EU-Kommission: (Diese) Industriepolitik ist Rüstungspolitik

Seite 2: Bretons Geschichte bei Thales und Atos

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Damit qualifiziert der Werdegang Bretons ihn tatsächlich als zukünftigen Kommissar für Industrie, Rüstung und Weltraum, dessen Aufgabe zugespitzt darin besteht, eine deutsch-französisch dominierte europäische Rüstungsindustrie aufzubauen. Denn das Unternehmen Thomson, an dessen Spitze er vor seinem Wechsel in die Politik als Wirtschaftsminister unter Jacques Chirac von der Regierung berufen wurde, trennte unter seiner Führung die Unterhaltungselektronik von der Rüstungssparte ab. Letztere fusionierte daraufhin zu einem der weltweit größten Rüstungskonzernen, der heute als Thales Group bekannt ist - und seinen deutschen Hauptsitz in Ditzingen bei Stuttgart hat.

Strategische Kooperationen und Joint Ventures ging Thales u.a. mit dem US-Rüstungsunternehmen Raytheon und den französischen Konzernen Alcatel und Dassault ein - letzterer hält aktuell etwa ein Viertel der Anteile von Thales. Aus anderen Sparten des Thomson-Konzerns ging, ebenfalls durch strategische Fusionen, mit STMicroelectronics einer oder gar der größte Chiphersteller in Europa hervor.

Nach seiner Amtszeit als Wirtschaftsminister wechselte Breton an die Spitze des Konzerns Atos, der Endverbraucher*innen meist unbekannt ist, an dem Regierungen und größere Unternehmen bei der Auslagerung von IT-Aufgaben aber kaum vorbeikommen. Atos betreibt eine intensive Lobbyarbeit z.B. für den Aufbau biometrischer Datenbanken, die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung und der öffentlichen Verwaltung, mit der er sein Geld verdient. Auf seiner Homepage beschreibt sich das Unternehmen selbstbewusst als "weltweit führender Anbieter für die digitale Transformation mit über 110.000 Mitarbeitern in 73 Ländern und einem Jahresumsatz von mehr als 11 Milliarden Euro".

Der damalige französische Elektronikkonzern Atos Origin war bereits in den 1990er Jahren aus einer Serie von Fusionen (darunter die IT-Sparte von Philips) hervorgegangen und hatte 2002 wesentliche Teile der Kapital- und Beratungsgesellschaft KPGM übernommen. Weitere Fusionen folgten, doch der größte Coup gelang unter dem Vorsitz von Breton: Atos übernahm 2011 die erst unmittelbar zuvor von Siemens ausgegliederte Sparte für IT-Dienstleistungen, Siemens IT Solutions and Services (SIS) für eine knappe Mrd. Euro - und damit auch den größten Teil der ausgelagerten IT-Infrastruktur der Bundeswehr, darunter den Betrieb ihrer Rechenzentren. Zuvor hatte Atos mit gut 48.000 Beschäftigten einen Jahresumsatz von über 5 Mrd. Euro erzielt, SIS beschäftigte zum Zeitpunkt der Übernahme mehr als 32.000 Beschäftigte bei einem Umsatz von 3,7 Mrd Euro.

Ebenfalls unter Breton erfolgte 2014 die Übernahme des französischen Hardware-Produzenten Bull, bei dem Breton einst die Strategie-Abteilung geleitet hatte. "Der IT-Dienstleister Atos kauft den heimischen Rivalen Bull für 620 Millionen Euro", berichtete das Handelsblatt damals und ergänzte geradezu euphorisch (wenn auch womöglich vorschnell): "In sogenannten Cloud Computing steigt die fusionierte Firma damit gemessen am Umsatz nach Atos-Angaben weltweit zur Nummer zwei nach Amazon und vor Microsoft auf."2 Auch Bull war in der Rüstung tätig und u.a. Anbieter des Battle-Management-Systems über das die Systeme der französischen Luft- und Landstreitkräfte miteinander vernetzt sind und das nun von Atos vertrieben wird.

Aktuell weist die Homepage von Atos 25 Standorte in Deutschland aus. Die Beispiele Stuttgart und Tübingen verdeutlichen, dass auch diese wesentlich durch Übernahmen erschlossen wurden. Der Stuttgarter Standort befindet sich in Sichtweite des deutschen Hauptsitzes von Thales in einem Industriegebiet bei Weilimdorf und gehörte zuvor zu Siemens, den Tübinger Standort übernahm Atos gemeinsam mit dem Software-Entwickler Science & Computing, einem Startup aus dem Umfeld der Universität Tübingen.

Schützenhilfe Forschungsförderung

Claire Demesmay sprach im Interview mit dem Deutschlandfunk auch mögliche "Interessenskonflikte" an, die mit der Personalie Thierry Breton und seiner großen Nähe zur Industrie verbunden sein könnten: "Die Unternehmen, wo er gearbeitet hat und auch dieses aktuelle Unternehmen Atos hatte oder bekommt ziemlich viele EU-Gelder." Das ist einerseits naheliegend, denn als Rüstungsunternehmen und Dienstleister für Daten-Infrastrukturen zählen Thales und Atos natürlich neben Großkonzernen v.a. Regierungen und die EU zu ihren Kunden. Gemeinsam mit Airbus Defence & Space hat Atos etwa im Oktober 2018 einen Sechs-Jahres-Vertrag zur Sicherung der IT von 17 EU-Institutionen unterzeichnet. Womöglich spielte Demesmay auch auf die Forschungsförderung der EU an, von der beide Konzerne umfangreich profitierten.

