Die Tücke der Welterklärungslücke

Faschismus und Fundamentalismus

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Will man einen Gegenstand erforschen und herausbekommen aus welchen Komponenten er besteht und wie seine innere Struktur beschaffen ist, hat es wenig Sinn, mit einem Dampfhammer draufzuhauen, sondern man muss den Gegenstand filigran zerlegen, ohne wesentliche Teile zu beschädigen, und gegebenenfalls Zwischentöne, Mittelbegriffe und Nuancen herausarbeiten, die es erlauben, den Gegenstand wesentlich wieder zusammenzubauen.

Auf der Ebene der Ideologiekritik bedeutet dies nicht nur, auf blinde Flecken der jeweiligen Theorie aufmerksam zu machen (wenn z.B. zur Erklärung wesentlich gesellschaftlicher Tatbestände die "Natur" des Menschen oder gleich in eine "göttliche" Ordnung bemüht wird), sondern auch zu zeigen, warum diese subjektiven Denk- und Verhaltensmuster überhaupt zustande gekommen sind.

Ideologie muss nicht notwendigerweise mit Propaganda zusammenfallen (auch wenn heutzutage z.B. niemand dem neoliberalen Trommelfeuer der Medien zur "Agenda 2010"entkommt (vgl. Die beste Demokratie, die man für Geld haben kann), sondern kann auch ein überwiegend unbewusster Denkreflex der Menschen sein, um sich in der feindlich erlebten Umwelt überhaupt einfügen zu können: Objektive Herrschaftsverhältnisse erfahren den letzten Schliff, wenn sie von den Menschen versubjektiviert, verdichtet und verabsolutiert werden, so dass sich die Menschen gar nichts mehr anderes als die gegebene gesellschaftliche Situation vorstellen können und ihre Repression als Schicksal hinnehmen, als Freiheit begreifen oder gar als Lust empfinden (vgl. Die große Ausnahme).

Diesem Problem widmet sich ausführlich das Buch "Faschismus und Fundamentalismus. Varianten totalitärer Bewegung im Spannungsfeld zwischen "prämoderner" Herrschaftskultur und kapitalistischer "Moderne' des Sozial- und Erziehungswissenschaftlers und Redakteurs der linken Theoriezeitschrift HINTERGRUND Hartmut Krauss.

Die Gesetze des Marktes wirken wie Naturgesetze

Er zeigt darin auf, wie totalitäre Bewegungen auf Bewusstseinsinhalte rückgreifen können, die durch die sozialen Verhältnisse bereits hervorgebracht worden sind. Krauss stellt der durch die Warenwirtschaft geprägten bürgerlichen Gesellschaft (in welcher nach seiner Meinung das Projekt der Aufklärung unvollendet geblieben ist) die Diagnose, dass in ihr der materielle Lebensprozess der Gesellschaft den Individuen nicht einsichtig ist. Die Gesetze des Marktes wirken hier blind wie Naturgesetze: Sie belohnen den einen, ruinieren den anderen wider eigenes Verdienst oder Verschulden (indem z.B. eine zufällige Schwankung an der Börse für einen Broker ein Vermögen bringen und gleichzeitig für Tausende Arbeitslosigkeit bedeuten kann) und produzieren unausgesetzt Irrationalismen und letztendlich Zustände, welche die Bedürfnisbefriedigung und Selbstbestimmung der meisten Menschen blockieren.

Die Prinzipien der in letzter Konsequenz irrationalen Marktgesellschaft können sowohl in Form von naturanalogen Zwängen und Normen (z.B. Arbeitsethos, Konkurrenzdenken und Leistungsprinzip) verinnerlicht als auch in Gestalt eines Sündenbockes oder von Unterdrückungsobjekten nach außen projiziert werden. Daher schließen sich vormoderne, traditionelle repressive Ideologeme und bestimmte Aspekte moderner ökonomischer, technologischer und bürokratischer Rationalität nicht nur nicht aus, sondern sind auch bestens im Stande aneinander anzudocken. Somit sind für Krauss der Gang der kapitalistischen Moderne und das Phänomen der Entstehung und Etablierung von totalitäreren Bewegungen (deren Inhalt stets ein radikaler Anti-Humanismus ist und stets in einer Entmündigungs- und Entindividualisierungspraxis mündet) synthetisch miteinander verbunden.

Der "deutsche" Kapitalismus

Krauss exemplifiziert diesen Gedanken einerseits historisch, indem er die Entwicklung des deutschen Faschismus als den (seit den Bauernkriegen) besonderen Gang Deutschlands in die kapitalistische Warenwirtschaft nachzeichnet: Der "deutsche" Kapitalismus entfaltet sich in einer Feudalgesellschaft, die zwar vom Bürgertum durchdrungen, aber nicht abgeschafft worden ist. Dies zeitigt ein gesellschaftliches Klima, in dem die liberalen Prinzipien des Bürgertums sich jenseits der Ökonomie nicht zur Geltung bringen können. Dementsprechend sind die Deutschen anfällig für nationalchauvinistische, antisemitische und irrationalistische Denkmuster und Weltanschauungen, auf denen der deutsche Faschismus ein bereits bestelltes Feld vorfand.

