Finanzierung außer Kontrolle: Der Panzer-Bahn Rail Baltica fehlen Milliarden
Bahntrasse in westlicher Spurbreite soll Baltikum mit Warschau verbinden. Schon seit 2001. Das auch militärisch motivierte Projekt entwickelt sich zur Katastrophe.
Seit 2001 planen die baltischen Länder eine Schnellbahntrasse in westeuropäischer Spurbreite, die Tallinn, Riga und Kaunas mit Warschau verbinden soll. Staatliche Rechnungsprüfer warnen nun vor drastisch steigenden Kosten, die Teile des im Bau befindlichen Projekts infrage stellen.
Züge mit einer Spitzengeschwindigkeit von 240 km/h sollen in Zukunft zwischen der estnischen Hauptstadt Tallinn und Warschau verkehren. Passagiere benötigen dann weniger als sieben Stunden für diese 870 Kilometer lange Strecke; heutige Fernbusreisende sind mindestens doppelt so lange unterwegs.
Viele Jahre schien die Rail Baltica eher vernachlässigtes Infrastrukturprojekt. Die baltischen Regierungen zeigten seit der nationalen Unabhängigkeit kaum Interesse am Eisenbahnbetrieb, Strecken zwischen größeren Städten wurden stillgelegt, der internationale Zugverkehr wurde weitgehend eingestellt.
Die militärische Bedeutung der Eisenbahn bewirkte in letzter Zeit ein Umdenken. Bislang müssen Nato-Panzer, die über westeuropäische Gleise ins Baltikum transportiert werden, an der polnisch-litauischen Grenze zwischen dem Kaliningrader Gebiet und Belarus aufwändig auf breitere Gleise umgeladen werden. Die Rail Baltica würde die Westanbindung und damit militärische Non-Stop-Transporte ermöglichen.
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Seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine weht ein Hauch von Stuttgart 21 durch die Rigaer Innenstadt: Baukräne, Baustellen, Abrissarbeiten und Neubauten rund um den Hauptbahnhof bekunden den politischen Willen, die Rail Baltica in Betrieb zu nehmen.
Doch der geplante Eröffnungstermin von 2026 ist nicht haltbar; inzwischen ist von 2030 die Rede und auch dieses Datum bleibt ungewiss. Die Planungen verzögern sich, Tausende private Grundstücksbesitzer müssen für die neue Trasse enteignet werden; darunter Kleinbauern, die um ihre Existenz fürchten und Widerstand leisten.
Kostenexplosion im Baltikum
Anfang Juni verkündeten die Rechnungshöfe der baltischen Staaten die Hiobsbotschaft: Statt der ursprünglich vorgesehenen knapp sechs Milliarden Euro sind inzwischen 24 Milliarden fällig. Es ist fraglich, ob die EU davon tatsächlich 85 Prozent der Ausgaben übernehmen wird.
Allein für die lettische Teilstrecke werden zusätzliche 7,6 Milliarden benötigt. Die Balten sorgen sich um EU-Gelder: 2027 endet die EU-Haushaltsperiode, danach muss die weitere Finanzierung in Brüssel erst einmal beschlossen werden.
Möglichkeiten zur Einsparung gesucht
Die Regierungen erwägen, die Kosten zu reduzieren. Geplante Zwischenstationen sollen nicht gebaut werden, in manchen Streckenabschnitten die Züge nur eingleisig verkehren. Beobachter warnen, dass das "Jahrhundertprojekt" nicht zu einer Art Regionalexpress verkommen darf. Die EU erwartet die Westanbindung, sonst könnten Regressforderungen drohen.
Sicherlich trug die sanktionsbedingte Inflation erheblich zur Steigerung der Baukosten bei. Der Hauptgrund für Verzögerungen und Kostensteigerungen sehen Berichterstatter aber in der mangelnden Abstimmung zwischen den beteiligten Ländern.
Ein Rücktritt und heftige Anwürfe
Baiba Rubesa, ehemalige Vorsitzende des baltischen Gemeinschaftsunternehmens RB Rail AS, das die Rail Baltica bauen soll, trat 2018 entnervt zurück und kritisierte den nationalen Egoismus.
In einem Arte-Interview bezeichnete sie die Litauer sogar politisch inkorrekt als "Schurken", die von Anfang an kein gemeinsames Projekt gewollt hätten; in jedem der drei Länder hätte sie gegen "schmutzige Windmühlenflügel" angekämpft.
Der derzeitige lettische Verkehrsminister Kaspars Briskens bemängelt die Managementstruktur der Rail Baltica, die Interessenkonflikte hervorrufe. Jedes Land ist jeweils zu einem Drittel beteiligt und schickt zwei Vertreter nationaler Eisenbahngesellschaften in den RB-Rail-Vorstand, der nicht von einer unabhängigen Instanz beaufsichtigt wird. Briskens will für ein besseres Risikomanagement sorgen.
Inzwischen stellt sich die Frage, wer und was für das Finanzdebakel verantwortlich ist. Die lettische Saeima beschloss am 20. Juni 2024, eine parlamentarische Untersuchungskommission einzusetzen.
Sie soll klären, ob Fehler begangen wurden und wie Regierungen reagierten, ob Beschlüsse transparent und zeitnah gefasst wurden und ob sie im Interesse Lettlands erfolgten.
Der ehemalige Verkehrsminister Talis Linkaits muss sich derzeit des Vorwurfs erwehren, seine Kollegen im Ministerkabinett im Frühjahr 2022 nicht über drohende Defizite informiert zu haben. Linkaits bestreitet, dass er falsch agiert habe.
Der Journalist von der Unabhängigen Morgenzeitung, Arnis Kluinis, argwöhnt, dass das Kostendesaster nicht dazu führen wird, die Rail Baltica aufzugeben. Weder die EU noch die einzelnen baltischen Regierungen besäßen den Mut dazu:
Die Verschwendung von Geld und Umweltressourcen wird fortgesetzt, Bautätigkeit demonstriert, um auf einen günstigen Vorwand zu warten, das Projekt zu beenden. Der Covid-Wahn und Russlands Angriff auf die Ukraine künden vom großen Willen und Einfallsreichtum in der Erschaffung solcher Vorwände.