Diese Erkenntnis hinterlässt Ukraine-Botschafter Melnyk
Neuer Eklat aufgrund von Forderungen nach Friedensverhandlungen. Diplomat lädt Ministerpräsidenten Kretschmer aus. Debatte um Kurs der Ukraine ist überfällig.
Nach seiner Abberufung nach Kiew hat sich der scheidende ukrainische Botschafter Andrij Melnyk zuletzt um einen gemäßigten Ton bemüht. Dann kam "Markus Lanz". In der ZDF-Sendung sagte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) am Mittwoch, er plädiere dafür, "dass dieser Krieg eingefroren werden muss, dass wir einen Waffenstillstand brauchen, dass wir Verhandlungen brauchen, um diesen Krieg zu beenden". Dies komme in der öffentlichen Debatte zu kurz.
Mit dieser Meinungsäußerung in einem politischen Debattenprogramm hatte Melnyk sichtlich Probleme. Er zog kurzerhand eine Einladung Kretschmers in die Ukraine zurück: "Mit Ihrer absurden Rhetorik über das Einfrieren des Krieges spielen Sie in Putins Hände und befeuern Russlands Aggression", so Melnyk, der nur noch geschäftsführend im Amt ist, am Sonntagmorgen auf Twitter. Die Einladung sei "annulliert", fügte er an: "Sie sind unerwünscht. Punkt".
Melnyk kehrte damit zum harschen Ton zurück, der in den vergangenen Monaten wiederholt für heftige Debatten gesorgt hat. Nachdem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier von einer Reise nach Kiew ausgeladen wurde, bezeichnete er Bundespräsident Olaf Scholz auf dessen Kritik an der Entscheidung hin als "beleidigte Leberwurst".
Später entschuldigte er sich für diese Wortwahl. Nachdem Präsident Wolodymyr Selenskyj Anfang Juli ein Dekret zu Melnyks Abberufung aus Berlin unterzeichnet hatte, nahm der Diplomat Abstand von seinen Äußerungen gegenüber Scholz. Einem Medienbericht zufolge bat er zuletzt sogar um ein Abschiedsgespräch beim Kanzler.
"Es würden zehn Minuten ausreichend sein, um einiges mitzuteilen, mich zu bedanken, auch zu entschuldigen, aber auch zu bedanken, was uns in diesem halben Jahr zuteilwurde. Und das ist nicht wenig", so Melnyk gegenüber der Sendung RTL Direkt.
Die neuen Tweets werfen Fragen auf, ob Melnyk sein Vorgehen tatsächlich ehrlich bedauert. Vor allem aber bleibt in der Debatte eines außen vor: Politisch hat sich der 47-Jährige nie von rechtsradikalen Äußerungen distanziert.
Keine Distanzierung von Bandera-Äußerungen
Das betrifft bei Melnyk zum einen die profaschistische Haltung, über die auch Telepolis wiederholt berichtet hatte. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand dabei ein Interview mit dem Journalisten Thilo Jung, in dem er den ukrainischen Faschisten Stepan Bandera verteidigte, der im Zweiten Weltkrieg für Kriegsverbrechen mitverantwortlich war.
"Bandera war kein Massenmörder von Juden und Polen", so Melnyk, es gebe für entsprechende Vorwürfe keine Belege. Wer die Kritik an dem Faschistenführer aufgreife, folge einem russischen Narrativ, auf das auch deutsche, polnische und israelische Historiker hereingefallen seien.
Das Außenministerium in Kiew distanzierte sich daraufhin von dem Diplomaten. Bei Melnyks Aussagen handele es sich um seine persönliche Meinung, die "nicht die Position des Außenministeriums der Ukraine widerspiegelt". Später folgte seine Abberufung durch Selenskyj.
Das benachbarte Polen hatte die Aussagen des umstrittenen Botschafters als absolut inakzeptabel bezeichnet. Kritik kam auch von israelischer Seite.
Ebenso problematisch wie Melnyks unmittelbare Haltung zu Kriegsverbrechern aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs ist seine damit einhergehende Relativierung des Hitlerregimes. So drohte er dem Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses im Bundestag, Klaus Ernst, an:
Als Putins deutsche Komplizen werden Sie und all Ihre linken Freundchen wie Wagenknechts & Co. landen auf der Anklagebank des Nürnberger Tribunals 2.0. gegen die russischen Kriegsverbrecher in der Ukraine.
Der Botschafter zog damit offenbar eine Parallele zu den Nürnberger Prozessen gegen führende Vertreter des Hitler-Regimes. Der bekannteste Prozess richtete sich gegen die Hauptkriegsverbrecher aus dem Umfeld des Diktators. Die Verbrechen wurden vor dem Internationalen Militärgerichtshof nach dem Londoner Statut beurteilt, zwölf der 24 Angeklagten wurden zum Tode durch den Strang verurteilt.
Fehlende Debatte über Radikalisierung in der Ukraine
Die zunehmende Radikalisierung in der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden ist nicht nur beim scheidenden Botschafter der Ukraine, sondern auch im Land selbst zu beobachten. So hatte in den vergangenen Wochen eine schwarze Liste für Spannungen zwischen Berlin und Kiew gesorgt. Auf der Liste waren auch deutsche Wissenschaftler und Politiker aufgeführt. Über eine Stellungnahme der Bundesregierung, die daran auf Nachfrage Kritik übte, hatte Telepolis exklusiv berichtet.
Besonders brisant: Die Aufstellung des "Zentrum für Desinformationsbekämpfung" (CCD) des Ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungsrates führte auch den Vorsitzenden der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, Rolf Mützenich, mit personenbezogenen Daten und Foto auf. CCD-Chef Andrij Schapowalow sprach in diesem Zusammenhang von "Informationsterroristen".
Wenige deutsche Medien hatten sich des Themas angenommen. Der Linken-Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko fragte nach – und erhielt die erwähnte, verhalten kritisch formulierte Antwort der Bundesregierung.
Wenige Tage später dann war die Liste auf der Seite des "Zentrums für Desinformationsbekämpfung" nicht mehr zu erreichen. Mutmaßlich hat die Bundesregierung angesichts der zwar geringen, aber wachsenden Medienaufmerksamkeit Druck auf das CCD und die Regierung Selenskyj ausgeübt.
Eine offene Debatte über diese Entwicklungen aber fehlt – und das ist verheerend. Denn die zunehmend aggressive Haltung ukrainischer Politiker und Diplomaten ist von der öffentlichen Brandmarkung Andersdenkender nicht zu trennen.
Sowohl Melnyks Angriffe als auch wiederholt kursierende schwarze Listen stellen die Rechtsstaatlichkeit der Ukraine in Gänze in Frage – und damit das Narrativ, es ginge bei der Verteidigung des Landes um westliche oder grundsätzlich demokratische Werte.
Die Ukraine kämpft – zu Recht, wie Botschafter Melnyk betont – gegen die andauernde russische Invasion. Das bedeutet aber nicht zwangsweise, dass die Führung in Kiew ein demokratisch agierender Partner und damit gar ein EU-Anwärter sein muss. Eben das ist die Erkenntnis, die der 46-jährige Leiter der diplomatischen Mission in Berlin hinterlässt. Sie muss nur noch Gehör finden.