Düngemittel statt Sanktionen: Europas fatale Abhängigkeit von Russland
Die EU ist süchtig nach billigem russischem Harnstoffdünger. Importe steigen trotz Krieges. Droht eine fatale Abhängigkeit, die Putin ausnutzen könnte?
Rund ein Drittel aller Harnstoffimporte der EU stammt derzeit aus Russland. Damit ist das Land zum wichtigsten EU-Düngemittellieferanten herangewachsen. Es bestehe die reale Gefahr, dass Europa "süchtig nach billigem russischen Harnstoffdünger" werde, klagt Antoine Hoxha, Generaldirektor des Lobbyvereins Fertilizers Europe, der die Düngemittelhersteller in Europa vertritt.
Während Russland 2022/23 noch 1,64 Millionen Tonnen Stickstoffdünger in die EU importierte, waren es von 2023 bis in dieses Jahr 1,78 Millionen Tonnen, glaubt man den Angaben des Lobbyistenverbandes Fertilizer Europe. Demnach liegt das Umsatzvolumen von Dünger und Stickstoffverbindungen hierzulande in diesem Jahr bei rund 3,3 Milliarden Euro.
Zwischen Juli 2023 und Juni 2024 wurden 140.224 Tonnen auf Harnstoff basierende Stickstoff-Dünger aus Russland nach Deutschland eingeführt, berichtet der Industrieverband Agrar (IVA). Damit hat sich die Menge im Vergleich zum Vorjahreszeitraum mehr als verdoppelt.
Die tatsächlichen Zahlen könnten sogar deutlich höher sein. Denn über Sekundärimporte, etwa über Belgien oder die Niederlande, gelangen ebenfalls Düngemittel ins Land.
EU abhängig von russischen Düngemitteln – wie konnte es so weit kommen?
Eigentlich wollte die EU unabhängiger werden von russischer Energie. Allerdings: Stickstoffdünger basiert auf Harnstoff, der aus Erdgas hergestellt wird. Glaubt man den Angaben der Hersteller, entfallen in der Düngemittelproduktion mit 70 bis 80 Prozent der Betriebskosten auf Erdgas.
Der Verzicht auf russisches Gas trieb 2022 die Energiepreise hierzulande in die Höhe. Damit verteuerte sich die energieintensive Produktion von Düngemitteln derart, dass europäische Produzenten diese teilweise aussetzen mussten.
Diese Lücke wurde mit umso mehr russischen Importen gefüllt. Auf diese Weise profitiert Russland von der Energiekrise und ihren hohen Preissprüngen. Hinzu kommt: Weil in Russland der Preis für Erdgas staatlich festgelegt wird, können russische Hersteller deutlich günstiger produzieren als europäische Anbieter.
Überteuerte Preise ließen Absatz von Düngemitteln einbrechen
Bereits einen Monat nach Beginn des Ukraine-Krieges lagen die Erzeugerpreise für Düngemittel hierzulande fast 90 Prozent über dem Vorjahresniveau. Nach Angaben der EU-Kommission führte der Spitzenwert des Gaspreises in der EU im September 2022 dann zu einem Anstieg um fast 150 Prozent.
Fast zwei Drittel der Ammoniakproduktion in der EU, der Schweiz, Norwegen und Großbritannien lagen still, weil sie sich finanziell nicht mehr lohnte. Die Folge war ein verzögerter und reduzierter Einkauf von Düngemitteln bei den Landwirten. Die hohen Preise drückten die Nachfrage. So betrug der Absatz von Stickstoffdüngern in Deutschland im zweiten Quartal 2022 fast 19 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum.
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Neben Russland schränkte auch China seine Düngemittelexporte drastisch ein. Diese Verknappung machte sich bemerkbar durch exorbitant teure Düngemittel, aber auch durch steigende Lebensmittelpreise. Als die Gaspreise später wieder sanken, konnten die ausgefallenen Produktionsmengen aufgrund der gegebenen Kapazitäten nicht nachproduziert werden.
Deutsche Produzenten wandern ins Ausland ab
Ohne die Produktion in Europa werde der Westen von Importen aus anderen, hauptsächlich nicht-demokratischen Ländern wie Russland und seinem Verbündeten Belarus abhängig sein, warnt Petr Cingr gegenüber der Financial Times. Mit einem solchen Einfluss auf die europäische Lebensmittelproduktion "weiß niemand, was Putin tun wird".
