beschäftigten einen erfolgreichen Streik organisiert. "Wenn du nachts ins Werk kommst und allen verkündest, sie sollen die Maschinen abstellen – das ist schon ein geiles Gefühl", schildert eine Teigmacherin, die ehrenamtliches Mitglied der Tarifkommission der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) ist. Das Werk gehört zum Schweizer Lebensmittelriesen Aryzta, einem der führenden Hersteller von Tiefkühlbackwaren in Europa.
"Am Anfang glaubt keiner an sich und keiner an uns", beschreibt sie anfängliche Skepsis der Belegschaft. Als am zweiten Streiktag die Maschinen hin heruntergefahren wurden, war das ein "magischer Moment", erzählt sie stolz. "Normalerweise sitzen die anderen am längeren Hebel, aber jetzt waren wir es."
Auch ein Protestmarsch durch das Stadtzentrum wurde organisiert. Durchgesetzt wurde ein Tarifvertrag, der höhere Zuschläge für Mehr-, Nacht-, Samstags- und Feiertagsarbeit, die Erhöhung der Jahressonderzahlung und mehr Freizeit bei Schichtarbeit umfasst.
Untersuchungen zeigen: Die Erfahrungen im Betrieb wirken sich auf die politische Einstellung aus. Die Studie "Arbeitswelt und Demokratie in Ostdeutschland" der gewerkschaftlichen Otto-Brenner-Stiftung zeigt einen Zusammenhang zwischen extrem rechten Einstellungen und Ohnmachtsgefühlen am Arbeitsplatz.
Die AfD zu wählen, ist oft auch eine Reaktion auf das Gefühl, nicht mitbestimmen zu können. Arbeitskämpfe könnten in so einer Situation die Ohnmacht überwinden und neue Erfahrungen ermöglichen.