Haushaltssperre und Folgen: Wer ist schuld an der Schuldenkrise, die keine ist?
SPD wie CDU/CSU stimmten 2009 für die Schuldenbremse. Die Folge: ein Investitionsstau, an dem keiner schuld sein will. Beseitigt werden könnte er. Ein Kommentar.
Manche Medien sprechen bereits von einer "Schuldenkrise", weil das Bundesverfassungsgericht eine Umgehung der sogenannten Schuldenbremse festgestellt und das Bundesfinanzministerium eine Haushaltssperre verhängt hat. Steht Deutschland kurz vor der Zahlungsunfähigkeit?
Nein, natürlich nicht. Sonst hätte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) in dieser denkwürdigen Woche wohl kaum weitere 1,3 Milliarden an Militärhilfen für die Ukraine zusagen können, mit denen das Land jetzt fest rechnet. Hier zeigt sich: Es ist alles eine Frage der Prioritäten – und vom Staatsbankrott ist Deutschland weit entfernt.
Der Unterschied lässt sich auf eine Privatperson herunterbrechen, die zwar nicht glücklich ist, überhaupt Kreditraten bedienen zu müssen und eigentlich für die Zukunft Besserung gelobt hatte, die aber in absehbarer Zeit nicht zahlungsfähig wird, sondern durchaus noch Spielräume hat –Spielräume, die mehr oder weniger sinnvoll genutzt werden können.
Einen weiteren Kredit sollte sie also nicht für Urlaubsreisen oder Designerklamotten aufnehmen – aber wenn der einzige größere Sachwert, den sie besitzt, beispielsweise ein Haus ist, dessen Dach repariert werden muss, damit es nicht in absehbarer Zeit unbewohnbar und abrissreif wird, dann ist ein weiterer Kredit für die Reparatur sinnvoll.
Der Staat als "schwäbische Hausfrau"
Diesen Unterschied macht die sogenannte Schuldenbremse – auf den Staat übertragen – nicht. Ökonomen wie Peter Bofinger kritisieren deshalb seit Jahren die Gleichsetzung des Staates mit der "schwäbischen Hausfrau", für die Schuldenfreiheit oberstes Gebot ist. Aber selbst die sollte dieses Dogma spätestens überdenken, wenn es in ihr Haus hineinregnet und die Reparatur nicht auf einen Schlag bezahlt werden kann.
Gleiches gilt auf Staatsebene für die Sanierung maroder Schulen, für Digitalisierungsmaßnahmen oder die überfällige Energie- und Verkehrswende.
Der Klimawandel ist eine noch größere Herausforderung als die deutsche Einheit (…) und es kann doch nicht wahr sein, dass wir in 30 Jahren zu unseren Kindern sagen: Tut uns leid, die Welt ist kaputt, aber wir haben keine Schulden.
Peter Bofinger, von 2004 bis 2019 Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 2020 auf einer Veranstaltung in Stuttgart
Das Haushaltsurteil musste das Bundesverfassungsgericht nach eigener Auffassung fällen, weil die Gesetzgebung die Schuldenbremse im Grundgesetz verankert hatte. Das Gericht stellt damit nicht direkt infrage, was es 2021 in einem anderen Urteil selbst angemahnt hat, nämlich effektivere Klimaschutzmaßnahmen.
Allerdings stellt es klar, wie solche Maßnahmen aufgrund der Schuldenbremse nicht finanziert werden dürfen – ungenutzte Gelder aus einem Sonderfonds zur Bewältigung der Corona-Krise dürfen nicht in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) wandern.
Es "fehlen" also 60 Milliarden Euro, die eigentlich da waren, aber nicht für den ursprünglich angedachten Zweck verbraucht wurden – und aufgrund einer 2009 beschlossenen Regel nicht umgewidmet werden dürfen. Die Frage ist also nicht einmal, ob ein zusätzlicher Kredit aufgenommen werden soll.
