Europa am Abgrund: Wie globale Wirren und interne Zerwürfnisse das System gefährden
Europas Demokratie steht vor ernsten Bedrohungen. Globale Krisen und innere Konflikte setzen das System unter Druck. Können die EU-Staaten den Zerfall noch aufhalten?
Trotz vieler Besonderheiten und zum Teil erheblicher nationaler Unterschiede: Die Demokratien Europas gelten international nach wie vor als vorbildlich. Aber auch für ihre Praxis gilt: Die großen Entwicklungen der Demokratie weltweit werden auch die europäischen Gesellschaftskonzeptionen beeinflussen.
Die Demokratie als Politik- und Wertesystem sieht sich heute – auch aus Sicht ihrer Verfechter – mit fünf grundlegenden Problemen konfrontiert.
Erstens gerät die Demokratie durch den globalen Wettbewerb mit nach außen erfolgreichen autoritären Systemen unter Druck. Diese schreiben sich Zukünfte – und Zukunftsbereitschaft – immer wirksamer auf ihre Fahnen, während Demokratien eher in der Kultivierung von Vergangenheiten zu stagnieren scheinen.
Wachsender Konkurrenzdruck kommt – trotz eigener interner Probleme – aus China, aus Arabien, aus Lateinamerika. Obwohl diese Systeme selbst unter größerem Druck stehen als oft angenommen, erzeugen sie langfristige Abhängigkeiten für europäische Länder, etwa in Ost- und Südosteuropa, die das dortige politische System beeinflussen.
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Zweitens scheint die künstliche Intelligenz, wenn sie nicht genauer reguliert wird, die Demokratie einzuschränken oder sogar allmählich auszuhöhlen. Sie lädt dazu ein, Entscheidungen auf der Grundlage mathematischer Berechnungen von prozentualen Erfolgswahrscheinlichkeiten zu treffen – und nicht auf der Grundlage von Mehrheits- und Konsensfindung, Dialog und Partizipation.
Künstliche Intelligenz stellt Effizienz und Geschwindigkeit über Partizipation. Deshalb ist Demokratie für Künstliche Intelligenz naturgemäß allenfalls ein Nebengeräusch. Bisher hat noch keine Gesellschaft überzeugende Wege gefunden, Künstliche Intelligenz in den Dienst der Demokratie zu stellen.
Demokratie erscheint wenig erfolgreich
Drittens erscheint die Demokratie heute vielen Bürgern in ihren Auswahlkriterien wenig erfolgreich. Das System bringt – wie in den USA – Spitzenvertreter hervor, die partei- und ideologieübergreifenden Mehrheiten immer wieder als ungeeignet (wie Joe Biden) oder gar antidemokratisch (wie Donald Trump) erscheinen.
Dies verweist auf Probleme mit der öffentlichen Mechanik, die das heutige demokratische System inmitten einer allgegenwärtigen Echtzeit-Medienlandschaft erzeugt – und mit den Persönlichkeiten, die es für Karrieren auswählt und nach oben spült.
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Viertens befinden sich viele west- und nordeuropäische EU-Staaten – wie Frankreich, Deutschland, die Niederlande und die skandinavischen Länder – in einer konservativen Wende. Auch wenn direkte Kausalzuschreibungen nicht greifen, kann diese Wende im Kern als Antwort auf die "starke", zum Teil militante und mit Tabus der politischen Korrektheit operierende Linkspolitik der vergangenen Jahre gelesen werden – etwa in der Migrations-, Sozial- und Industriepolitik. Die Phase einer aktiven EU-Erweiterungspolitik ist damit vorerst zu Ende und die Konsolidierung in den Vordergrund gerückt.
Fünftens schließlich zeigt die Demokratie Gefährdungssymptome von innen. Was im Fachjargon "state capture" (etwa: Staatsvereinnahmung) genannt wird, hat mit der "neuen Cäsarenpolitik" zu tun: Demokratisch gewählte Persönlichkeiten werden autoritär und vereinnahmen den Staat, indem sie die Institutionen – etwa die Gerichte – von Gegnern säubern und mit eigenen Parteigängern besetzen und zugleich die Rolle der Institutionen einschränken, wie in Ungarn.
