Heilung durch Anwesenheit

Seite 3: Erklärungsansätze

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Bis heute ist unklar, warum in manchen Situationen der Placebo wirkt, in manchen nicht. Gibt es ihn überhaupt, einen bewährten und wiederholbaren Placeboeffekt? Die Beweislage ist dürftig. Zukünftige Studien müssen zeigen, in wie weit aus einem Schein- ein valides Heilverfahren werden kann. Es existieren einige Stolperfallen bei der Erklärung und weiteren Erforschung des Placeboeffekts:

  1. Nicht jede Gesundung nach Einnahme eines Placebos ist auf diesen zurück zu führen. Wie von jedem Schnupfen bekannt, bessern sich manche Symptome nach einiger Zeit ohnehin. Dieser natürliche Krankheitsverlauf ist nur schwer sowohl von der Placebo- wie auch der Serumbehandlung zu trennen.
  2. So wie es aussieht hilft die häufige Einnahme von Scheinmedikamenten besser als die nur sporadische. Zu allem Überfluss wirken Markenplacebos zudem besser als generische.
  3. Es braucht nicht unbedingt ein Scheinmedikament, um einen Placeboeffekt zu produzieren. Die Behandlung mit wirksamen Medikamenten kann in sich schon einen Placeboeffekt beinhalten. In klinischen Studien, die die Überlegenheit eines neuen Medikaments gegenüber Placebo beweisen sollen, wird der echte Medikamenteneffekt als Differenz zwischen den aggregierten Daten der Substanz- und den aggregierten Daten der Placebogruppe errechnet. Bei einem Antidepressivum funktioniert das beispielsweise so: Wenn 40 Prozent der Antidepressiva-Probanden eine Besserung verspüren, allerdings auch 30 Prozent der Placebo-Probanden, dann liegt der bereinigte Antidepressiva-Effekt bei 10 Prozent. Die Arzneimittelforschung stützt sich bei dieser Vorgehensweise auf einen Effekt, den sie in seiner Struktur noch nicht vollständig verstanden hat.
  4. Es ist verwirrend: Blaue Beruhigungspillen helfen besser als rote, es sei denn, man ist Italiener, dann ist es umgekehrt. Eine anderes Beispiel: Deutsche mit Magengeschwüren lassen sich dagegen gut mit Placebo behandeln, die Erfolgsrate ist hier doppelt so hoch wie im Rest der Welt. Sind die Deutschen also besonders sensibel für Placebo? Nein, bei Blutdruck-Placebos ist es umgekehrt, hier ist die Rate des Ansprechens die niedrigste weltweit.
  5. Die sogenannten „Placebo-Responder“ sind ein Problem für die Arzneimittelentwicklung, viele Studien beginnen daher mit einer reinigenden Maßnahmen, indem sie erst einmal allen Studienteilnehmern ein Placebo verabreichen und die darauf besonders Ansprechenden vom weiteren Verlauf ausschließen. Das Problem ist, dass bis heute keine verlässliche Methode existiert, um Placebo-Responder zu identifizieren. Es gibt keine typischen körperlichen oder charakterlichen Eigenschaften einer Person, die besonders gut auf einen Placebo reagiert. Menschen reagieren zu einem Zeitpunkt ausgeprägt, zu einem anderen Zeitpunkt kaum auf ein Scheinmedikament. Es existieren ohnehin wenig Studien, die Personen immer mal wieder auf ihre Placebosensibilität untersucht haben.
  6. Viele der eingesetzten Placebos wie Speisestärke, Kochsalzlösungen und erst Recht Milchzucker besitzen durchaus physiologische Eigenschaften.
  7. Einige Placebo-Forscher sind nicht davor gefeit, die Überlegenheit von Scheinbehandlungen bereits in ihrem Untersuchungsdesign zu formatieren. Als ein Beispiel hierfür kann die oft zitierte Arthroskopie-Studie von Bruce Moseley gelten. Seine Bilanz damals, die seither in der Welt steht: Nur angedeutete Kniegelenksoperationen führen ebenso zum Erfolg wie korrekt durchgeführte. Mosley hatte Arthroskopien durchgeführt, bei acht der Patienten allerdings nur einen Schnitt gesetzt, damit die Narbe zur Gesundung beiträgt. Sechs Monate später waren sowohl die Scheinoperierten wie auch die korrekte Operierten zufrieden mit dem Ergebnis. Aber anstatt zu schließen, dass die Patienten die OP gar nicht nötig gehabt haben oder der chirurgische Eingriff nutzlos war, weil sich Selbstheilungskräfte ohnehin ihren Weg gebahnt hätten, zogen Moseley und andere einen anderen Schluss: Die Heilung der acht Scheinoperierten könne nur durch den Placeboeffekt verursacht worden sein, während die anderen Patienten sich besser fühlten, weil sie eine richtige OP gehabt hätten.

Eine der zukünftig zu beantwortenden Fragen wird sein, in wie weit das Wissen um den Placeboeffekt dessen Wirkung beeinflusst, ob also ein hohes Maß an richtiger Lageeinschätzung und ein hohes Maß an korrekter Selbsteinschätzung die Erfolgschancen einer Placebobehandlung verringern oder erhöhen. Für beides gibt es Hinweise. Dazu kommt die Frage, wie sich messen lässt, ob der Patienten überhaupt geheilt werden will. Interessant dürfte auch sein, den zu erwartenden Placebo-Erkenntnisfortschritt auf die alternativen Heilverfahren anzuwenden. Es wird seit längerem vermutet, dass die Bedeutungserteilung ein wichtiger Bestandteil beispielsweise der homöopathischen Medizin ist. Fest steht: Übertragen wird dort in den hohen „Potenzen“ keine materielle Substanz, sondern eher so etwas wie „Information“. Wie genau das funktioniert? Man weiß es nicht.

Eine anhaltende Gesundung eines Menschen ist umso wahrscheinlicher, desto eher die physikalisch-chemische Therapie und die Bedeutungserteilung durch Arzt und Patient in die gleiche Richtung zielen. Der Placeboeffekt rüttelt nicht nur ein weiteres Mal an der überkommenden Vorstellung der Trennung von Körper und Psyche, er kann als Instrument dienen, um der Zeicheninterpretation auf die Spur zu kommen, die ein Arzt gegenüber einem Patienten leisten muss. Diese Interpretation kann nicht allein auf einer Deutung der biochemischen Ereignisse in dessen Körper beruhen. Der Arzt muss den Patienten befragen, um seine individuelle Vorgeschichte zu erfahren und zudem seinen kulturellen Kontext berücksichtigen. Das allerdings kostet Zeit. Wie die oben erwähnten Versuche mit Schmerzpatienten zeigen, hätte eine gründlichere Erklärung des Placeboeffekts einen weiteren Vorteil: Es wären weniger Medikamente nötig, um Linderung oder gar Heilung zu erzielen.