Euthanasie und die Coronasvirus-Pandemie

Antworten auf teils dämliche Fragen zu einem Interview

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Antwort auf einige Kommentare zu dem Gespräch mit Eberhard Schultz: Coronakrise: Eine bedrohliche Entwicklung für die Grundrechte

Liebe Kommentator*innen,

Zunächst vielen Dank für die zahlreichen interessanten engagierten und auch kritischen Beiträgen, aus denen ich vieles gelernt habe. Auch in den Kommentaren spiegelt sich wider, was ich in zahlreichen Gesprächen und teilweise hitzigen Diskussionen im beruflichen Alltag als Rechtsanwalt und im gesellschaftspolitischen Zusammenhängen als Vorstandsmitglied der Internationale Liga für Menschenrechte und unserer Stiftung für soziale Menschenrechte und Partizipation erfahren habe.

Kaum ein Thema ist auf allen Ebenen, der Faktenlage, deren Bewertung, der politischen Einordnung und der rechtlichen so umstritten, hoch emotional besetzt und konsensunfähig wie unseres. Dabei wäre ein sachlicher Streit mit dem Ziel eine gemeinsame Position - wenn auch nur im Sinne eines Minimalkonsenses - zu erreichen, doch eigentlich wünschenswert, oder wenigstens einen klaren Dissenz festzustellen, um dann mit weiteren Argumenten um relevante Mehrheiten kämpfen zu können. Auch wenn das bisher scheinbar unmöglich erscheint, sollten wir nichts unversucht lassen und daran weiterarbeiten!

Ich werde mich hier auf die wichtigsten Gesichtspunkte für die menschenrechtliche Bewertung beschränken und vorab zwei Aspekte behandeln, die offenbar bei einigen Kommentaren eine Rolle gespielt haben.

• Zu meiner Person ein paar Hinweise, da einige Kommentare unterstellen, ich hätte wohl nichts Besseres zu tun, als solche Interviews zu verbreiten, beziehungsweise wäre "wohl zu dämlich, um vernünftige Schriftsätze an das Bundesverfassungsgericht einzureichen. Dabei dachte ich, wer in den sozialen Medien Kommentare schreibt, würde sich vorher zumindest im Internet schlau machen, etwa durch den Besuch einer Website. Denn auf meiner Homepage ist der ein oder andere Schriftsatz zu finden, der eine Einschätzung meiner Dämlichkeit ermöglicht ...

Und ich ergänze gerne, auch wenn ich es nicht nötig habe, damit zu prahlen, ein paar Informationen, damit die Kommentare das untere Stammtischniveau verlassen können: Etwa, dass ich bereits im letzten Jahrhundert mit einigen dutzend Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe erfolgreich war, hin und wieder auch im 21. Jahrhundert beim Verfassungsgerichtshof Berlin-Brandenburg, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und bei anderen internationalen Gerichten -, ganz abgesehen von Veröffentlichungen zu menschenrechtlichen Themen und der Mitarbeit bei internationalen Verteidiger*innenteams und internationalen Prozessbeobachtungen im Auftrag von Parteien und Nichtregierungsorganisationen. Auch im angelsächsischen Raum, wo die Bezeichnung für Rechtsanwälte, die in diesem Bereich tätig waren, als "human rights lawyer" (also Menschenrechtsanwalt) schon vor Jahrzehnten üblich war, so dass ich sie gerne übernommen habe. Meine Schwerpunkte in Deutschland waren neben Arbeitsrecht Asylverfahren, Strafverteidigung auch in sogenannten Terroristenprozesse und die Vertretung von Menschen, die rassistischer Diskriminierung ausgesetzt waren.

• Zur Frage nach der Möglichkeit von Spenden: sehr gerne! Am meisten freue ich mich über Spenden für unsere (gemeinnützige) Stiftung und deren Arbeit für die sozialen Menschenrechte (näheres auf der Website www.sozialeMenschenrechtsStiftung.org).

Nun zu anderen Kommentaren.

1. Auf die Zahlen und die diversen Hinweise auf fragwürdige sogenannte Faktenchecks spare ich mir, im Detail einzugehen. Aber eine Ergänzung halte ich für wichtig: Professor Püschel, der Gerichtsmediziner aus Hamburg, der als einziger bundesweit Obduktionen durchgeführt hat, um die Todesursache festzustellen, hat inzwischen weitere Zahlen vorgelegt. Danach bestätigt sich der im Interview genannte Trend auch bei der doppelten Anzahl von durchgeführten Obduktionen in Hamburg. Das Ergebnis ist das gleiche, wie er in einem YouTube-Interview erläutert. Das bestärkt mich in meiner Annahme, dass es keine valide Grundlage für den Nachweis einer auch in Deutschland drohenden Pandemie von Hunderttausenden oder gar Millionen von Toten gibt.

Gegen die für die Einschätzungen und Konsequenzen der Corona-Pandemie wichtige Unterscheidung, ob jemand "an dem" Virus oder "mit dem" Virus gestorben ist, wird in einem Kommentar argumentiert, das "stinke nach Euthanasie" - auch wer (nur) mit dem Virus gestorben sei, hätte doch Tage, vielleicht sogar Monate oder Jahre noch leben können. Das ist sicher richtig und mag bei anderen Fragestellungen entscheidend sein, etwa bei moralischen Bewertungen, den Sorgen und Ängsten der Betroffenen und ihrer Familien im sozialen Umfeld und so weiter.