Die Wiederkehr des religiösen Fundamentalismus in einer entwickelten Marktgesellschaft

Dann zeigt Krauss andererseits strukturell auf, wie sich die Wiederkehr des religiösen Fundamentalismus in einer entwickelten Marktgesellschaft ereignet. Die Desintegrationserfahrungen der Individuen in einer trotz formaler Gleichheit de facto antagonistischen, ungeachtet aller Freiheitspostulate von Ambivalenz, Abhängigkeit, Konkurrenz und Leistungsdruck geprägten Gesellschaft, in der sich die Menschen gesellschaftlichen Teilprozessen unterzuordnen haben und (bei einem in Theorie und Praxis grundsätzlich als nicht zu erkennenden und regelnden ausgegebenen Gesellschaftsganzen) und die permanente Krisenerfahrung zur "Normalität" erklärt wird, führen gerade nicht dazu, dass die Menschen beginnen, diese Zustände rational zu analysieren, sondern versuchen, jene zu verdrängen.

Dieses Erklärungsdefizit angesichts krisenhafter gesellschaftlicher Zustände wird dann von simplifizierenden Erklärungsmodellen und das Gefühl der Abhängigkeit kompensierenden Handlungsmustern ausgeglichen, die trotz Aufklärung und der positivistischen "Entzauberung" der Welt im Stande sind, als eine Art verstärkter Religiosität wiederzukehren

Die Tücke der Welterklärungslücke

Der Mensch ist darauf verwiesen, im Interesse der Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung seiner Handlungsfähigkeit die erfahrenen Widersprüchlichkeiten zwischen individueller Lebenstätigkeit und gesellschaftlicher Entwicklung durch Aneignung widerspruchslösender Bedeutungen zu überwinden. Somit ergibt sich aus der Schere zwischen subjektiver Sinnsuche und diesbezüglich disparater Konstitution der modernen positivistischen Wissenschaften eine "Welterklärungslücke", die religiösen Bedeutungssystemen unterschiedlichster Art ein breites Wirkungs- und Betätigungsfeld überlässt, um in den subjektiven Sinnhorizont der erklärungssuchenden Menschen einzudringen.

(S.155f)

Für Krauss ist nun der islamische Fundamentalismus die momentan bedrohlichste und wirksamste Ausprägung dieses Phänomens.

Er stellt fest, dass die Medien zwar einerseits ein holzschnittartiges (Feind-)Bild verbreiten und wehrt sich gegen eine

Gleichsetzung des islamischen Fundamentalismus mit dem Islam schlechthin (...). Andererseits hat sich in einfacher Umkehrung dieser simplifizierenden Feindbildkonstruktion ein euphemistisch-islamophiler Gegendiskurs herausgebildet, der unter Rückgriff auf kulturrelativistische Deutungs- und Verleugnungsmuster eine bagatellisierende bis apologetische Haltung gegenüber den konkreten Tatbeständen und Wesenszügen des islamischen Fundamentalismus einnimmt.

(S.184)

Krauss weist zwar auf die emanzipatorischen Komponenten innerhalb der islamischen Philosophie (wie z.B. die rationalistische Philosophie von Avicenna und Averoes, vgl. Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.) hin, zeigt aber auch, dass der Islam nie durch eine hegemonial gewordene Aufklärung geläutert wurde, so dass die priesterliche Orthodoxie ihre zentrale Machtstellung beibehalten konnte (und wer weiß, vermutlich hätten auch hierzulande Kardinal Ratzinger und Bischöfin Käßmann noch das ein oder andere Daumenschräubchen parat, wenn nicht das Christentum durch das Fegefeuer der Aufklärung gegangen wäre und es nicht eine Säkularisation religiöser Inhalte gegeben hätte).

Dementsprechend konnten sich verschiedene Glaubensinhalte des Islam (wie etwa ein theozentrisches Weltbild, der Glaube an ein Wahrheitsmonopol des Islam, die Exklusivität der Glaubensgemeinschaft der Muslime und die Authentizität des Koran) ungebrochen halten, die in Verbindung mit dem kapitalistischen Modernisierungsprozess in den betreffenden Ländern eine fatale Verstärkung erfahren:

Was den fundamentalistischen Diskurs in den Augen der gläubigen Massen (...) attraktiv erscheinen lässt, ist die Umdeutung von Leidens- und Unterdrückungserfahrung bzw. die Restriktion subjektiver Entwicklungsinteressen in eine göttlich bestimmte Bewährungsprobe (...)." (S.219)

Dass nun aber die USA (die seit 1945 bedenkenlos Kriege geführt, Terrorregimes unterstützt, Massaker und Menschenrechtsverletzungen geduldet haben, wann immer es ihrem Kalkül entsprach) mit ihrem "Feldzug gegen den Terror" (vgl. Imperial überdehnt) weniger Lösung als Teil und sogar Multiplikator des Problems sind, wird von Krauss ebenfalls mit in Rechnung gestellt.

Konkreter Humanismus ohne moralischen Zeigefinger

Krauss macht es somit vermutlich keiner der Fraktionen der deutschen Linken recht: Wenn aber Links sein heißt, dass man weder reaktionäre Slogans aus den Medien aufgreifen und einfach das Gegenteil behaupten, noch dass man sich, wie die Anti-Deutschen, zu dieser Position spiegelbildlich negativ verhalten muss, sondern, dass man sich notfalls zwischen die Stühle stellt, von wo aus die Lage besser zu überblicken ist, dann hat Krauss mit seinem Buch einen wichtigen Beitrag dazu geliefert. Darüber hinaus hat er eine hochdifferenzierte Darstellung geliefert, die ohne moralischen Zeigefinger auskommt und nichtsdestotrotz gerade dadurch mit einem konkreten Humanismus verbunden ist.

Hartmut Krauss: Faschismus und Fundamentalismus. Varianten totalitärer Bewegung im Spannungsfeld zwischen "prämodernem" Traditionalismus und kapitalistischer "Moderne", Osnabrück 2003, 311 S., 12,80 Euro