Es ist wieder 1994

Die Digitale Stadt Amsterdam ist tot - die Gemeinschaft zum Neuaufbau aber sehr lebendig

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Schon vor falsch durchlochten Stimmzetteln wurde ein Zusammenwachsen von Politik und digitaler Revolution herbeigeträumt. Nur waren die Visionen damals ein wenig visionärer als das elektronische Zettelstanzen. Ein Forum wie seinerzeit in der Polis sollte im Netz entstehen.

Damals, im Januar 1994 wurde in Amsterdam "De Digitale Stad" (DDS) gegründet. Von der Stadtregierung gefördert und von Graswurzel-Aktivisten organisiert sollte das Projekt in den zehn Wochen vor der Stadtratswahl Politiker und Bürger in virtuellen Diskussionsräumen zusammenbringen und durch öffentliche Terminals einen demokratischen Zugang zu neuen Kommunikationsmitteln schaffen.

Die Mutter aller elektronischen Kommunen : Das digitale Amsterdam

Die Digitale Stadt hatte nach den ersten Wochen 10000 aktive Bürger - das Projekt wurde fortgesetzt. Die Visionen wuchsen mit den Nutzerzahlen. "Die Welt kann von den Holländern lernen, geographische und virtuelle Gemeinschaften eng zu verknüpfen", jubelte der Publizist Howard Rheingold. Marleen Stikker, die erste Bürgermeisterin der Digitalen Stadt glaubte gar: "Jeder ist gleich im Netz. Man trifft Menschen die man sonst nie gesehen hätte."

Heute steht die Digitale Stadt vor dem Aus. Am 15. Februar wollen die Bürger in einer Generalversammlung über die Zukunft des inzwischen privatwirtschaftlich organisierten, jedoch nach ökonomischen Kriterien erfolglosen Projekts entscheiden. Die Entwicklung der Digitalen Stadt ist eine pointierte Geschichte des Internet, der Ignoranz und des Ringens um Definitionsmacht von Politik, Wirtschaft und Nutzern.

Am Anfang waren die Hacker. Die niederländische Gruppe Hacktic Netwerk und das soziokulturelle Zentrum De Balie in Amsterdam gründeten Anfang 1994 die Digitale Stadt als ein textbasiertes Mailboxsystem. Die Menschen sollten diskutieren, untereinander und mit ihren zu wählenden Vertretern. Man konnte online Dokumente der Stadtverwaltung abrufen und Anfragen nach spezifischen Informationen abschicken. Das wesentliche Ziel der Initiative war aber ein Zugang zum Internet für die breite Bevölkerung. Modems für Computer waren 1994 noch so wenig verbreitet, dass man vor allem auf öffentliche Terminals in Bibliotheken und Kulturzentren setzte. Als sich das wenig später änderte, waren die hohen Kosten für private Internetzugänge eine neue Hürde. Internetzugang und Email-Adresse waren und sind bei der Digitalen Stadt kostenlos. Hacktic Netwerk gründete noch 1994 einen reinen Internetprovider mit dem programmatischen Namen XS4ALL.

Die staatliche Unterstützung von Stadt und Wirtschaftsministerium für die Digitale Stadt im Anfang war bei den Initiatoren durchaus willkommen. Rückblickend sprechen der Journalist Geert Lovink und Aktivist Patrice Riemens von einem "Nachfolger des öffentlichen Sendesystems" als Antwort auf die Frage, wem letztlich der neue mediale Raum gehört und wer nicht-kommerzielle Kultur garantiere.

Die Digitale Stadt profitierte vom ersten Internet-Hype, den sie in Holland sicher auch stimulierte. Die Anzahl registrierter Nutzer wuchs 48000 im Mai 1996, dann auf 80000 im Mai 1998. Die staatliche Unterstützung wurde nicht allzu schmerzlich vermisst, da die geldbringenden Aktivitäten, wie die Unterstützung kleiner Unternehmen beim Internetauftritt das kostenlose Angebot quersubventionierten.