Aber wer mit Euthanasie argumentiert, müsste sich doch auch der Frage stellen, ob nicht angesichts des millionenfachen Todes gerade von Kindern im globalen Süden durch Hunger, Kriege und Umweltkatastrophen derartige und viel weitergehende Maßnahmen von unserem Regierungen nicht längst hätten eingeführt werden müssen, statt humanitäre Maßnahmen in Form der lächerlichen Aufnahme von ein paar Dutzend minderjährigen Geflüchteten aus Griechenland nach monatelangen Debatten beim gleichzeitigen militärischen Ausbau der Festung Europas, so dass Jean Ziegler zuzustimmen ist, wenn er feststellt: "Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet." Im Übrigen ist das das Motto unserer Stiftung für soziale Menschenrechte.

Aber beim Corona-Ausnahmezustand geht es doch um eine ganz andere Ebene als die des Euthanasie-Arguments, nämlich die der Konsequenzen und massiven Grundrechtseinschränkungen in Deutschland unter Berufung auf eine bei uns drohenden Pandemie nie gekannten Ausmaßes. Oder sollen etwa nach der gleichen Logik dieser Euthanasie-Argumentation tatsächlich beispielsweise Menschen, die im Straßenverkehr überfahren worden sind und bei deren Obduktion eine Infektion mit dem Coronavirus festgestellt wird, zu den relevanten Fällen gezählt werden?

Oder anders ausgedrückt: Niemand käme doch ernsthaft auf die Idee, wegen der großen Zahl von Verkehrstoten eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf unter 10 km/h auf allen Straßen einzuführen oder wegen der großen Zahl von Toten durch übermäßigen Alkohol- oder Nikotinkonsum eben diesen zu verbieten. Daraus folgt doch wohl zwingend, dass die weitreichenden Einschränkungen wichtiger Grundrechte, das Absehen vom üblichen Gesetzgebungsverfahren usw., allenfalls gerechtfertigt sein könnten, wenn nachweisbar Hunderttausende oder Millionen in Deutschland daran sterben müssten, wenn sie infiziert wären. Deshalb sind die Fragen nach der wissenschaftlich abgesicherten Feststellung der Todesursache durch Obduktionen und der wissenschaftlich gesicherten statistischen Schlussfolgerungen daraus von entscheidender Bedeutung. Da beißt keine Maus einen Faden ab.

Mit einem ähnlich platten Bespiel verdeutlicht: Stellen wir uns einmal vor, es würden von einflussreichen Gruppen denkbar radikale Forderungen aufgestellt - etwa nach einem vollständigen Alkohol- und Nikotinverbot oder nach einem Verbot von Kraftfahrzeugen ohne Elektromotor und einer Höchstgeschwindigkeit von unter 10 km/h im Straßenverkehr: Wer sich diesen Forderungen mit nachvollziehbaren Argumenten entgegenstellt, dürfte der ernsthaft von den Vertretern der genannten radikalen Forderungen der Euthanasie verdächtigt werden mit dem Argument, er verhindere ja, dass wirksame Maßnahmen gegen die Tausende oder gar Millionen von Toten durch übermäßigen Alkohol- und Nikotinkonsum im Straßenverkehr oder durch die Umweltzerstörung ergriffen werden? Kann ich mir ehrlich gesagt kaum vorstellen…

2. Zu den einflussreichen Kritikern der Grundrechtseinschränkungen gesellen sich inzwischen weitere: Am vergangenen Wochenende hatte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble mit seiner Warnung, dem Schutz von Leben nicht alles unterzuordnen, eine heftige Debatte angestoßen. Jetzt bezieht auch der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, klar Position, wie der Berliner Tagesspiegel am 2. Mai meldete. Papier sieht im Umgang mit der Pandemie die Freiheitsrechte in Gefahr. In der Krise seien nicht die Maßnahmen der Lockerung rechtfertigungsbedürftig, sondern die Aufrechterhaltung von Beschränkungen der Grundrechte, sagt Papier in einem Streitgespräch des "Spiegel" mit Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD). "Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Sinn und Zweck eines Verfassungsstaates in erster Linie der Schutz der Freiheit ist." Gesundheitsschutz rechtfertige nicht jedweden Freiheitseingriff. So der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, der ja wohl kaum der erwähnten Dämlichkeit verdächtig ist.

3. In einer Reihe von Kommentaren wird zum Teil scharf, zum Teil auch unter der Gürtellinie damit argumentiert, bei den Demonstrationen am Berliner Luxemburg Platz und anderswo in der Republik handle es sich offensichtlich um eine Art Querfront zwischen Linken und Rechten wenn nicht gar um ein Bündnis mit der AfD und Neonazis. So gut eine darin zum Ausdruck kommende Sorge auch gemeint sein mag, so abwegig scheinen mir derartige Forderungen in der Realität - jedenfalls für die Aktivist*innen des "Kommunikationszentrums Demokratischer Widerstand" am Berliner Luxemburg Platz verfehlt zu sein.

