Europäische Energiepolitik: Von einem Problem zum nächsten taumeln

Geflanschte Verbindung einer Pipeline. Bild: Wikimedia/CC BY-SA 3.0

Sanktionen sollten Russland schwächen, das aber nun für deutlich geringere Lieferungen mehr Geld erhält. Eilig soll jetzt die MidCat-Pipeline fertiggestellt werden, doch: Woher soll das Gas kommen?

Eine Krise, wie wir sie derzeit erleben, hat nicht nur Schattenseiten. Gut daran ist, dass sie schonungslos bisher versteckt dahingärende Probleme offenlegt. Das zeigt sich etwa an der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), die uns im Euroraum fast schon zweistellige Inflationsraten beschert. Sie wird uns, wie es aussieht, in eine gefährliche Stagflation drücken, da die hohe Inflation der Bevölkerung Kaufkraft raubt und die Konjunktur abwürgt.

Ein besonders schwieriges Problemfeld, das eng mit der Inflation verknüpft ist, ist die Energiepolitik. Die Energieknappheit trägt dazu bei, dass die Energiepreise steigen. Sie treiben die Inflation besonders und nachhaltig an. Denn hohe Energiepreise lassen erst zeitversetzt Preise für Waren und Dienstleistungen steigen. Das werden immer mehr Verbrauchern sehr teuer und schmerzhaft zu spüren bekommen. Noch ist es relativ still.

Das dicke Ende, die hohen und unbezahlbaren Rechnungen, wird für viele Menschen erst noch kommen. Das wird dann erst im Winter dazu führen, dass sich viele Menschen eine warme Wohnung schlicht nicht werden leisten können und das wird die Wirtschaft dann sehr deutlich belasten.

Verantwortlich für die hohe Inflation sind auch hohe "vom Himmel fallende Milliardengewinne", wie sogenannte Windfall Profits für große Energieunternehmen auch genannt werden. Dahinter steckt eine irre Struktur, die natürlich politisch gewollt war und ist.

Das absurde Merit-Order-System

Wir leisten uns das absurde Merit-Order-System über das in der EU die Strompreise bestimmt werden. Das läuft ungefähr so: Zunächst werden Kraftwerke mit den sogenannten niedrigsten Grenzkosten eingeschaltet. Dann werden weitere Erzeugungsarten mit immer höheren Grenzkosten zugeschaltet, bis die Nachfrage schließlich gedeckt ist.

Absurd an der Geschichte ist, dass die zuletzt zugeschaltete Erzeugungsart den Strompreis bestimmt. Das ist derzeit das extrem teure Gas. Es wird nicht der Durchschnitt errechnet, sondern immer der höchste Preis bezahlt.

Übertragen wir das System auf einen Gang ins Restaurant. In diesem absurden EU-Restaurant kann nicht jeder Kunde sein einzelnes Essen bezahlen. Isst ein Kunde einen billigen Hamburger, der für Windstrom stehen könnte, während ein anderer mit einem T-Bone-Steak schließlich Kohlestrom bestellt. Da noch immer nicht alle Gäste bedient sind, bestellt der letzte sich Kaviar (Gas). Demnach müssen alle Esser in dem Restaurant den Kaviar-Preis bezahlen, auch wenn sie nur den Hamburger gegessen haben.

Die Spekulation

Dazu kommt natürlich auch noch inflationstreibende Spekulation, worauf an dieser Stelle schon früh hingewiesen wurde. Die Einschätzung vom Frühjahr lässt sich nun an den Bilanzen der Energiefirmen ablesen. Rekordgewinne schreiben auch die, auf die nur bedingt Windfall Profits vom Himmel regnen.

Shell, der größte Ölkonzern Europas, hat im zweiten Quartal diese Jahres einen bereinigten Gewinn von 11,5 Milliarden Dollar eingefahren. Der Konzern übertraf damit sogar noch den Rekordgewinn von 9,1 Milliarden Dollar. Muss man noch anfügen, dass der im ersten Quartal 2022 generiert wurde? Bei TotalEnergies hat er sich trotz Abschreibungen in Russland auf 5,7 Milliarden Dollar immerhin fast noch verdreifacht.

Diese Gewinne kann man Kriegsgewinne nennen. Die hohen Preise lassen sich aber ursächlich nicht mit dem Ukraine-Krieg begründen. Der dient nur zur Ausrede, die auch die EZB gerne bemüht, um von ihrer verrückten Geldpolitik in den letzten 14 Jahren abzulenken. Sie tut so, als hätte die unendliche Geldschwemme mit der hohen Inflation nichts zu tun.