Die Umwidmung wäre aber eine verfassungswidrige Umgehung der Schuldenbremse, hieß es in der Urteilsbegründung des Gerichts.
Geklagt hatten die Unionsparteien – wohl besessen von der Idee, die Ampel-Parteien alt aussehen zu lassen und ihnen Stümperei vorwerfen zu können, aber womöglich ohne die Folgen umfassend zu bedenken, denn die betreffen nicht nur den Klimaschutz.
Auch Finanzmittel für die Strom- und die Gaspreisbremse dürften durch die Urteilsbegründung gefährdet sein, da es sich um "überjährige" Fonds handelt.
Das Klima-Urteil bleibt nun zwar gültig – aber in der Praxis wurde es bisher schon weitaus weniger ernst genommen als das Haushaltsurteil. Das deutsche Klimaschutzgesetz wurde zwar im Sommer 2021 nachgeschärft, zwei Jahre später aber durch die Streichung der Sektorziele deutlich aufgeweicht.
Sollte es jetzt nicht vollständig ignoriert werden – was in der Ampel-Regierung vor allem die FDP für eine gute Lösung hält – müssen entsprechende Programme anders finanziert werden.
Debatte über Kürzungsorgie in vollem Gang
Die Einnahmen etwa durch eine Vermögenssteuer zu erhöhen, wäre eine Möglichkeit – aber in einer Koalition mit der FDP ist das nicht zu machen. Hinter den Wirtschaftsliberalen als "Königsmacher" können sich auch SPD und Grüne gut verstecken, wenn es darum geht, sich mit der Oberschicht anzulegen.
Die Debatte über eine Kürzungsorgie zur Bewältigung der angeblichen Schuldenkrise ist schon im vollen Gang: Der CDU-Chef und Oppositionsführer Friedrich Merz fordert unter anderem den Verzicht auf die Kindergrundsicherung, auf ein höheres Bürgergeld sowie auf das Heizungsgesetz.
Die Schuldenbremse, die mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag wieder abgeschafft werden könnte, ist ihm heilig – selbst eine vorübergehende Lockerung lehnt er ab.
Seine Rechnung ist klar: Die meisten Menschen werden sich hoffentlich nur daran erinnern, was ihnen unter der aktuellen Bundesregierung zugemutet alles wurde, nicht aber an die Rolle der Unionsparteien in "schwarz-roten" Vorgängerregierungen, die entsprechende Weichen gestellt haben.
Doch auch zwischen den "Ampel"-Parteien gibt es Meinungsverschiedenheiten: SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert plädiert für eine Aussetzung der Schuldenbremse. Die FDP will erst einmal prüfen, ob nicht bei den Sozialleistungen gekürzt werden kann.
Beschlossen wurde die Schuldenbremse unter einer "schwarz-roten" Bundesregierung im Frühjahr 2009 – alle damals im Bundestag vertretenen Parteien außer den Grünen und den Linken haben mehrheitlich dafür gestimmt. Im Ergebnis wurden wichtige Zukunftsinvestitionen nicht getätigt – was nicht "nur" Klimaschutz, Energie und Verkehrswende betrifft, sondern auch die Digitalisierung und den Bildungsbereich.
Neben den Unionsparteien und der FDP, die von 2009 bis 2013 an deren Seite regierte, hat die SPD als langjähriger Koalitionspartner den Investitionstau mitzuverantworten, der jetzt einer "rot-grün-gelben" Bundesregierung auf die Füße fällt.
Um diese Regierung mal so richtig vorzuführen– und damit einen "roten" Kanzler, der zuletzt Finanzminister im "schwarz-roten" Kabinett einer Kanzlerin mit CDU-Parteibuch war – haben die Unionsparteien gegen die Umwidmung der nicht verbrauchten Finanzmittel geklagt.
Aktuell verlangen sie von der "Ampel"-Regierung soziale Grausamkeiten, die möglicherweise auch kommen werden. Aber spätestens zum Wahlkampfauftakt 2025 will es bestimmt keiner mehr gewesen sein.