Geometrie der Angst: Joseph Loseys "The Damned"

Seite 3: Cinema of Angst

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Für Elisabeth Frink war der Zweite Weltkrieg eine prägende Erfahrung. Anfangs romantisierte sie ihn, mit ihrem meist abwesenden Vater als idealisierter Heldengestalt. Nachdem sie Photos und Filmaufnahmen aus dem von den Briten befreiten Bergen-Belsen gesehen hatte, von zerstörten deutschen Städten und von Hiroshima, gelang ihr das nicht mehr. Sie war keine von denen, die versuchen, die deutsche Schuld zu relativieren, indem sie mit dem Finger auf andere zeigen. Aber die simple Einteilung in Gut und Böse, Helden und Schurken hatte sich erledigt, nachdem sie gesehen hatte, was Menschen anderen Menschen antun können.

Frink litt ein Leben lang unter Schlaflosigkeit und Albträumen, oft mit brennenden, vom Himmel fallenden Männern. Das Kindheitstrauma verarbeitete sie in ihrer Kunst. Ihre fallenden oder gefallenen Männer und ihre Mensch-Vogel-Hybriden sind Gestalten in einem Schwellenzustand. Bei Frink ist nichts eindeutig. Ihre Skulpturen haben etwas Soldatisch-Aggressives und zugleich etwas Nervöses, wirken wie Kriegsversehrte oder Opfer eines Atomkriegs, ihre laufenden Männer könnten Fliehende oder Angreifer sein.

"Was immer Elisabeth Frinks Absichten gewesen sein mochten, als sie diese Skulpturen schuf", sagt Losey im Gespräch mit Michel Ciment (Conversations With Losey) über ihre Hybriden, "es waren Vögel ohne Flügel. Sie waren immer so etwas wie Science-Fiction-Krieger mit Scheuklappen, mit Masken als Gesichtern und winzigen Flügeln. Man hat bei diesen Vögeln nie das Gefühl, als ob sie losfliegen könnten." Vögel, die nicht fliegen und Menschen, die Vögel sind: um Frinks Kunst der Paradoxa herum gestaltete Losey The Damned, einen Film der Paradoxa.

1952, bei der Biennale in Venedig, wurden im britischen Pavillon Werke von acht jungen avantgardistischen Bildhauern ausgestellt (und davor eines des älteren Henry Moore), von denen einige im Krieg Piloten gewesen waren. Die Kunstszene jubelte über ein britisches "Skulptur-Wunder". In einem begleitenden Essay beschrieb der Kunsthistoriker Herbert Read die Exponate als "Ikonographie der Verzweiflung oder der Auflehnung". Er sah in den Skulpturen die Erinnerung an den Holocaust und Hiroshima genauso widergespiegelt wie die Angst vor der nuklearen Zerstörung der Welt.

In seinem Essay wählte Read den Begriff "Geometrie der Angst", um das verbindende Element der Exponate zu beschreiben. Als Oberbegriff für eine Kunstrichtung, zu der auch - als einzige Frau - Elisabeth Frink gezählt wird (ihr Lehrer, Bernard Meadows, war einer der in Venedig ausgestellten Künstler), blieb das haften. Als The Damned mit zweijähriger Verspätung doch noch in einigen Londoner Vorstadtkinos anlief schrieb Philip French die erste in einer überregionalen Zeitung erscheinende Kritik (Observer, 19. Mai 1963). Darin griff er die von Read geprägte Bezeichnung auf.

The Servant

French pries The Damned als "einen der bedeutsamsten britischen Filme der letzten Jahre", als "hoch komplex" und als "ein verstörendes Werk von echter Wichtigkeit", das Großbritannien in Cannes zur Ehre gereicht hätte, wenn der Film denn dort gezeigt worden wäre. "The Damned", so French, "gehört zu Franjus La tête contre les murs und Rivettes Paris nous appartient, zum Kino der Angst [cinema of Angst]: er fängt die Beklemmung einer Welt ein, die versucht, mit der Bedrohung durch den nuklearen Holocaust zu leben."

Georges Franju, Jacques Rivette und Joseph Losey - das wäre eine schöne Idee für ein Triple Feature. Zur Ergänzung könnte man Dr Strangelove und A Clockwork Orange mit dazunehmen, zwei Filme von Stanley Kubrick, die beide von The Damned beeinflusst sind. Hitchcocks The Birds natürlich. La jetée von Chris Marker … In Loseys nächstem Film, The Servant, steht einer von Frinks Soldatenköpfen im Wohnzimmer von Tony, als Irritation und am prominentesten in einer Szene mit Loseys Version des Klassenkriegs: Tonys Verlobte versucht, mit Hilfe von Sofakissen die Wohnung in Besitz zu nehmen und die Oberhand über den Diener zu gewinnen.

Fernunterricht anno 1961

Die Skulptur auf dem Fensterbrett gehört zu einem Zyklus, den Elisabeth Frink "Bird Men" nannte, oder auch "Sentinel". Wir sind in einem Lehrerzimmer gelandet. An der Wand hängen abstrakte Bilder. Der Hausherr, Bernard, ist ein Kunstliebhaber. Der Uniformierte, der nach dem Vogelmann greift wie nach einem unnützen Staubfänger, ist keiner. "Ein Vogel in einem goldenen Käfig, was, Dingle?", sagt er. "Ihr Sicherheitstypen habt die Phantasie von Gefängniswärtern", antwortet Dingle und nimmt dem Offizier die Skulptur weg. Dingle, der gleich in einem Buch über Rembrandt blättern wird, muss der Kunstlehrer sein. Aber was haben Soldaten in Uniform im Lehrerzimmer verloren? Hier stimmt etwas nicht.

