Geometrie der Angst: Joseph Loseys "The Damned"
Seite 2: Am Abgrund
Ein touristischer Anziehungspunkt ist die Jubilee Clock, die man 1887 auf die Promenade stellte, um des 50. Jahrestages der Thronbesteigung von Königin Victoria zu gedenken. Losey nimmt sich Zeit, das Monument von oben bis unten abzuschwenken und bleibt dabei seinem Prinzip der Kontrastierung treu. Man sieht das Porträt der Königin und hört dazu den Rocksong, den James Bernard für die Biker-Gang von Weymouth komponiert hat. Diese Komposition ist von jeder Form von Authentizität befreit, mehr Zitat als originäre Rockmusik, und doch seltsam wirkungsvoll.
Wenn die Kamera beim Sockel ankommt, erscheint ein amerikanischer Tourist im Bild. Hinter dem Uhrturm taucht eine junge Frau auf. Zwischen den beiden stehen vier alte Damen, ohne Abstand, weil sie von Risikopatienten und vulnerablen Teilen der Bevölkerung noch nichts wissen. Eine der Damen schaut in einem Reiseführer nach, was das für ein Ding ist, das sich da vor ihr in die Höhe reckt. Auch als Nicht-Nostalgiker können einen wehmütige Gefühle beschleichen, wenn man das vor dem Hintergrund der Ausgangsbeschränkungen und Grenzschließungen sieht, mit denen Länder versuchen, sich vor dem Corona-Virus zu schützen.
Am Abgrund (11 Bilder)
Springen wir 25 Leinwandminuten nach vorne. Alexander Knox, der in Sleeping Tiger, Loseys erstem englischen Film, als Psychiater den Versuch unternahm, den kriminellen Jugendlichen Dirk Bogarde zu reformieren, wird von seinem Chauffeur beim Edgecliff Establishment vorgefahren, einer mit Stacheldraht umzäunten und von Wachmännern kontrollierten Anlage. Für Unberechtigte ist der Zutritt streng verboten. Knox alias Bernard war kürzlich in London, um mit "dem Minister" zu konferieren. Wie man sich das vorzustellen hat weiß man, wenn man Modesty Blaise (1965) gesehen hat.
In Loseys Antwort auf Antonioni und James Bond spielt Knox den "Minister" mit demselben schottisch angehauchten Akzent, den er sich vier Jahre davor als Bernard zugelegt hatte, und wir lernen den Zynismus einer herrschenden Klasse kennen, für die Menschenleben jederzeit verzichtbar sind, wenn es den wirtschaftlichen Interessen und der Regierungspolitik dient. In The Damned ist Alexander Knox der Chef des Edgecliff Establishment. Er scheint die Regierung weniger zu beraten als vielmehr deren Politik zu bestimmen, obwohl er kein gewählter Volksvertreter ist.
Was genau Bernards Fachgebiet ist, erfährt man nicht. Er selbst bezeichnet sich als Staatsdiener. Heutzutage könnte er ein Virologe oder ein Epidemiologe sein. In The Damned hat es mehr mit Radioaktivität und Kindererziehung zu tun, aber auch mit Quarantänemaßnahmen, Schutzkleidung und Social Distancing. Irgendwie muss es sehr dringlich sein, für mühsame demokratische Prozesse fehlt die Zeit. Das Edgecliff Establishment steht buchstäblich am Rande der Klippe, und es ist fünf vor zwölf, wenn Bernard im Inneren des Komplexes ankommt.
Während Bernard hineingeht, schwenkt die Kamera noch einmal die Klippen ab. Wir sehen die Freshwater Bay, die so heißt, weil in der Bucht eine Süßwasserquelle entsprang. Auf den Klippen steht ein einsames, wenig einladend wirkendes Haus, das an der dem Meer zugewandten Seite keine Fenster hat. Als Losey dort drehte erzählten sich die Einheimischen, dass das früher der Unterschlupf von Schmugglern gewesen sei, die von draußen nicht beobachtet werden wollten. Tatsächlich war Cheyne House die Dienstwohnung des Aufsehers, der für die unterhalb davon gelegene Pumpstation zuständig war.
