Geometrie der Angst: Joseph Loseys "The Damned"
Seite 6: Black Leather Rock
Wenn das königliche Monument ins Bild kommt hören wir zum ersten Mal den Text, den Evan Jones für Bernards "Rocksong" geschrieben hat: "Black leather, black leather, smash, smash, smash / Black leather, black leather, crash, crash, crash / Black leather, black leather, kill, kill, kill / I got that feeling, black leather rock." Der Text hat etwas von den Sprechblasen im Comic. Joan nimmt Blickkontakt zu ihrem Bruder auf, der ihr bejahend zunickt. Simon wird von Glück reden können, wenn es bei smash und crash bleibt, ohne kill. Weymouth, der heruntergekommene Badeort, faszinierte Losey auch deshalb, weil er, des Kontrasts wegen, der ideale Schauplatz für die Rebellion der Teddy Boys war.
Die Teds, so Losey, "kamen aus der Armut und der Arbeitslosigkeit, die weit verbreitet war, und dem gegenüber standen diese alten Strandhotels, in denen niemand mehr abstieg mit Ausnahme von sterbenden Rentnern. Die Vergangenheit war vorbei, aber es war auch ganz schön degeneriert. Und die Teddy Boys waren ein Resultat dieser Degeneriertheit, nicht hinsichtlich der Klasse, weil sie schon immer zu einer anderen Klasse gehört hatten, aber sie waren die Söhne der Diener und der Handwerker und Arbeiter, die diese Badeorte für die Reichen instand hielten, solange sie noch da waren."
Black Leather Rock (15 Bilder)
Die eng mit amerikanischer Rockmusik assoziierten Teddy Boys, ein britisches Subkultur-Phänomen der 1950er, kleideten sich wie Dandys des Edwardianischen Zeitalters, mit Anleihen bei der Cowboymode und den Zoot Suits von Cab Calloway. Der von Oliver Reed gespielte Anführer der Teds sieht eher wie ein Mod aus, der Rest der Gruppe trägt das Leder-Outfit der Rocker. Man könnte nun denken, dass Losey, ein Amerikaner mittleren Alters, keine Ahnung hatte, was ein Teddy Boy war. Dafür recherchierte er im Vorfeld eines Films zu genau.
Statt um Realismus ging es ihm um eine gewisse Form der Abstraktion, indem er drei Ausprägungen der Jugendrevolte der späten 1950er und der frühen 1960er kombinierte, statt sich auf eine davon festzulegen. Die von ihm diagnostizierte Schrecklichkeit des Strandes wird durch eine Imbissbude repräsentiert, in der man Eiswaffeln und Fish and Chips kaufen kann. Joan macht Simon dort schöne Augen. Der Amerikaner beißt prompt an. Während die beiden gemeinsam einen Zebrastreifen überqueren, fordert King die Bande auf, in die Schlacht zu ziehen und Marschformation einzunehmen. Der Regenschirm dient ihm als Exerzierstock.
The Damned ist ein Film der Gegensätze und der Gemeinsamkeiten. Mit "Links rechts, links rechts …" wie beim Militär setzen sich die Teddy Boys in Bewegung. Er sei an ganz unterschiedlichen und doch parallelen Gesellschaftsschichten interessiert gewesen, sagte Losey in den 1970ern im Gespräch mit Michel Ciment, sowie an "parallelen Ebenen der Gewalt": "der Gewalt, die ich bei den jungen Leuten sah, der Gewalt des Rock and Roll und der Lederjungs auf Motorrädern; und der Gewalt der Welt, in der wir alle leben, der Welt der Wissenschaftler, der Regierungen, der Nationen, des Establishments."
Überfall mit Regenschirm
Wir bleiben königlich. Noch vor Joan und Simon, beim Hotel Electra, überqueren King und seine Gefolgschaft die Straße bei den Esplanaden (Elektra war die Tochter des Königs von Mykene). Autos hupen. Ein Bobby fordert die Teds auf, wie wir sie weiter nennen wollen, den Verkehr nicht zu behindern. Das Besondere dieses Moments wird einem erst bewusst, wenn man den ganzen Film kennt. Beim zweiten Sehen wirkt die Szene gruselig, weil man inzwischen weiß, dass das Regeln des Verkehrs die einzige Funktion ist, die der Polizei geblieben ist. Den Rest erledigen andere. Polizisten wird man danach nicht mehr begegnen.
