EU-Kommission darf Polen und Ungarn wegen Rechtsstaatsverstößen Gelder kürzen

Es handelt sich um einen Tritt vor das Schienbein, aber das genaue Verfahren ist noch offen und eine nicht ordnungsgemäße Verwendung von EU-Mitteln muss nachgewiesen werden

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat nun sein Urteil in den Rechtssachen C-156/21 und C-157/21 verkündet. Polen und Ungarn sind mit ihren Versuchen gescheitert, den ohnehin stark verwässerten sogenannten EU-Rechtsstaatsmechanismus vor dem EuGH in Luxemburg zu kippen. Die Klagen richteten sich gegen die "Verordnung über die Konditionalität der Rechtsstaatlichkeit".

Die sogenannte "Konditionalitätsverordnung" ist seit dem vergangenen Jahr in Kraft. Sie ermöglicht es der EU grundsätzlich, "Maßnahmen zum Schutz des Haushalts zu ergreifen, z. B. Die Aussetzung von Zahlungen oder Finanzkorrekturen".

Bekannt ist, dass verschiedene Verfahren gegen Polen und Ungarn wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit angestrengt wurden. Was Polen anbelangt, so geht es um die Justizreform. In verschiedenen Urteilen wurde inzwischen festgestellt, dass damit gegen EU-Recht verstoßen wird. In Ungarn geht es um die Pressefreiheit, um Rechte der Opposition oder von Flüchtlingen.

Gemäß dem Urteil kann die EU-Kommission den EU-Mitgliedsländern nun grundsätzlich EU-Gelder kürzen oder zurückhalten, wenn sie sich nicht an das Rechtsstaatsprinzip halten. Doch so einfach, wie sich das zunächst anhört, ist das natürlich im "EU-Sumpf" nicht.

Telepolis hatte mehrfach betont, dass eigentlich geplant war, grundsätzlich im neuen Haushalt für die Periode zwischen 2021 und 2027 die Zahlungen aus dem EU-Budget an die Einhaltung des Rechtsstaatsprinzips zu binden. Aber dieses Vorhaben wurde im Laufe der Verhandlungen bekanntlich stark verwässert.

Langer Weg

Deshalb ist es ein langer Weg, um tatsächlich zu vermutlich sehr beschränkten Kürzungen zu kommen. Der EuGH in Luxemburg war dabei nur ein erster Zwischenstopp, zu dem man im Fall von Sanktionen vermutlich zurückkehren dürft. Da es Polen und Ungarn in den Verhandlungen nur gelungen war, das Vorhaben zu verwässern, zogen sie schließlich vor den EuGH und sind erst jetzt in Luxemburg gescheitert.

Zwischenzeitlich hatten sie sogar ein Veto gegen den sogenannten "Wiederaufbaufonds" angekündigt. Das hätte die beiden besonders begünstigten Ländern aber besonders viel Geld gekostet.

Wenn es darum geht, tatsächlich zu Mittelkürzungen zu kommen, wird sich der Vorgang noch eine ganze Weile hinziehen. Zunächst ist die Frage, ob die EU überhaupt ein Verfahren einleitet. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will zunächst die Urteilsgründe sorgfältig analysieren und überlegen, welchen Einfluss sie auf die nächsten Schritte haben. Zudem müssen auch noch Richtlinien für die Umsetzung erarbeitet werden. Klar ist, dass im Fall eines Verfahrens die betroffenen Staaten auch Möglichkeit zur Stellungnahme haben und Informationen vorlegen müssen.

Allerdings ist - anders als bei Verfahren nach Artikel 7 -, um einem Land wegen Rechtsstaatsverstößen etwa das Stimmrecht zu entziehen, nun nur noch eine "qualifizierte Mehrheit" nötig und keine Einstimmigkeit mehr. Das ist ein kleiner Fortschritt. Denn bisher konnte Polen ein Veto gegen Sanktionen gegen Ungarn einlegen und Ungarn wiederum gegen Polen-Sanktionen.

Die Auswirkungen sind vermutlich eng begrenzt. Denn die Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip müssen in einem direkten Zusammenhang mit der Haushaltsführung der EU stehen, wie die EU-Kommission erklärt:

"Maßnahmen im Rahmen der Konditionalitätsverordnung können nur vorgeschlagen werden, wenn die Kommission feststellt, dass Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder die finanziellen Interessen der Union hinreichend unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen."

Dass ein Mitgliedsstaat gegen den EU-Vertrag verstößt, also die Menschenwürde missachtet, die Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit nicht wahrt, bietet indes noch keine Handhabe, um ein Verfahren einzuleiten. Das alles muss in Verbindung zu finanziellen Interessen stehen. Denn es geht nicht darum, Verstöße gegen den EU-Vertrag zu sanktionieren, sondern nur darum, den EU-Haushalt zu schützen.

"Die EU kann nun also nicht gleich mit milliardenschweren Zuschusskürzungen auf die Korruption in Ungarn und die zügige Abschaffung unabhängiger Gerichte in Polen reagieren. Sie muss stets deutlich machen, dass hier eine ordnungsgemäße Verwendung von EU-Mitteln gefährdet ist", kommentiert zum Beispiel die Berliner taz das Urteil.

Diese Einschränkung sei unpopulär, weshalb sie von vielen verschwiegen werde, die jetzt das EuGH-Urteil feiern, merkt die taz an. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) verweist darauf, dass das EuGH unterstrichen habe, dass der Mechanismus nur angewendet werden dürfe, "wenn es einen direkten Zusammenhang zwischen bestimmten Maßnahmen eines Landes und einer unmittelbaren, ernsthaften Beeinträchtigung der finanziellen Interessen der Union gebe". Und die müssten sich zudem danach richten, "wie stark sich eine solche Beeinträchtigung auf den EU‑Haushalt auswirkt."

Dazu müssen die Sanktionen sachgerecht, zielgerichtet und verhältnismäßig sein. Die Richter unterstreichen, dass der Mechanismus nicht dazu genutzt werden darf, "um Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit als solche zu ahnden".

Klar ist, dass damit starke Einschränkungen verbunden sind, dass der Nachweis schwer wird und der ganze Vorgang am Ende wieder vor dem EuGH landen dürfte. Sollte es tatsächlich zu Sanktionen kommen, wird das vermutlich Jahre dauern, bis darüber entschieden ist. Aber, wie Telepolis auch immer wieder betont hat: Die Anwendung von Verfahren wurde bisher sehr selektiv nach politischen Kriterien dubios eingesetzt.

Gegen Spanien zum Beispiel, das sogar EU-Parlamentarier nach einem EuGH-Urteil illegal inhaftierte, wo die Justiz ebenfalls stark politisiert ist, sogar Journalisten inhaftiert und gefoltert werden, wie der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg festgestellt hat, fand die EU ganz offensichtlich nie einen Anlass, ein Verfahren einzuleiten.

Solche Ungleichbehandlungen werden die Fliehkräfte in Europa verstärken und tragen nicht zur Glaubwürdigkeit bei, dass es beim Vorgehen gegen Ungarn und Polen um Rechtsstaatsprinzipien geht.