Losey drehte nicht an Originalschauplätzen, weil er pittoreske Hintergründe wollte. Er machte Gebrauch von dem, was zur Verfügung stand und baute es in den Film ein wie beim Anfertigen eines Mosaiks. Bei ihm wohnt Bernard im Haus mit der blinden Seeseite, der Mann, der so auf seine Aufgabe fixiert ist, dass er die Scheuklappen nicht bemerkt, die er aufhat. Die alte Pumpstation ist das Atelier der Bildhauerin. Zum Atelier gehört ein Steinbruch, und später wird Sid, einer von den Rockern, Freya vor den Militärs warnen, die sich dort herumtreiben. Das passt gut zur Geschichte dieses Ortes.
Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in Portland ein Nothafen für in Seenot geratene Schiffe angelegt. Zum Schutz des Hafens baute man Wellenbrecher und militärische Befestigungen. Das Baumaterial bezog man aus vom Marineamt betriebenen Steinbrüchen. Die vom Militär bewachten Steineklopfer kamen aus einem Gefängnis für zu Zwangsarbeit verurteilte Strafgefangene, das man zu diesem Zweck errichtet hatte. Um den stark gestiegenen Trinkwasserbedarf decken zu können wurde das Pumpwerk gebaut, nachdem man am Fuß der Klippen die Quelle entdeckt hatte.
Nach einem Schnitt scheint sich die Leinwand zu verengen, weg vom "Hammerscope", in dem der Film gedreht wurde und hin zum 4:3-Format. Es stellt sich heraus, dass das ein Blick durchs Fenster auf die Küste ist, mit Kamerafahrt nach hinten, in den Raum hinein. Was man für eine überflüssige Trickserei halten könnte, ist Loseys Kommentar. Im von Bernard geleiteten Edgecliff Establishment, in dem wir uns befinden, regiert der verengte Blickwinkel. Auf dem Fensterbrett steht eine weitere von den Skulpturen, mit denen der Film begonnen hat. Der Vogelmann ist die Erinnerung daran, dass es noch (mindestens) eine andere Perspektive gibt, die der Kunst.
Baedeker Blitz
Die Kunstwerke im Film sind keine Reproduktionen, sondern Originale, angeliefert von der Schöpferin höchstpersönlich. Losey hatte Elisabeth Frink kurz vorher kennengelernt, und ursprünglich hatte sie zugesagt, in einem Cameo-Auftritt als Bildhauerin mitzuwirken. Dann wurde die Rolle größer als zunächst gedacht und von der Schwedin Viveca Lindfors übernommen, deren Talent hier nicht vergeudet wird wie in den meisten Filmen, die Hollywood ihr anzubieten hatte. Ihre Szenen mit Alexander Knox zeichnet eine besondere Spannung aus.
Das hat auch mit unterschiedlichen Schauspielstilen zu tun, die Losey das Drehen schwierig machten, von ihm aber zum Vorteil des Films genutzt wurden. Lindfors war eine Absolventin des Actors’ Studio in New York und improvisierte gern. Der Kanadier Knox war als junger Mann nach England gegangen und hatte sein Handwerk auf Theaterbühnen gelernt, wo Textsicherheit gefragt war und man nicht von den eingeübten Dialogen abwich. Von Lindfors fühlte er sich in der Gestaltung seiner Rolle behindert, weil sie den Text änderte, während er auf sein Stichwort wartete. Die unterschwellige Aggression in ihren gemeinsamen Szenen charakterisiert das Verhältnis von Freya und Bernard, früher ein Liebespaar.
Baedeker Blitz (12 Bilder)
Lindfors war damals mit George Tabori verheiratet, der in einem Brief an Losey schrieb, dass man "ihre enorme Kraft und Phantasie bändigen" müsse, um die beste Leistung aus ihr herauszuholen. Vermutlich war das nicht ganz so einfach, weil sie am Set viel mit Elisabeth Frink konferierte. Frink begleitete die Dreharbeiten in Dorset, fungierte als künstlerische Beraterin und unterwies Lindfors in den Techniken, mit denen sie ihre Skulpturen schuf. Lindfors’ Phantasie dürfte das eher beflügelt als gebändigt haben.
Elisabeth Frink, geboren 1930, war die Tochter eines Kavallerieoffiziers. Weil die Orte, an denen ihr Vater stationiert war, häufig wechselten, wuchsen sie und ihr Bruder bei den Großeltern in Little Thurlow auf, einem Dorf in Suffolk, einer spärlich besiedelten Grafschaft an Englands Ostküste. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden in der ländlichen Abgeschiedenheit von Suffolk Militärflugplätze angelegt, einer davon in unmittelbarer Nähe von Little Thurlow. Elisabeth war dadurch mitten drin im Kriegsgeschehen, sah von ihrem Dorf aus Luftkämpfe, vom Himmel stürzende Flugzeuge und solche, die brennend von Kampfeinsätzen zurückkehrten.