Die Liste derjenigen Unternehmen, die am umfangreichsten von den maßgeblichen Förderprogrammen, dem Forschungsrahmenprogramm 7 (FP7) und Horizon2020, profitieren, wird von Thales angeführt, auf Platz fünf findet sich Atos (Stand Februar 2017).3 Doch diese Kritik läuft gewissermaßen ins Leere, schließlich war bzw. ist es explizites Ziel der Forschungsprogramme, die "Wettbewerbsfähigkeit" der europäischen Industrie zu fördern und deren Kooperation in Bereichen anzuregen, die als strategisch wichtig erachtet werden.

An zahlreichen Projekten waren (und sind) Thales und Atos gemeinsam beteiligt, darunter verschiedene Projekte zur Zukunft des Internets, zur Cybersicherheit, zu Kommunikationssystemen (von Sicherheitsbehörden), Datenmanagement und Luftraumüberwachung, aber auch recht spezifische Projekte etwa zur teilautomatisierten Grenzsicherung (BODEGA), zur multisensoriellen Überwachung weitläufiger Gebiete (ZONESEC) und zur Detektion kleiner und niedrig fliegender Flugzeuge (ALFA). Eher skurril mutet die Beteiligung von Thales und Atos am Projekt RECOBIA an, mit dem "kognitive Verzerrungen" bei der Informationsverarbeitung im Dialog mit Analyst*innen von Polizei-, Grenzschutz- und Geheimdienstbehörden untersucht werden sollten.

Wie sehr in den Forschungsprogrammen Wissenschaft und Industrieförderung zusammen gedacht werden, offenbart z.B. das Projekt AI4EU, das unter der Führung von Thales eine Plattform und ein Ökosystem für Startups, kleine und mittelständische Unternehmen im Bereich der KI-Entwicklung aufbauen soll. In der Projektbeschreibung heißt es unverblümt: "Künstliche Intelligenz ist eine disruptive Technologie unserer Zeit, von der Auswirkungen vergleichbar mit denen der Elektrizität und des Buchdrucks erwartet werden... Um europäische Unabhängigkeit und Führerschaft zu sichern, müssen wir klug investieren, indem wir unsere KI-Ressourcen bündeln, verbinden und öffnen".

Deutsch-Französische Rüstungsprojekte

Neben der Forschungs- und Technologiepolitik ist natürlich die Rüstung ein geradezu traditionelles Feld der politischen Einflussnahme auf die Industrie. Ein herausragendes Beispiel ist hier sicherlich der Konzern Airbus, der über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten nicht nur aus wettbewerbspolitischen, sondern auch aus rüstungspolitischen Gründen aus verschiedenen europäischen, v.a. deutschen und französischen Unternehmen, zusammenfusioniert und hierzu zwischenzeitlich in den Daimler-Konzern (DASA) integriert wurde. Heute ist Airbus das zweitgrößte Unternehmen im Bereich Luft- und Raumfahrt und seine Militärsparte rangiert auf Platz sieben der größten Rüstungsunternehmen weltweit (ohne China) - unmittelbar vor Thales - als größtes europäisches Rüstungsunternehmen.

Vor dem Hintergrund der Diskussionen um eine europäische Armee und der erklärten Absicht, einen gemeinsamen EU-europäischen Rüstungsmarkt zu schaffen, sind es aktuell v.a. die deutsch-französisch geführten Rüstungsprojekte "Future Combat Air System" (FCAS) und "Main Ground Combat System" (MGCS), welche die grundsätzliche Struktur des Rüstungsmarktes prägen und veranschaulichen.

Das FCAS wird von einem Konsortium bestehend aus Airbus und Dassault entwickelt, weitere europäische Firmen möchten und sollen sich beteiligen. Der Entwicklung des MGCS ging die Fusion des deutschen Panzerbauers Krauss-Maffei-Wegmann (KMW) und seines französischen Pendants, Nexter Systems, voraus, die v.a. von französischer Seite politisch forciert wurde. Es geht dabei nur im engeren Sinne um die Kampfflugzeuge (FCAS) und Panzer (MGCS) der Zukunft.

Im Zentrum der neuen Rüstungsprojekte der EU steht das sog. "Manned-Unmanned-Teaming" bei dem die jeweiligen bemannten Flugzeuge bzw. Fahrzeuge jeweils von einem flexibel integrierbaren Verbund unbemannter und (teil-)autonomer Komponenten - Drohnen und Satelliten - begleitet werden und auch auf Feuerkraft von weit entfernten Waffensystemen zurückgreifen können. Es handelt sich also um hochgradig digitalisierte Systeme, bei denen Kommunikation, Cybersicherheit, (Sensor-)Datenauswertung und Autonomie eine zentrale Rolle spielen sollen. Damit ist absehbar, dass zumindest Thales und wahrscheinlich auch Atos früher oder später einbezogen werden.

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