Kultur wird zerstört
Dazu gehört auch die Anpassung der Kultur an die eigene Partei, indem Institutionen neu besetzt und andere, darunter Universitäten, zur Abwanderung veranlasst werden. In Ungarn wurde die wichtigste Universität des Landes, die Central European University, zur Abwanderung nach Wien gedrängt – und an ihrer Stelle die chinesische Fudan-Universität zur Ansiedlung eingeladen. Diese bringt ihre eigenen autoritären Sozialwissenschaften in die EU, die mit europäischen Standards wenig zu tun haben.
Alle fünf Faktoren zusammengenommen – der Erfolg technologisch effizienter autoritärer Systeme, die Revolution der künstlichen Intelligenz, das Selektionsproblem, die konservative Wende und die Vereinnahmung des Staates von innen – sind heute fundamentale Herausforderungen für die Demokratie.
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Das europäische System offener Gesellschaften muss diese fünf Herausforderungen jetzt ernst nehmen, wenn es nicht auf noch größere Verwerfungen zusteuern will. Das betrifft nicht nur die einzelnen Nationalstaaten, sondern auch die EU als Ganzes, die das bisher komplexeste Konstrukt der Demokratie ist: eine Demokratie der Demokratien.
Der Weg ist klar: Stärkung der politischen Mitte durch Selbstbeschränkung. Demokratie muss sich von der Verführung befreien, "starke" Politik "schnell" auch gegen größere Minderheiten durchzusetzen. Sie muss wieder stärker von einer Wettbewerbs- zu einer Konsensdemokratie werden.
Und sie muss sich selbst Grenzen setzen – der institutionellen Komplexität, der Bürokratie, den idealistischen Ansprüchen -, um der Vernunft und der Mitte Zeit zur Konsolidierung zu geben. Vor allem muss die Demokratie die fünf Herausforderungen durch interne Reformen angehen, um eine Phase der Beruhigung einzuleiten.
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Viele Politikbereiche, die die Bürger in ihrem Alltag beschäftigen, benötigen jetzt eine neue Mitte. Sicherheit, Migration und Asyl, Energiewende, Gesundheit – einschließlich Lebensqualität und Lebensverlängerung -, Wohnungs- und Einkommenspolitik, aber auch Rechtssicherheit und Vertrauen in die Institutionen: In vielen Bereichen werden Demokratien von ihren Bürgern als ideologisch einseitig oder überzogen – und damit unrealistisch – oder als entscheidungsschwach, schwerfällig und bürgerfern wahrgenommen.
Viele empfinden die Demokratie in Teilbereichen auch als zu egoistisch, von Gruppen vereinnahmt oder auf Teilbereiche konzentriert. Das gilt für die Medien, die Mobilität oder die Tourismusentwicklung. Was vielen aber am meisten fehlt, ist die Förderung des grundlegenden gesellschaftlichen Unternehmungsgeistes und die Einbeziehung der Jugend in die Zukunft der Demokratie, ihre Ausrichtung und Weiterentwicklung.
Wenn die Demokratie tatsächlich in so vielen Teilbereichen gleichzeitig in der Krise wäre, würde dies auf ein grundsätzliches Problem ihrer Funktionsfähigkeit in der heutigen Zeit hinweisen. Der technologische Strukturwandel spielt dabei eine große Rolle – etwa durch Informationsüberflutung und Fake News.
Vernachlässigung der gesellschaftlichen Mitte
Die negative Wahrnehmung hat aber noch mehr mit der bisherigen Vernachlässigung der gesellschaftlichen Mitte zu tun: Politiken gegenüber Identitäts- und Lebensstilminderheiten, die weniger als zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, standen jahrzehntelang im Zentrum der europäischen und westlichen Debatte.
Sie vernachlässigten jedoch die Erwartungen der "mittleren" Mehrheiten, einschließlich der sozialen Mittelschicht, die traditionell eher wirtschaftliche als identitäre Belange in den Vordergrund stellt.