Ein hoher Preis wurde den Verbrauchern von den Energiekonzernen nicht wegen hoher Öl- oder Gaspreise abgenommen, sondern weil sie bereit waren, ihn zu zahlen, und weil der vom Oligopol durchsetzbar war, da Kartellämter zahnlos sind.

Nur ein kleiner Hinweis reicht hier: Zu keinem Zeitpunkt hat sich der Ölpreis auch nur dem Allzeitrekord von fast 150 Dollar pro Barrel genähert. Im Jahr 2008 kostete das Barrel Öl fast so viel, ohne dass die Spritpreise Höchstwerte wie jetzt erreicht hätten. Im Juli 2008 stieg der Dieselpreis im Durchschnitt auf den Höchstpreis von knapp 1,54 Euro. Derzeit kostet ein Barrel Öl aber nicht einmal 100 Euro.

Tankrabatte

Ein Blick auf die Tankstellenpreise macht sofort deutlich, woher die Rekordgewinne von Shell und Co kommen. Die werden über Tankrabatte – auch noch mit der Gießkanne auch für Großverdiener –auch noch staatlich subventioniert, statt sie über vernünftige Kartellgesetze zu beseitigen. Was für die Verbraucher hohe Preise sind, sind explodierende Gewinne für die Energiekonzernen.

Wer also effektiv Inflation bekämpfen will, zerschlägt das Oligopol und schafft ein Kartellrecht, welches den Namen verdient. Abgeschafft würde dann auch das absurde Merit-Order-System, dass zu Milliardengewinnen führt, die vom Himmel fallen.

Zugegeben, sogar dabei geht es noch absurder. So bittet Spanien einfachen Menschen besonders schnell und besonders stark zur Kasse. Hier richtet sich der Strompreis sogar nach dem Gaspreis, auch wenn kein einziges Gaskraftwerk angeschaltet werden musste.

Die Übergewinnsteuer müsste 100 Prozent betragen

Der Verbraucher – und Wähler – sollte sich von einer Debatte um eine "Übergewinnsteuer" nicht vom wirklichen Problem ablenken lassen. Würden die Übergewinne mit 25 Prozent besteuert, wie es Italien macht, blieben inflationstreibende 75 Prozent in den Säckeln des Energieoligopols hängen.

Wieso hat sonst ein neoliberaler Mario Draghi diese Steuer eingeführt? Wenn überhaupt, müsste die Übergewinnsteuer 100 Prozent betragen. Außerdem müsste erst ein vernünftiges Steuersystem für multinationale Firmen geschaffen, Steuerlöcher gestopft und Steuerparadiese – allen voran mitten in der EU wie zum Beispiel Luxemburg – ausgetrocknet werden.

Soweit nur einige Aspekte aus einer absurden Energiepolitik, die man einfach weiter so betreibt und nicht beseitigt. Dazu kommt das Atomdesaster in Frankreich. Da nur die Hälfte des altersschwachen und rissigen Atomparks läuft, muss extrem viel Strom in Europa einkauft werden, worüber die Preise für alle Verbraucher in Europa hochgetrieben werden.

"Absurdistan Frankreich"

Da sich der Atomkonzern derartig tief in die Sackgasse manövriert hat, stapeln sich beim zweitgrößten Stromkonzern weltweit immer höhere Verluste. Wegen einer erratischen Energiepolitik muss die EDF zur Rettung nun vollständig verstaatlicht werden.

Immer mehr Strom muss die EDF teuer zukaufen. Da der Strompreis aber in Frankreich gedeckelt ist, sonst würden die Verbraucher erkennen, dass billiger Atomstrom ein Märchen ist, verlangt die EDF vom Staat nun 8,34 Milliarden Euro Entschädigung für Einnahmeausfälle.

Doch immer neue Reaktoren müssen heruntergeregelt werden, die eigentlich abgeschaltet werden müssten, da Flüsse längst überhitzt sind und für ein Absterben der Flora und Fauna sorgen. Das soll, so hat die EU inzwischen auch beschlossen, eine nachhaltige umweltschonende Energiegewinnung sein. Die verbraucht in Frankreich fast ein Viertel des sehr knappen Trinkwassers.

Wegen der extremen Dürre fehlt es nicht nur überall an Trinkwasser, sondern auch an Kühlwasser für die Reaktoren. Einige Flüsse wie die Loire führen nur noch extrem niedrigeres Wasser. Aber es kann noch schlimmer kommen. Man kann nur hoffen, dass die Atomaufsicht einrechnet, dass die Meiler auch noch viel Kühlwasser benötigen, wenn sie abgeschaltet werden.