Um die Kinder in Sicherheit zu bringen, fuhr ihre Mutter mit den beiden zu Bekannten nach Exmouth in Devon, im Südwesten zwischen Dorset und Cornwall gelegen. Damit kamen sie vom Regen in die Traufe. Exmouth ist nur 15 Kilometer von Exeter entfernt, dem ersten Angriffsziel der deutschen Luftwaffe in den "Baedeker Raids". Nachdem die Royal Air Force im März 1940 die historische Altstadt von Lübeck und danach Rostock bombardiert hatte, befahl Hitler Vergeltungsangriffe. Getroffen werden sollten historisch und kulturell bedeutsame Städte im Vereinigten Königreich.
Einem Herrn namens Gustaf Braun von Stumm sicherte der Führerbefehl seinen unrühmlichen Platz in der Geschichte. In seiner Eigenschaft als Numismatiker wäre er vermutlich weniger in Erinnerung geblieben. Auf der Webseite der "Saarland Biografien" ist nachzulesen, wie man die NS-Vergangenheit großer Saarländer nicht verschweigt, biographische Daten aber so anordnet, dass sie trotzdem nicht mehr vorkommt. Der in einem Schloss bei Saarbrücken aufgewachsene Braun von Stumm trat 1933 in die NSDAP ein, arbeitete als Diplomat und wurde nach der Stationierung in verschiedenen europäischen Hauptstädten Leiter der Pressekonferenz des Auswärtigen Amtes.
Am Tag nach dem ersten Angriff auf die Kathedralenstadt Exeter (ein zweiter war noch verheerender) sagte Braun von Stumm vor Pressevertretern, dass die Luftwaffe jedes Gebäude in Großbritannien bombardieren werde, das im Baedeker drei Sterne habe. Der Diplomat und Münzsammler war kulturell interessiert, hatte aber offenbar seit längerem keines der roten Reisehandbücher mehr aufgeschlagen. Drei-Sterne-Bewertungen gab es im Baedeker nicht. In England bürgerte sich trotzdem der Begriff "Baedeker Raids" (oder "Baedeker Blitz") für die Angriffe ein.
Neben Exeter standen Bath, Norwich, York und Canterbury auf der Zerstörungsliste der Nazis, Städte mit einer bedeutenden historischen Bausubstanz. Die beste, ebenso kulturelle wie spirituelle Antwort haben Michael Powell und Emeric Pressburger mit A Canterbury Tale gegeben, dem wunderbarsten Propagandafilm, der je gedreht wurde. Die Royal Air Force setzte mehr darauf, die deutsche Rüstungsindustrie zu vernichten und die Moral der Zivilbevölkerung zu untergraben.
Zusammengetragen wurde eine detaillierte Zielliste für Bombenangriffe, die - als Reaktion auf den Ausspruch Braun von Stumms - unter dem Titel "The Bomber’s Baedeker" firmierte. Niemand in diesem Krieg hatte ein Exklusivrecht auf Zynismus. Bei den Briten ist der Luftkrieg bis heute das emotionale Reservoir, in dem sie sich bedienen, wenn historische Vorbilder und Vergleiche bemüht werden. Beim Brexit war es so, in der Coronakrise ist es nicht anders.
Aus den Heldinnen und Helden an der Heimatfront sind die Frontkämpfer im Gesundheitswesen geworden, die man schützen muss wie einst Wohnhäuser und Spitäler durch Flakfeuer und Verdunkelung. Kommentatoren, die mit Boris Johnson und seinem mit Brexitgläubigen gebildeten Kabinett hart ins Gericht gehen, weisen vermehrt darauf hin, dass durch Covid-19 mehr Briten gestorben sind als durch den "Blitz", seit das die Zahlen hergeben. Nur der rote Reiseführer hat ausgedient. Obwohl: Wie wäre es mit einem Hotspot-Baedeker für gezielte Virenbekämpfung, nachdem in der ersten Phase flächendeckend mit dem Vorschlaghammer gearbeitet wurde?
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