Taubheit gegenüber Maß und Mitte war allzu lange weniger in kleinen Gemeinschaften als vielmehr in den großen europäischen Staaten zu beobachten. Das soll sich nun ändern. Und zur "Vermittlung" von Demokratie sollten neue Sozialpartnerschaften ins Zentrum rücken. In welcher Hinsicht?
Tatsache ist, dass der gesellschaftliche Umgang mit Irreversibilität für viele Bürger heute wichtiger ist als je zuvor. Immer mehr entscheidende Entwicklungen der Demokratie – wie die Bevölkerungszusammensetzung durch Alterspyramide und Migration oder die Revolution der künstlichen Intelligenz, die die Entscheidungsvorbereitung übernimmt – erscheinen in ihren langfristigen Auswirkungen kaum noch umkehrbar.
Künftige Generationen werden damit leben müssen, unabhängig davon, wie sie dazu stehen. Solche irreversiblen Entwicklungen erfordern daher nicht nur Mehrheits-Minderheits-Entscheidungen in Parlamenten, sondern flankierend auch neue Sozialpartnerschaften und Gesellschaftsverträge. Denn politische Mehrheiten wechseln in Demokratien schnell, einmal getroffene unumkehrbare Entscheidungen gelten aber weit darüber hinaus und für alle.
So ist, um nur das heute in vielen europäischen Ländern wahlentscheidende Thema zu nennen, eine Sozialpartnerschaft zur Migration längst überfällig. Denn das Thema entfaltet in der gegenwärtigen Größenordnung aus Sicht von Teilen der Bevölkerung zum Teil irreversible Wirkungen auf das demokratische Gemeinwesen, die nicht von wechselnden Mehrheiten allein für alle "für alle Zeiten" entschieden werden sollten.
Ähnliches gilt für andere zentrale Entwicklungsfelder, etwa den weiteren Umgang mit Künstlicher Intelligenz und Chatbots in Gesellschaft, Wissenschaft und öffentlicher Debatte.
Demokratie ist auf Inklusion angewiesen, die nicht automatisch Mehrheitslogiken folgt. Die Demokratie muss daher flankierend zu Wahlen rechtzeitig neue, zivilgesellschaftliche Sozialpartnerschaften im Sinne von Aushandlungs- und Inklusionsprozessen zu viel mehr Problemfeldern als bisher generieren, gerade um ihren institutionellen Kern zu schützen.
Die Demokratie befindet sich derzeit international in einer Schwellensituation, wie die Entwicklungen in den USA, Ost- und Südosteuropa, Indien oder Afrika zeigen. Auch die EU wird davon nicht unberührt bleiben, wenngleich kleinräumige Vielfalt und eine in vielen EU-Mitgliedstaaten hoch entwickelte Sozialpartnerschaft – in Mitteleuropa durch den Ansatz der sozialen Marktwirtschaft – Schutz bieten.
Aber auch in Mitteleuropa zeigen sich in jüngster Zeit Risse im System und eine Erosion der politischen Mitte. Mögliche Unumkehrbarkeit in der Systementwicklung sollten auch hier zu neuen Sozialpartnerschaften führen - neben Mehr- und Minderheitslogiken.
Die Schwerpunkte für neue Sozialpartnerschaften sind in den verschiedenen Demokratien Europas unterschiedlich. Aber alle Gemeinwesen brauchen sie – um durch Selbstbegrenzung und Mäßigung das gemeinsame Europa in der Wahrnehmung seiner Bürger zusammenzuhalten.
Sicher ist, dass die Demokratie in Europa und weltweit in den kommenden Jahren vor Herausforderungen steht, die sie als Gesellschaftsform auf den Prüfstand stellen werden. Wer darauf mit "Augen zu und durch" reagiert, könnte die Demokratie noch mehr infrage stellen, als das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz sie in den kommenden Jahren verändern wird. Mäßigung und eine neue Mitte sind gefragt. Das gilt für das Modell der offenen Gesellschaft weltweit, das gilt auch für Europa.
Roland Benedikter ist Politikwissenschaftler und Soziologe bei Eurac Research in Bozen.