Rücktritt Ricarda Lang und Omid Nouripour: Die Grünen haben fertig, jedenfalls vorläufig
Grüne Flucht aus der Verantwortung: Vorstand tritt geschlossen zurück. Das wird weder die Probleme der Partei lösen, noch die der Republik. Kommentar.
Weimarer Verhältnisse in Berlin: Elitenversagen allerorten, wachsende Selbstbeschäftigung der Parteien, eine immer kürzere Schlagzahl von folgenlosen Momenten "steriler Aufgeregtheit" (Georg Simmel), Flucht aus der Verantwortung und die Unfähigkeit zu klaren Entscheidungen.
Denn das, was heute Vormittag auf den ersten Blick wie eine klare Entscheidung erscheinen konnte, ist tatsächlich die Flucht vor ihr.
"Mit größtmöglicher Stärke"
Es war eine sehr überraschende Entwicklung, mit der kein politischer Beobachter gerechnet hatte. Am Morgen lud der Vorstand der Grünen zu einer Presseerklärung und verkündete um 10:30 Uhr den Rücktritt der kompletten Parteispitze.
Zu Beginn der Erklärung sprach dort Omid Nouripour durchaus schlüssig von "Verantwortung" – so wie Christian Lindner immer durchaus schlüssig von "Mut" redet –, und von "der größten Krise der Partei", er sprach von "Deutschlands Rolle in Europa" und davon, dass es "einen Neustart" bei den Grünen brauche.
Aber was heißt "Verantwortung"? Wenn man den "Neustart" der Grünen ins Zentrum stellt, dann geht es noch mehr um Taktik und um die Rolle der Partei und nicht um das Land.
Ricarda Lang sekundierte, "es braucht neue Gesichter". Da hat ganz besonders sie persönlich unbedingt recht. Angesprochen wurde dann noch die Rolle der Grünen in einem Parteisystem, das sich gerade fundamental verändert. Man wolle "mit größtmöglicher Stärke" am Wettbewerb um die Zukunft des Landes teilnehmen. Offenbar sah sich der Grünen-Vorstand aber nicht in der Lage, persönlich etwas zu dieser Stärke beizutragen.
Aber warum eigentlich? Warum trifft man Entscheidungen über die Partei, die im Ergebnis die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit dieser Partei über die nächsten Monate lahmlegen wird, anstatt dort, wo man politische Verantwortung trägt – in der Bundesregierung –, klare Ansagen zu machen?
Das ist auch taktisch nur begrenzt nachvollziehbar. Denn möglicherweise wird es bereits sehr schnell Neuwahlen geben: im Frühjahr, wenn die Koalition vor Weihnachten platzt. Jetzt hat man der FDP die Entscheidung über den Fortbestand der Koalition in die Hände gegeben.
Sachlich wie strategisch falsch
Die Antwort des grünen Vorstands auf die letzten Wochen hätte auch lauten können: Wir ändern unseren Politikstil in dieser und jener Weise und wir erwarten, dass die Ampel die Entscheidung X und die Entscheidung Y bis Weihnachten trifft, ansonsten ist diese Koalition beendet.
Manchmal sind in der Politik derartige "Basta"-Ansagen nötig. Dies wären Schritte zur Politikgestaltung gewesen – ob richtige oder falsche, darüber kann man diskutieren.
Die Entscheidung zum Rücktritts des Vorstands hat dagegen nur Konsequenzen für die Partei. Sie schwächt die Positionen der beiden bisherigen Vorsitzenden bei den anstehenden Verhandlungen der nächsten Wochen.
Neue Vorsitzende der Grünen, die im November gewählt werden, werden sich erst einarbeiten müssen und sie haben dann weniger als zehn Monate Zeit, um einen Wahlkampf vorzubereiten, der zu der genannten "größtmöglichen Stärke" führen soll.
