Energiekollaps in der Ukraine: EU befürchtet Flut ukrainischer Kälteflüchtlinge

Zerstörter Hochspannungsturm in der Ukraine

Zerstörter Hochspannungsturm in der Ukraine. Bild: Seneline/ Shutterstock.com

EU besorgt wegen der Energiekrise in der Ukraine. Experten warnen vor Winter. Millionen könnten in EU strömen – doch das ist nicht das einzige Problem. Ein Bericht.

Experten des Europäischen Rates haben sich intern besorgt über die prekäre Energieversorgungssituation in der Ukraine und deren mögliche Folgen im bevorstehenden Winter geäußert. Angesichts der zu erwartenden Kälte und der stark beschädigten Infrastruktur könne es zu einer humanitären Krise und einer erheblichen Binnenmigration kommen. Die Kälteflüchtlinge aus der Ukraine könnten dann auch in die EU drängen, fasste ein beteiligter Diplomat die Prognose der Experten zusammen.

Anhaltende Zerstörung der Energieinfrastruktur

Die EU-Kommission und das Sekretariat der Energy Community bezeichnen die Lage der Energieversorgung in der Ukraine übereinstimmend als angespannt. Die intensiven russischen Angriffe haben ihnen zufolge vor allem seit März 2024 zu einem Verlust von neun Gigawatt (GW) Energieerzeugungskapazität geführt.

Die EU unterstützt die Ukraine mit der "Ukraine Facility" und dem "Ukraine Energy Support Fund", um etwa 4,5 GW Produktionskapazität bis zum Winterbeginn wieder herzustellen. Trotzdem könnten nur etwa 100 bis 200 Megawatt (MW) an grenzüberschreitenden Stromübertragungskapazitäten zusätzlich bereitgestellt werden, heißt es in Brüssel.

Humanitäre und migrationsbezogene Konsequenzen

Die Vertretung Polens, unterstützt von Estland, Litauen und Lettland, äußerte sich nach Angaben von Teilnehmern der Beratungen in der Ratsarbeitsgruppe zu Energiepolitik besorgt über die Konsequenzen dieser Engpässe. Besonders im Osten der Ukraine könne es zu einer humanitären Krise und zur Flucht kommen; dann könnten zwischen vier und elf Millionen Menschen gen Westen fliehen, so ihre Befürchtung.

Diese Krise könnte sich dann auch auf EU-Staaten ausdehnen und dort für Spannungen sorgen. EU-Experten haben die Vermutung geäußert, dass die Angriffe Russlands auf die ukrainische Energieinfrastruktur auch diesem Zweck dienen.

Regionale Unterschiede und Auswirkungen auf die Bevölkerung

Das Sekretariat der Energy Community wies darauf hin, dass insbesondere in Städten Stromunterbrechungen zu Problemen wie Wassermangel in höher gelegenen Etagen und dem Ausfall von Aufzügen führen könnten, was vorwiegend ältere Bürgerinnen und Bürger hart treffen würde.

Durch die Zerstörung von mehr als 80 Prozent der Wärmeinfrastruktur sei auch mit einer erhöhten Belastung der Stromnetze zu rechnen, da verstärkt auf Elektrizität zur Wärmeerzeugung zurückgegriffen werden müsse. Die Lage im Westen der Ukraine sei generell stabiler als im Osten.

Finanzielle und materielle Unterstützung essenziell

Deutschland ist bisher der größte Geber des "Ukraine Energy Support Fund", während andere Mitgliedstaaten wie Frankreich, Italien, die Niederlande und weitere noch keine eigenen Beiträge geleistet haben. Belgien verurteilte bei internen Debatten die Angriffe Russlands und betonte die Notwendigkeit, die Ziele von REPowerEU schnell zu erreichen und Abhängigkeiten im nuklearen Bereich zu verringern.

Deutsche EU-Vertreter bezeichnen es als essenziell, die Ukraine weiterhin mit materiellen und finanziellen Ressourcen zu unterstützen. Die Kommission beobachte die potenziellen Auswirkungen der Energiekrise genau und habe bereits Maßnahmen eingeleitet, darunter ein umfangreiches Fotovoltaik-Programm, um öffentlichen Einrichtungen wie Krankenhäusern Stromkapazitäten zur Verfügung zu stellen, heißt es aus diplomatischen Kreisen. Dennoch stehen einer schnelleren Hilfe Material- und Fachkräftemangel sowie die Gefahr weiterer Angriffe entgegen.

EU-Parlament in Kriegslaune

Die Einschätzung der EU-Ratsexperten steht im deutlichen Widerspruch zu einer Resolution des Europäischen Parlaments vom 19. September. Das Papier ermutigt die Ukraine, "legitime militärische Ziele in Russland anzugreifen". Damit hätten die Abgeordneten nicht nur ihre Kompetenz überschritten, schrieb der EU-Journalist und Telepolis-Autor Eric Bonse. Sie schürten auch die Gefahr einer Eskalation zwischen der EU und Russland.

Diese Aussage ist Teil einer breiteren Forderung nach kontinuierlicher finanzieller und militärischer Unterstützung für die Ukraine durch die EU-Mitgliedsstaaten.

Hintergrund und Inhalt der Resolution

Die Resolution, angenommen mit 425 Ja-Stimmen, 131 Nein-Stimmen und 63 Enthaltungen, betont das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung und kritisiert den Rückgang der bilateralen militärischen Hilfe der EU-Länder für die Ukraine.

Die Abgeordneten verlangen schärfere Sanktionen gegen Russland und seine Verbündeten sowie die Rechenschaftspflicht für Kriegsverbrechen und russische Reparationen als wesentliche Elemente jeder friedlichen Lösung. Auch die Beschlagnahme russischer Staatsvermögen zur Entschädigung der Ukraine für erlittene Schäden wird gefordert.

Kontroverse Standpunkte und mögliche Konsequenzen

Die Resolution wurde von einigen Seiten kritisiert, da Russland die EU nicht direkt angegriffen hat und die Ukraine kein EU-Mitglied ist, so Bonse. Die Aufforderung zu Angriffen auf Russland berge die Gefahr einer Eskalation und könnte als Kriegserklärung interpretiert werden, so die Kritiker. Zudem habe das Europaparlament in der Sicherheitspolitik keine Kompetenzen und verfüge nicht über ein Mandat, Angriffe auf Russland zu fordern.

Fast alle deutschen Europaabgeordneten stimmten für die Resolution, was bedeutet, dass auch Mitglieder der SPD, FDP und Grünen, die Teil der deutschen Regierungskoalition sind, entgegen der Linie von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) abgestimmt haben.

Das Votum der Abgeordneten ist eine deutliche Gegenposition zur Haltung von Scholz, der sich weiterhin gegen die Freigabe von Langstreckenwaffen ausspricht.