Sonst droht die Kernschmelze, der Super-Gau. Bisher sind fünf Meiler wegen Kühlproblemen nur heruntergeregelt, da Frankreich jedes Megawatt braucht und nicht extrem teuer im Ausland zukaufen will.

Neu im "Absurdistan Frankreich" ist, dass der Staat für die Verstaatlichung der restlichen 16 Prozent der Aktien nun wohl etwa 24 Milliarden Euro aufbringen muss, um die Aktien einer Firma zurückzukaufen, die real pleite ist, weshalb eigentlich auch die Aktien nichts mehr wert sein dürften. Der Börsenwert wird nur dadurch künstlich erzeugt, weil der Staat hinter der EDF steht und garantiert.

Einmal mehr werden private Investoren – wie Blackrock – teuer für die Steuerzahler herausgekauft. Am Märchen des angeblich billigen Atomstroms wird in Paris nicht gerüttelt. Das soll auch in Brüssel nicht geschehen, wo Atomkraft sogar das EU-Taxonomiesiegel bekommen hat, was natürlich mit der Atombombe zu tun hat: Frankreich ist die letzte verbliebene Atommacht in der EU.

Die Russland-Sanktionen und die Rettungs-Pipeline

Ein weiterer Punkt der absurden Energiepolitik sind nach Auffassung des Autors die Sanktionen gegen Russland, die vor allem dazu führen, dass die Energiepreise für die Verbraucher steigen, ohne auch nur die geringste Wirkung auf das angebliche Ziel zu entfalten.

Wertmäßig sind trotz der Sanktionen die Wareneinfuhren aus Russland nach Deutschland im ersten Halbjahr dieses Jahres sogar um mehr als 50 Prozent auf 22,6 Milliarden Euro gestiegen. Das hat das Statistische Bundesamt in Wiesbaden am Freitag mitgeteilt. "Mengenmäßig sanken die Einfuhren aus Russland jedoch um 24,0 Prozent gegenüber dem 1. Halbjahr 2021."

Um es in einer einfacheren Sprache übersetzt auszudrücken. Russland, dass über die Sanktionen geschwächt werden soll, hat etwa ein Viertel weniger – vor allem Öl und Gas – geliefert, dafür hat das Land aber deutlich mehr Geld bekommen. Ein rundes Geschäft für Russland, ein Knieschuss für Deutschland? Den bezahlen natürlich die Verbraucher teuer.

Um die Gasabhängigkeit von Russland zu senken, soll nun – wieder einmal – auf Gas aus anderen Quellen gesetzt werden. MidCat-Pipeline zur Befreiung von der russischen Gas-Abhängigkeit?, fragte Telepolis Anfang März.

Sechs Monate sind seither ins Land gegangen. Nun erkennt offenbar auch Bundeskanzler Olaf Scholz, dass es da doch schon eine Pipeline gibt, die von der größten Regasifizierungsanlage im Hafen Barcelona schon bis an den Rand der Pyrenäen gelegt wurde. Die Röhre wurde bis Hostalric verlegt, insgesamt etwa eine halbe Milliarde Euro wurden schon in das Projekt gesteckt.

Deshalb will Scholz, ohne das Wort MidCat in den Wort zu nehmen, den Bau einer Pipeline von Portugal und Spanien über Frankreich nach Mitteleuropa einsetzen. Doch er weiß um das MidCat-Projekt. Denn er erwähnte, dass eine solche Pipeline längst hätte gebaut werden sollen, die nun vermisst werde, wie Scholz am Donnerstag bei seiner Sommerpressekonferenz in Berlin bekundete.

Die Pipeline würde jetzt "einen massiven Beitrag zur Entlastung und Entspannung der Versorgungslage" leisten. Er habe deshalb bei seinen Kollegen in Spanien, Portugal und Frankreich sowie bei EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen "sehr dafür geworben, dass wir zum Beispiel ein solches Projekt anpacken". Ja, die Pipeline würde das leisten, könnte sie auch, wenn die Sozialdemokraten-Kollegen in Madrid sie nicht gestoppt hätten.

Wie sich Marktbedürfnisse ändern

Dabei war MidCat einst ein "prioritäres" Infrastrukturprojekt der EU. Denn in Spanien und Portugal finden sich acht Regasifizierungsanlagen und damit etwa ein Drittel der gesamten europäischen Kapazität. Doch mit fadenscheinigen Begründungen wurde das Projekt 2019 vor allem auf Druck von den Genossen aus Madrid gestoppt. Es entspreche "nicht den Marktbedürfnissen", wurde erklärt und es sei "nicht ausgereift genug, um berücksichtigt zu werden", wurde als Ausrede für eine politische Entscheidung angefügt.