Dem eingangs erwähnten Leserbriefschreiber sei zum Trost für die erlittene Unbill gesagt, dass es Schlimmeres gibt, als vom Innenminister losgeschickte Polizeihubschrauber in Bayerns Bergen. In The Damned haben sich die Sicherheitsorgane verselbständigt und militarisiert, eine Gewaltenteilung ist nicht erkennbar. Für die nächste Szene hat Losey den Drehort gewechselt. Die Albert Terrace, wo die Teds ihrem Opfer auflauern, findet man nicht in Weymouth, sondern in Fortuneswell, einem Ort auf der Isle of Portland. Albert war der Gatte von Queen Victoria. Die königliche Verbindung war Losey wichtig.
Überfall mit Regenschirm (13 Bilder)
Bei der Albert Terrace singt Joan "Black leather, smash, smash, smash …", King pfeift die Melodie dazu, die Bande schlägt Simon Wells zusammen und raubt ihn aus. Einer von den Leather Boys verwendet den Regenschirm wie ein Lasso, indem er Simon den Griff um den Hals legt und gibt den Schirm an King weiter, der ihn als Stichwaffe benutzt wie ein Ritter sein Schwert. Dann marschieren die Schläger in Zweierreihen ab und pfeifen Bernards vielseitig verwendbaren Rocksong wie in einer Parodie auf Die Brücke am Kwai. Der Schirm in Kings Hand wird wieder zum Exerzierstock.
Dieser Film mit seinen "parallelen Ebenen der Gewalt" - jener der Teds und jener von Bernard und seinen Soldaten - musste auf den Widerstand des British Board of Film Censorship stoßen (seit 1985 steht das große C in BBFC für "Classification", weil sich Zensur in einer Demokratie nicht schickt). Beim BBFC war es Tradition, aus dem aktiven Dienst ausgeschiedene Offiziere anzuheuern, für die nach einer neuen Verwendung gesucht wurde. Beim fehlenden Respekt für das Militär hörte der Spaß auf. Es half auch nicht, dass man versuchte, mit der Zeit zu gehen und Frauen nicht nur als Schreibkräfte zu beschäftigen, sondern mindestens eine von ihnen in eine gehobene Position zu hieven.
Mit The Quatermass Xperiment hatte sich die Hammer den Ruf erworben, "horrific pictures" zu drehen, also solche, bei denen mit größeren Eingriffen der Zensur zu rechnen war. Die Firma hatte sich seither angewöhnt, dem BBFC neue Projekte vorab, im Drehbuchstadium, zur Begutachtung vorzulegen. Das war freiwillig und wirtschaftlich sinnvoll, weil es billiger war, Szenen gar nicht erst zu drehen, als sie hinterher entfernen zu müssen. 1961 war die Alibi-Frau des BBFC Audrey Field. Auf ihrem Schreibtisch landete Ben Barzmans Skript zu The Damned, das Tony Hinds am 21. April, knapp drei Wochen vor Drehbeginn am 8. Mai, zur Begutachtung einreichte.
Ein Film für Volltrottel
Der Zeitpunkt hätte ungünstiger kaum sein können. Die Hammer hatte soeben ihre bis dahin härteste Auseinandersetzung mit dem BBFC hinter sich und The Curse of the Werewolf verstümmeln müssen (mit Oliver Reed als Wolfsmensch), um überhaupt eine Freigabe unter dem 1951 eingeführten X-Zertifikat (ab 16 Jahren) zu erhalten. 16 war damals die oberste Altersgrenze. In der Praxis bedeutete das nicht, dass 16-Jährige sehen durften, was nach Einschätzung des BBFC nur für Ältere geeignet war. Vielmehr wurden zahlreiche Filme gekürzt, um überhaupt in regulären britischen Kinos laufen zu können.
John Trevelyan, Chef des BBFC von 1958 bis 1971, versicherte immer, dass man fast alle beanstandeten Filme ab 18 und ohne Schnitte freigegeben hätte, wenn das möglich gewesen wäre. Als 1970 die oberste Altersgrenze auf 18 angehoben wurde, änderte sich nicht viel. Die neue Regelung wurde durch einen Trend zu expliziteren Sex- und Gewaltdarstellungen konterkariert. Das BBFC ging nun vermehrt gegen Filme vor, die nach Meinung der Gutachter auch für Erwachsene ungeeignet waren, forderte wie gehabt Kürzungen oder verweigerte die Aufführungsgenehmigung.