Bernard trifft ein und bittet Dingle, die Vorhänge zuzuziehen wie bei einer Filmvorführung. Anstelle von Leinwand und Projektor ist das Lehrerzimmer mit einem sperrigen Monitor und einer darauf befestigten Kamera ausgestattet. Inzwischen hätte man stattdessen Laptops mit integrierter Kamera und Zoom oder Skype. Wir werden Zeugen eines Fernunterrichts (anno '61), den jetzt - in Deutschland wenigstens - dieselben Politiker anpreisen, die vorher die Digitalisierung verschlafen haben.

Fernunterricht anno 1961 (16 Bilder)

The Damned

Dafür haben wir eine Kultusministerkonferenz, die sich seit Jahren trifft, Absichtserklärungen verfasst und dann durch Bürokratie und Kleinstaaterei dafür sorgt, dass rasche Verbesserungen weiter auf sich warten lassen. Es ist nicht immer ganz leicht, sich keinen starken Mann zu wünschen, der durchgreift und den Fortschritt auf den Weg bringt, ohne lange debattieren und politische Grabenkämpfe ausfechten zu müssen. The Damned tritt den Beweis dafür an, dass der starke Mann, der sagt, wo’s lang geht, trotzdem nicht die Lösung ist.

Bernard nimmt unter Scheinwerfern auf einem bequemen Sessel Platz, um mit der Übertragung zu beginnen. Am anderen Ende der Leitung wird sein Bild auf einen in die Schultafel eingelassenen Flachbildschirm übertragen. Bernard hat sich für den guten alten Frontalunterricht entschieden. Vor dem Bildschirm sitzen neun Kinder, alle 11 Jahre alt, an ihren Pulten. Sie leben, abgeschottet von der Außenwelt, in Bunkern und Kavernen in den Klippen von Portland. Bernard muss die Kinder bitten, sich aufzurichten. Die Disziplin lässt doch arg nach, wenn der Lehrer nicht physisch mit im Klassenzimmer ist.

Die Schülerinnen und Schüler verfügen über ein erstaunliches Wissen. Eingeschränkt ist es aber auch. Bernard ist ein Bruder im Geiste von Ex-Innenminister de Maizière, der nach der Absage eines Fußballspiels Antworten zum Hintergrund der Gefährdungslage verweigerte und bei einer Pressekonferenz eine denkwürdige Begründung dafür lieferte: "Warum? Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern." Eben. Weil die Bevölkerung nicht reif genug für die Wahrheit ist, muss es verantwortungsvolle Männer geben, die entscheiden, was sie erfahren darf und was nicht. Es ist nur konsequent, wenn Bernard mit Kindern spricht. Sind wir das nicht alle?

Bernard, sagt die Schülerin Victoria, rede im Unterricht viel über Pflicht und Verantwortung, stets verbunden mit einem "Wenn die Zeit gekommen ist". Victoria und die anderen Kinder möchten nun gern wissen, wann die Zeit gekommen ist? Bernard muss sie auch da auf später vertrösten. "Es gibt viele Dinge, die ihr erst verstehen werdet, wenn ihr älter seid", antwortet er. "Ihr werdet alles erfahren, wenn es Zeit dafür ist. Jede neue Sache, sobald ihr sie verstehen könnt, und nicht früher." Losey hat diese Sätze frontal aufgenommen. Bernard blickt direkt in die Kamera (und damit uns an, das Publikum), wie bei einer dieser Fernsehansprachen von Politikern, die um unser Vertrauen bitten und uns dafür Plattitüden liefern.

Losey hat kein Verständnis für eine Strategie der Nicht-Information, unabhängig davon, ob die Antwort offen verweigert und auf ein nebulöses Danach verschoben wird oder sich die Nicht-Antwortenden in Allgemeinplätzen ergehen, bis die Sendezeit vorbei ist. In The Damned ist das der Einstieg in den autoritären Staat. Loseys Kommentar zu Bernards Informationsverweigerung ist im Gegenschnitt zu finden. Wenn Bernard die Kinder bittet, ihm zu vertrauen und ihn beurteilen zu lassen, was sie wissen dürfen und was nicht, sehen wir die Schülerinnen und Schüler auf seinem Monitor. Rechts und links vom Monitor stehen die Offiziere, die durchsetzen, was er beschlossen hat, der Sicherheit des Staates wegen.

"Wir verstehen mehr als Sie denken", sagt eines der Kinder. Das Verweigern von Antworten sei undemokratisch, sekundiert die kleine Elizabeth. Ende der Fragestunde, sagt Bernard. Zeit zum Mittagessen. Alles in The Damned ist mehrdeutig und der Interpretation anheim gegeben, mit einer Ausnahme: Demokratie und Bürgerrechte sind für Losey alternativlos. Dazu gehören Transparenz und eine offene Diskussion, die nie zu früh sein kann, weil Verantwortliche, die ihre Entscheidungen nicht begründen müssen, Gefahr laufen, Ad-hoc-Maßnahmen mit einer nachvollziehbaren Kriterien folgenden Strategie zu verwechseln und wie Bernard in einem geschlossenen Denksystem des Entweder-Oder zu landen.

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