Die Digitale Stadt war ein Erfolg, den Nutzerzahlen zufolge. Das Alternative in Politik und Kultur hingegen war Stil. Die Metapher der Stadt blieb letztlich auf die Wiedererrichtung bekannter Strukturen beschränkt. In der Digitalen Stadt können Besucher an thematischen Boulevards spazieren und bei entsprechenden Läden oder Informationsangeboten vorbeischauen. Bei politischen Strukturen verhält es sich ähnlich. Schon 1995 beklagte die damalige Bürgermeisterin Marleen Stikker:

"Die Aktivität der Politiker ist nicht überwältigend. Da fehlt es nicht an gutem Willen, sie sind einfach etwas schüchtern, was das neue Medium angeht."

Hier irrte Stikker. Die allmonatliche Teilnahme an einer Diskussion wie dem Format "Question Time" in der Digitalen Stadt entspricht nicht der Idee eines Forums, sondern vielmehr den seit Jahrzehnten bekannten Abenden im Ortverein. In den elektronischen Foren der Digitalen Stadt diskutierten allein Gleichgesinnte über lokale Themen wie die Initiative "autofreies Amsterdam", die Vergrößerung des Flughafens Schipol und ähnliches. Rop Gonggrijp, der Gründer von Hacktic widerspricht:

"DDS war ein politischer Ort. Die Debatte um das Verhältnis von Internet zu Wirtschaft, Politik und Gesellschaft wurde hier und in den Foren von XS4ALL geführt."

Nur: von wem? Reinder Rustema, der Sprecher der heutigen Bewegung zur Rettung der Digitalen Stadt räumt ein: "In DDS haben sich Leute gefunden und organisiert. Politik im Sinne eines Dialoges mit Politikern gab es aber nicht. Die Leute wollten nicht und die Politiker nahmen es nicht ernst und waren nicht präsent." Hinzu kommt, dass die Digitale Stadt nicht einmal die Heterogenität bestehender urbaner Strukturen wiederspiegelte. Eine Studie der Universität Amsterdam von 1998 zeigt, dass der Anteil junger, gebildeter Männer an der Bevölkerung der digitalen Stadt weit höher ist als der an der Bevölkerung Holland.

Inwieweit konnte dieser Raum tatsächlich ein öffentlicher werden? Die demographische Nutzerstruktur betreffend ist das eine Frage der Zugangskosten und der Interfacegestaltung von Computern. Doch ebenso wichtig wie der Zugang ist der Raum selbst. Die Politik die Definitionsmacht hier abgelehnt. Geert Lovink schrieb im vergangenen Jahr:

"Politische Parteien haben sich aus der Debatte um öffentlichen Raum im Cyberspace zurückgezogen. Sie investieren in die Online-Verfügbarkehit eigener Ansichten, doch das ergibt keine öffentliche Plattform."

Dass der ursprüngliche Zustand einer Gesellschaft nicht die Demokratie, sondern der Markt ist, zeigt sich natürlich in politisch nicht definierten Räumen. Die Digitale Stadt existierte im politischen und wirtschaftlichen Raum als Stiftung. Der öffentliche Raum wurde mit auf dem Markt verdientem Geld geschützt. 1997 erwirtschaftete die Digitale Stadt einen Umsatz von einer halben Million Dollar und beschäftigte 25 Angestellte. Das im März 2000 die Organisationsform in eine privatwirtschaftliche umgewandelt wurde, war letztlich eine Formalität. Direkter Joost Flint und sein Partner Chris Göbel waren schon zuvor Unternehmensführer gewesen. Nach einem auch heute noch nicht näher bekannten Vertrag mit dem Aufsichtsrat der Stiftung waren sie es nun auch formal und zudem Eigentümer der Digitalen Stadt. Sie verpflichteten sich im Vertrag zu einer Fortführung der bisherigen kosten- und gewinnlosen Angebote.