Ausweislich ihrer Zeitungen und ihrer Wortführer*innen handelt es sich um fortschrittliche Menschen, zum Teil auch ausgewiesene Linke, die sich klar von AfD und Neonazis abgrenzen und keineswegs mit diesen gemeinsam demonstrieren oder dazu aufrufen. Wenn ich diese Tatsache dann in Debatten mit konkreten Beispielen untermauere, wird mir entgegengehalten, ja dann müssten sie aber doch vor Ort gegen diese rechten Kräfte klare Stellung beziehen, notfalls mit eigenen Ordnern. Das ist leicht gesagt, aber unmöglich getan. Jedenfalls so lange ihnen nicht tausende fortschrittliche Menschen zu Hilfe kommen.

Werden die Aktivitäten dieser Initiative doch von den zuständigen Behörden ausdrücklich nicht als Versammlungen anerkannt, entsprechende Anmeldungen ignoriert bzw. ausdrücklich zurückgewiesen, statt diese, wie es das Grundrecht der Versammlungsfreiheit und die Gesetze verlangen, von der Polizei zu schützen (und nicht etwa nur "Gewalt verhindern" wie das Mantra der Berliner Polizei lautet). Das Ganze mit der Konsequenz, dass die verschiedenen Gruppen nicht von den Sicherheitskräften getrennt werden. Es wird vielmehr nicht nur ein Mindestabstand verlangt, sondern die Aktivistinnen auch von der Polizei an ihren demokratischen Beteiligungsakten in Form der gemeinsamen Meinungskundgabe behindert, wenn sie nicht sogar einkassiert werden. Deshalb ist es völlig illusorisch, an eigene Ordnungskräfte zu denken, die eine klare räumliche politische Trennung gegenüber den rechten Kräften herstellen könnten - und infam, sie als Anhänger*innen von Neonazis darzustellen.

Die Menschen, die für den Widerstand gegen den Abbau demokratische Rechte demonstrieren wollen, werden jedenfalls in Berlin bis jetzt praktisch an wirksamen Gegenmaßnahmen gegen die Rechten und Neonazis vor Ort von den Sicherheitsbehörden gehindert. Anders offenbar in Stuttgart, wo nicht nur die Demonstration der Widerständigen als solche nicht verboten wurde, sondern die erschienenen Rechten als Gegendemonstration von der Polizei getrennt worden ist.

4. Zur Corona-App, die es ja "noch gar nicht" gebe, nur so viel: Ich habe in dem Interview nicht behauptet, eine solche App existiere schon als Teil eines totalen Überwachungsstaats. Es geht mir darum, vor der großen Gefahr ihrer Einführung zu warnen. Denn auch wenn derzeit noch von offizieller Seite betont wird, diese App solle (zunächst) auf freiwilliger Basis eingeführt und ausprobiert werden, sehen nicht nur Rolf Gössner und ich die Gefahr, dass sie später eingeführt wird, wenn die freiwillige App nicht die gewünschten Ergebnisse erzielt, etwa weil sich nicht alle freiwillig anschließen und das Denunziantentum und der Druck von verschiedenen Seiten zunimmt.

5. Last but not least, auch wenn derzeit vermehrt auf politischer Partei-Ebene und in den Medien darüber debattiert wird, wie eine Exit-Strategie aussehen könnte und der Protest lauter wird. Vor allem gegen die katastrophalen Folgen für geflüchtete, von Krieg, Umweltzerstörung und Armut betroffenen Menschen des globalen Südens sowie Minderheiten und Ausgegrenzten bei uns: Was Not tut, ist breiter Widerstand gegen den drohenden Ausnahmezustand und den weiteren Abbau demokratische Rechte und - das möchte ich abschließend betonen - der Einsatz für die Verwirklichung der sozialen Menschenrechte für Alle, die längst völkerrechtlich verbindlich sind und von der Bundesregierung umgesetzt werden müssten.

Im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Corona-Krise vor allem das soziale Menschenrecht auf die bestmögliche Gesundheit für alle, das Recht auf menschenwürdige Arbeit mit einem diskriminierungsfreien Zugang, einem ausreichenden Arbeitseinkommen, gleichem Lohn für gleiche Arbeit sowie das Recht auf soziale Sicherheit für Alle und das Recht auf eine angemessene Wohnung zu erschwinglichen Preisen für Alle.

Angesichts mancher Kommentare in den sozialen Medien unterhalb des Stammtischniveaus wäre auch der Einsatz für das Menschenrecht auf lebenslange kostenlose Bildung von Nöten!

Gerade in Zeiten der wachsenden sozialen Spaltung, der Kluft zwischen Arm & Reich, können die sozialen Menschenrechte auch zu einem wichtigen Mittel im Kampf gegen den wachsenden Einfluss von rechten Kräften sowie den Auf- und Ausbau des Ausnahmezustands und für eine solidarischere Gesellschaft werden.

Beste Grüße

Eberhard Schultz, Rechtsanwalt

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