Hinds hatte sich bei The Damned entschlossen, die Flucht nach vorn anzutreten und das Drehbuch mit der Bemerkung versehen, dass der Film, der "erwachsenen Thematik" wegen, zweifellos ein Kandidat für das X-Zertifikat sei. Audrey Field stimmte insofern zu, als ihrer Ansicht nach im für die Hammer günstigsten Fall ein X in Frage kam, konnte anstelle einer "erwachsenen Thematik" aber nur ein "symbolisches Gewäsch" entdecken. Ihr Gutachten ist von einer bemerkenswerten Borniertheit. "Es scheint", schrieb sie am 24. April, "dass die Leute hinter diesem Projekt gegen Teddy Boys sind, gegen 'das Establishment' und gegen die nukleare Abschreckung."
"Wofür sie sind", so Field weiter, "ist schwerer zu erraten, obwohl es wahrscheinlich ist, dass sie leidenschaftliche Mitläufer oder zählende Mitglieder der Kommunistischen Partei sind." Die Dame hatte wohl mitgekriegt, dass Losey und Barzman wegen der schwarzen Liste die USA verlassen hatten und zog daraus die irrige Schlussfolgerung, dass sie einen kommunistischen Propagandafilm im Sinn hatten. "Unterdrückung und Reglementierung von links", so Frau Field, würden "diese Leute" in einem viel milderen Licht sehen. Woher sie das wusste, blieb ihr Geheimnis.
Losey drehte The Damned im Mai und Juni 1961. In britische Kinos kam der Film aber erst im Mai 1963. In den USA verzögerte sich der Kinostart sogar bis Juli 1965. Das hat zu allerlei Mutmaßungen über mögliche politische Hintergründe geführt. Wahrscheinlich war es banaler. In den Akten des BBFC stößt man auf mitunter atemberaubende Vorurteile, aber diese Vorurteile waren zugleich ein gewisser Schutz für die Filmemacher. Frau Field formuliert es in ihrer (nicht für die Öffentlichkeit bestimmten) Stellungnahme ganz direkt. Sie lässt sich so zusammenfassen:
The Damned ist ein Kandidat für das X-Zertifikat. Das Publikum von X-Filmen ist zu blöd, um "Ideen" (die von Field unterstellte kommunistische Propaganda) zu verstehen. Also muss die Zensur keine Energien darauf verschwenden, diese Ideen zu eliminieren. "Wie dem auch sei", schreibt Field, "wir können uns nicht mit den Ideen beschäftigen, die der Art von ‚X’-Film-Kundschaft, die wir schützen wollen, ohnehin entgehen dürften!" Die vom BBFC zu schützende Kundschaft besteht, ihr zufolge, aus (erwachsenen) "Volltrotteln mit gewalttätigen Neigungen", wobei es noch viel weniger wünschenswert sei, dass Kinder so etwas sehen dürfen.
In solchen Akten findet man das oft: Kinder und Erwachsene, die Volltrottel sind, wenn sie von den Zensoren abgelehnte Filme mögen (vorzugsweise Horror und Science Fiction), werden als zu schützende Gruppen in einen Topf geworfen; in den ersten Jahrzehnten der Kinogeschichte waren noch die (ohnehin geistig minderbemittelten) Frauen mit dabei. Die "Ideen" durften also bleiben. "Die Sorge hier", schrieb Field, "gilt dem unglücklichen Mr. King und seinen Freunden mit den Fahrradketten (und ein oder zwei anderen Stücken widerlicher Gewalt)."
Frank Crofts, früher in der indischen Kolonialverwaltung tätig und Nachfolger von Lt.-Col. Fleetwood-Wilson als Chef-Zensor, sekundierte ihr noch am selben Tag: "Für mich sieht es so aus, als ob das ursprünglich das Werk irgendeines Verbietet-die-Bombe-Fanatikers wäre, und als ob die Hammer dem auf der einen Seite King, seine Bande und seine Waffen und auf der anderen Seite Nacktheit aufgepropft hätte. Vielleicht können wir gegen die Propaganda nicht viel machen, aber wir sollten ganz bestimmt klarstellen, dass die Nacktheit, die Hakenkette und die generelle Bestialität der Bande verschwinden müssen."
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