Handle die Politik nicht, werde die europäische Produktionskapazität verschwinden, glaubt der Geschäftsführer der SKW Stickstoffwerke Piesteritz. Das SKW Piesteritz nahe Wittenberg ist der bedeutendste deutsche Produktionsstandort von Stickstoffdüngemitteln.
Cingr zufolge verhandelt die SKW bereits über eine Option zur Installation einer Ammoniakanlage in den USA, wo mit viel billigerem Erdgas und Strom versorgt und über den "Inflation Reduction Act" subventioniert werden. Auch der Chemiekonzern BASF habe sein Düngemittelgeschäft in Europa bereits reduziert und investiere wegen der niedrigeren Kosten stattdessen in den USA und China.
Düngemittel aus Russland von Sanktionen ausgenommen
Als es darum ging, Russland mit Sanktionen zu verhängen, wurden alle möglichen Produkte sanktioniert: Öl, Kohle, Stahl, Gold, Holz, selbst Kaviar und Wodka. Russische Düngemittel wurden davon ausgenommen. Die EU sorge sich zu sehr um die Ernährungssicherheit, so die Begründung. Zudem befürchte man einen Aufstand der Bauern wegen zu hoher Düngerpreise.
Derzeit ist es jedem gestattet, mit aus Russland stammenden Düngemitteln zu handeln und diese zu kaufen. Chris Lawson hält es für unwahrscheinlich, dass die EU Sanktionen gegen russische Düngemittel verhängen werde.
Die hohen Düngemittelpreise im Jahr 2022 und die damit einhergehende Bedrohung der Ernährungssicherheit seien den politischen Entscheidungsträgern noch gut im Gedächtnis, glaubt der Leiter des Bereichs Düngemittel bei der Beratungsfirma CRU.
Importverbot für Düngemittel aus Russland wurde abgelehnt
Schätzungen zufolge haben sich allein die russischen Weizenimporte in die EU in den Jahren 2023/2024 auf rund 700.000 Tonnen verdoppelt. Zudem sei "geraubtes Getreide" aus der Ukraine nach Europa verkauft worden, heißt es.
Der Wert der russischen Agrarexporte in die EU belaufe sich damit insgesamt auf mehr als zwei Milliarden Euro. Russland nutze diesen Industriezweig, um seine Kriegskasse zu füllen, warnt die europäische Düngemittellobby.
Ginge es nach CDU/CSU, sollte sich die Bundesregierung für ein "vollumfängliches europäisches Importverbot" für alle Agrargüter, Düngemittel und Lebensmittel aus Russland und Belarus einsetzen. Scharfe Sanktionen im Agrarbereich gegen Russland und Belarus seien mehr als notwendig, damit nicht weiter Milliarden von Euro in die Kriegskasse von Präsident Wladimir Putin gespült würden, so die Begründung der CDU-Abgeordneten.
Doch ein entsprechender Antrag (20/11141) im Bundestag vom 23. April 2024 wurde im Mai abgelehnt. Nicht nur SPD, Grüne und FDP, auch AfD und Linke hatten sich gegen einen Boykott russischer Agrarimporte ausgesprochen.
Könnten gestaffelte Zölle die lokale Industrie schützen?
Es bestehe ein echtes Risiko für Europa, ein "Junkie von russischem billigem Harnstoffdünger" zu werden, erklärte Antoine Hoxha kürzlich gegenüber Bloomberg. Der Generaldirektor von Fertilizers Europe schlägt die Einführung von gestaffelten Zöllen vor, um die lokale Industrie zu schützen, denn diese seien einfacher umzusetzen als Sanktionen.
Der Schwerpunkt Europas müsse sich angesichts der zunehmenden Konflikte in der Welt von der Markteffizienz auf die Versorgungssicherheit verlagern, erklärte Tim Benton, Experte für Lebensmittelsicherheit bei der Denkfabrik Chatham House.
Es gehe auch um die Frage, ob Großbritannien und die EU die lokale Industrie finanziell ermutigen solle, "Zeiten zu überstehen, in denen sie auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig" sei.