Europa am Abgrund? Nato sieht wachsende Gefahr eines Krieges mit Russland

Landkarte, darauf die Fahnen der Nato und von Russland

Bild: Rokas Tenys/ Shutterstock.com

Bündnis schlägt Alarm. Der BND sieht Moskau in Vorbereitung. Experten rechnen in wenigen Jahren mit einer möglichen Konfrontation.

Hochrangige Vertreter der Nato warnen vermehrt vor einer steigenden Kriegsgefahr und einer möglichen Konfrontation mit Russland. Moskau "bereitet sich auf einen Krieg mit dem Westen vor", sagte Bruno Kahl, der Chef des deutschen Auslandsgeheimdienstes BND laut Reuters Ende November.

Der Vorsitzende des Nato-Militärausschusses, der niederländische Admiral Rob Bauer, drängte die Wirtschaft indes, sich auf ein "Kriegsszenario" einzustellen.

Bauer forderte bei einer Veranstaltung des Think-Tanks "European Policy Centre" in Brüssel Unternehmen dazu auf, ihre Produktion und Lieferketten anzupassen, um weniger erpressbar durch Länder wie Russland und China zu sein.

Abschreckung sei als Konzept zu verstehen, so Bauer, das weit über militärische Fähigkeiten hinausgehe. Im Krieg würden alle verfügbaren Instrumente eingesetzt:

Wir sehen das an der wachsenden Zahl von Sabotageakten, und Europa hat das an der Energieversorgung gesehen. Wir dachten, wir hätten einen Deal mit Gazprom, aber in Wirklichkeit hatten wir einen Deal mit Herrn Putin. Und dasselbe gilt für Infrastruktur und Waren, die sich in chinesischem Besitz befinden. Wir haben tatsächlich einen Deal mit (dem chinesischen Präsidenten) Xi (Jinping).

Rob Bauer

Nur so könne gewährleistet werden, dass die Versorgung mit kritischen Gütern und Dienstleistungen im Kriegsfall aufrechterhalten bleibt. Laut Bauer wird Abschreckung nicht nur durch militärische Fähigkeiten erreicht, sondern auch durch wirtschaftliche Resilienz. Unternehmen müssten sich im Klaren sein, dass ihre kommerziellen Entscheidungen strategische Konsequenzen für die Sicherheit ihrer Nationen haben.

Wohl kein großer Angriff

Die erhöhte Kriegsgefahr ergibt sich aus der Sicht des Bündnisses vorwiegend aus dem russischen Angriff auf die Ukraine. Zwar hält die Nato aktuell einen großflächigen Angriff Russlands auf Nato-Territorium für unwahrscheinlich. Doch Moskau könnte laut Experten mit begrenzten Vorstößen oder hybriden Taktiken die Entschlossenheit des Bündnisses testen.

Der ehemalige Kommandeur des multinationalen Nato-Korps Nordost in Polen, Generalleutnant Jürgen-Joachim von Sandrart, sagte gegenüber Newsweek, es gebe für Russland "mehrere Möglichkeiten, den Zusammenhalt der Allianz auf die Probe zu stellen", darunter begrenzte Landnahmen.

Führende Militärs und Politiker in der Nato rechnen in den nächsten sechs bis acht Jahren mit einer möglichen Konfrontation mit Russland, wenn die Militärreform des Kremls Früchte trägt. Schon jetzt bereiten sich viele europäische Nato-Länder, vor allem im Osten, sichtbar auf einen potenziellen Krieg vor – mit dem Ausbau von Grenzanlagen, Bunkern, Flugabwehr und Evakuierungsplänen für die Bevölkerung.

Währenddessen hinken einige westliche Mitglieder wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien bei Verteidigungsausgaben und Vorbereitungen noch hinterher.

Reform der Armee in Russland

Die Nato sieht sich also mit einer wachsenden Eskalationsgefahr konfrontiert. Ein großer konventioneller Krieg ist zwar aktuell noch unwahrscheinlich, kann mittelfristig aber nicht ausgeschlossen werden, wenn Russland seine Armee erfolgreich reformiert.

Kurzfristig könnte der Kreml die Entschlossenheit der Allianz mit begrenzten Angriffen oder hybriden Taktiken testen. Um dem zu begegnen, sind laut Experten wie Admiral Bauer nicht nur höhere Rüstungsausgaben und militärische Abschreckung nötig, sondern auch die Vorbereitung der Wirtschaft und Gesellschaft auf ein mögliches "Kriegsszenario".

Die Geschlossenheit der Nato im Ukraine-Krieg macht einen heißen Konflikt vorerst unwahrscheinlich, die Gefahr einer Eskalation bleibt aber bestehen.

Bereits Mitte November hatte sich Admiral Bauer zu Wort gemeldet. Die Angst vor einem Einsatz von Atomwaffen durch Russland, so seine These, habe westliche Staats- und Regierungschefs bisher davon abgehalten, eigene Truppen zur Unterstützung der Ukraine in den Krieg zu schicken. Das sagte der Niederländer auf einer vom International Institute for Strategic Studies (IISS) organisierten Diskussion.

Bauer erklärte, dass die Taliban in Afghanistan, gegen die Nato-Truppen kämpften, im Gegensatz zu Russland keine Atomwaffen besaßen. Dies sei ein entscheidender Unterschied und Risikofaktor, den die Allianz berücksichtigen müsse. Wörtlich sagte Admiral Bauer:

Es ist immer einfach, im Nachhinein zu sagen, dass (die Angst) dumm war, aber wenn man die Verantwortung für dieses Risiko übernehmen muss, ist es eine andere Diskussion.

Admiral Rob Bauer, dem Vorsitzender des Nato-Militärausschusses

Zu Beginn des Krieges hätten die Staats- und Regierungschefs westlicher Staaten laut Bauer noch gezögert, die "roten Linien" des Kremls zu überschreiten. Inzwischen habe die Ukraine jedoch fast das gesamte Waffenspektrum erhalten, bis zu F-16-Kampfjets.

Der Admiral betonte, dass die Nato sicherlich in der Ukraine interveniert und Russland hinausgedrängt hätte, wenn Moskau keine Atomwaffen besäße. Doch die nukleare Bedrohung durch den Kreml habe die Situation grundlegend verändert und zu einer vorsichtigen Herangehensweise geführt.