Denn es war, wieder einmal, eine kurzfristige politische Entscheidung aus Spanien im Dauerkrieg mit dem abtrünnigen Katalonien. Dort soll einfach nichts investiert werden, obwohl doch der Sozialdemokrat Pedro Sánchez angeblich eine Lösung per Dialog sucht, der allerdings seit drei Jahren nicht beginnt, während man die Katalanen aber über Pegasus ausspioniert.

Um die Katalanen zu schwächen, soll auch weiter in Katalonien nichts investiert werden. Sogar die regierungsnahe spanische Zeitung El País stellte im Mai fest, dass nur 35 Prozent der Investitionen, die im Haushalt veranschlagt waren, real in Katalonien getätigt wurden.

Die in Katalonien regierende Republikanische Linke (ERC), die für den Haushalt gestimmt hat, hat sich an der Nase herumführen lassen. Das veranschlagte Geld gibt man, wie üblich, lieber in der spanischen Hauptstadt Madrid aus. Dort wurde sogar fast doppelt so viel investiert, als eigentlich im Haushalt vorgesehen war. Dort regieren allerdings die politischen rechten Gegner.

Eigentlich sollte MidCat 2022 fertiggestellt werden

Eigentlich sollte MidCat 2022 fertiggestellt werden. Dann hätte schon längst Gas über die Pipeline bis nach Nordeuropa fließen können. Doch weiter fehlt das letzte Teilstück, das "South Transit Eastern Pyrenees" (STEP) genannt wird. STEP wurde vor drei Jahren die Genehmigung verweigert.

Da Scholz nun fordert, springen die Genossen in Spanien und überbieten sich in Ankündigungen. So erklärt die spanische Vizepräsidentin Teresa Ribera, in nur acht Monaten könnte STEP auf der spanischen Seite fertiggestellt werden.

Das darf schon wegen der Bürokratie bezweifelt werden. Dazu kommt Koalitionsstreit, denn der Juniorpartner Podemos ist aus Umweltschutzgründen gegen das Projekt, da die Formation kein Geld in fossile Energien investiert sehen will.

Natürlich soll der europäische Steuerzahler nun die Suppe auslöffeln, die man in Spanien eingeschenkt hat. Ribera, auch Ministerin für den Ökologischen Übergang, erklärt nun für das längst begonnene Projekt, dass MidCat eine "sehr bedeutende Investition" erfordere.

Dieses Projekt sei europäisch und daher sollte es von Brüssel finanziert werden, sagte sie. Hätte man das Projekt wie geplant fertiggestellt, wäre es billiger geworden und man könnte schon jetzt das Gas fließen lassen.

Woher soll das Gas kommen?

Es findet sich aber in der gesamten Gemengelage erratischer Politik noch ein weiterer großer Stolperstein. Woher soll das Gas kommen? Wie Antworten auf die Cum-Ex-Verwicklungen bleibt Scholz auch hier schmallippig (Olaf Scholz bei der Sommer-Pressekonferenz: Aus Berlin nichts Neues). Die Frachter für Flüssiggas sind knapp und können nicht aus dem Boden gestampft werden.

Es gibt aber zwei Pipelines aus Algerien, die nach Spanien führen. Die eine, die Marokko durchquert, ist aber wegen des Streits mit Marokko um die vom autoritären Königreich besetzte Westsahara schon trocken. Über sie wird derzeit trotz des wenigen Gases, das Europa zur Verfügung steht, mit Marokko ein Land beliefert, dass eine illegale Besatzung vorantreibt und einen Krieg in der Westsahara führt.

Mit den Lieferungen der deutschen RWE an Marokko wird der große Lieferant Algerien weiter verärgert. Das nordafrikanische Land droht Spanien längst, den Gashahn komplett abzustellen und hat schon die Handelsbeziehungen eingefroren, da Spanien plötzlich die Souveränität Marokkos über die Westsahara - gegen alle UN-Resolutionen - anerkannt hat.

Auf diesem Weg befindet sich auch das deutsche Außenministerium unter Annalena Baerbock, das seit dem Jahreswechsel die Positionen Marokkos vertritt. Immer offener tritt die Bundesregierung für die von Marokko angestrebte Autonomielösung ein, was auch mit einer dubiosen Wasserstoff-Strategie in Verbindung steht.

Ohne eine Kehrtwende ist wohl kaum damit zu rechnen, dass Algerien bereit ist, sich gegen den historischen Verbündeten Russland zu stellen. Ist Scholz also bereit, für Algerien-Gas eine Wende einzuleiten in der Marokko zur Entkolonisierung der Westsahara gezwungen wird?