Die Entscheidung des Grünen-Vorstands ist also sachlich wie strategisch falsch. Sie ist ein spontaner emotionaler Akt und daher diktiert von genau dem, was Politik am wenigsten diktieren sollte – Gefühle und Narzissmus. Das ist eine unkluge Entscheidung, eine spontane und emotionale Entscheidung. Politiker sollten aber ihre Emotionen im Griff haben
Vielleicht hat der Rücktritt allerdings auch was damit zu tun, dass sich Nouripour nicht durchsetzen konnte. Ganz offensichtlich wollte er persönlich aus der Ampel raus und einen härteren Kurs gegenüber der FDP fahren.
Fazit: Die Grünen haben die Nerven verloren. Sie haben fertig. Jedenfalls vorläufig.
Überschätzung der eigenen Stärke
Was soll dieses Statement? Es geht in der jetzigen Lage ganz eindeutig darum, dass die Programmatik der Grünen und ihr Politikstil abgewählt wird, nicht die Personen und Omid Nouripour steht ganz bestimmt nicht für den Politikstil, der derzeit mit den Grünen verbunden wird.
Dieser Politikstil zeigt die Grünen als eine Verbotspartei, die ihre politischen Ideen rigide und ohne Rücksicht auf Mehrheiten durchsetzt. Die nicht auf den Willen der Bürger und auf deren Lebensverhältnisse achtet.
Eine Partei, die über Tierrechte redet, aber nicht über die Rechte der Kinder auf eine Kita; die über Heizungsgesetze redet und eine bestimmte Form zu heizen mit Brachialgewalt durchsetzen will, aber ohne ausreichend zu überzeugen, aber nicht über Energiepreise für die Mehrheit.
Eine Partei, die über die bedingungslose Unterstützung für die Ukraine in ihrem Krieg redet, aber nicht über die Inflation und die Finanzierung dieses Krieges mit deutschen Steuergeldern.
Die Überschätzung der eigenen Stärke ist ein zweites großes Problem der Grünen. In der neuesten Umfrage liegen die Grünen bei 9,5 Prozent – Normalmaß, wenn man ehrlich ist.
Denn sie waren bei der Bundestagswahl 2021 nur so stark wegen Fridays for Future und dem augenblicklichen Boom des Klimathemas und trotz einer schon als Kanzlerkandidatin angeschlagenen Annalena Baerbock.
Die 14,7 Prozent 2021 waren seinerzeit schon weniger, als ich viele erwartet hatten. Nur einmal lagen sie zuvor besser als 9,5 Prozent. Das war auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2009, als die Grünen 10,7 Prozent bekamen.
Unfähigkeit der politischen Akteure Lösungen zu finden
Derartige Konsequenzen aus einer kleinen Wahl im Osten Deutschlands zu ziehen ist, wie an dieser Stelle bereits beschrieben, ist eine vollkommene Überschätzung der Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen.
Das Ergebnis der Wahlen im Osten – wenn es überhaupt irgendein ernsthaftes Ergebnis aus dieser Provinzwahl gibt – ist, dass die Grünen und die FDP ihre Politik verändern müssen, nicht dass sie ihr Personal austauschen müssen.
Denn abgewählt wurden die beiden Ampelparteien, die für den Ukraine-Krieg stehen, für die einseitige Unterstützung der Ukraine und eines harten Anti-Russland-Kurses und für den Verzicht auf diplomatische zugunsten militärischer Lösungen.
Was sich hier zeigt, ist allerdings ein interessantes Phänomen: Die Debatte treibt die Politiker, nicht umgekehrt. Auch hier Elitenversagen: Es wäre nämlich Aufgabe der Politiker, die Verhältnisse des politischen Betriebs so zu gestalten, dass sie nicht die Getriebenen, sondern die Treiber der Debatte sind.
Was sich auch zeigt: Die Wähler erschaffen in den Wahlen das Phänomen, das sie kritisieren. Nämlich die Unfähigkeit der politischen Akteure, pragmatische Lösungen und überhaupt Lösungen zu finden.
Sie erschaffen eine Situation, in der es zu immer heterogeneren Regierungskonstellationen kommt, zu immer knapperen Mehrheiten. Damit erschaffen sie eine Situation, in der auch die Exekutive immer handlungsunfähiger wird.
Weimarer Verhältnisse.