1998 war schon XS4ALL an den niederländischen Telekommunikationskonzern KPN verkauft worden. Es war die Zeit der kalifornischen Ideologie aus dem Silicon Valley: Freiheit vom Staat wird mit dem Anspruch auf individuelle Freiheit der 60er und 70er Jahre gleichgesetzt und als Wirtschaftsliberalismus gelebt. Kein Ort schien damals verlassener von staatlichem Einfluss als das Internet. Deshalb sah man hier eine New Economy jenseits bekannter Gesetzmäßigkeiten blühen. Patrice Riemens, Mitinitiator der Bewegung zur Rettung der Digitalen Stadt beschreibt diese Stimmung:

"Die neuen Eigentümer der Digitalen Stadt schauten sich die Anzahl ihrer registrierten Nutzer an und verglichen sie mit den Beträgen, die bei Übernahmen von Mobilfunkunternehmen pro Kunde gezahlt wurden. Heraus kam eine konservative Rechnung von 1000 Gulden multipliziert mit 140000. Wow, wir sind reich, dachten sie."

Flint und Göbel verteilten die Geschäftsbereiche der Digitalen Stadt auf vier Tochterfirmen: DDS City für die eigentliche, verlustbringende Digitale Stadt, DDS Ventures für Bildungsangebote, DDS Services für die Technik und DDS Projects für das Gestalten von kommerziellen Seiten im Internet. DDS Ventures haben Flint und Göbel im Oktober an den niederländischen Verlag Malmberg verkauft, im November wurde das britische Unternehmen Energis Eigentümer von DDS Services. Mit den Gewinnen von DDS Projects ist die Digitale Stadt offenbar nicht zu finanzieren. Ende vergangenen Jahres wurde die Nachrichtenredaktion der Digitalen Stadt aufgelöst. Es gab Gerüchte, Anfang Januar sagte DDS-Eigentümer Joost Flint dann einem niederländischen Computermagazin: "Die Digitale Stadt zu schließen, ist eine realistische Option." Nach ökonomischen Kriterien und Handlungsmustern ist kein öffentlicher Raum zu erhalten. Patrice Riemens:

"Die Idee, die Digitale Stadt durch den dotcom-Wahn querzusubventionieren war nicht schlecht, aber sie hat nicht funktioniert."

Seit einem Beitrag von Reinder Rustemas in einem Internet-Newsforum am 19. Dezember gibt es neue Hoffnung für die Digitale Stadt. Rustemas fragte, warum nicht die Bewohner ihre Stadt übernehmen. Inzwischen hat die viodds (Vereniging in oprichting de Digitale Stad) 400 Mitglieder. 125 diskutieren regelmäßig, 30 haben konkrete Aufgaben übernommen. Am 15. Februar sollen bei einer Generalversammlung der Mitglieder in Amsterdam neue Organisationsstrukturen beschlossen und Verantwortliche gewählt werden. Wahrscheinlich in Form eines Vereins wird die viodds dann offizielle Verhandlungen mit den jetzigen Eigentümern der Digitalen Stadt aufnehmen können. Die haben über ihre Absichten nicht viel verlauten lassen, außer dass sie mit der Digitalen Stadt nicht tolerierbare Verluste machen.

Nachdem Politik und Wirtschaft versagt haben, ist die Frage nach einem öffentlichen Raum im Netz so unbeantwortet wie 1994. Reinder Rustema denkt an eine Finanzierung durch Sponsoren. Patrice Riemens hingegen schlussfolgert aus der Entwicklung: "Es gibt heute genügend kostenlose Anbieter von Internet-Dienstleistungen. Und doch muss man sie bezahlen: Mit seiner Privatsphäre etwa. Man wird mit Werbung überschüttet, die Nutzung des Internets wird protokolliert und persönliche Daten möglicherweise weiterverkauft. Wenige, aber bewusste und aktive Mitglieder täten der Digitalen Stadt gut. Die Geschichte wiederholt sich - oder eben nicht.