Im Schattenhaus: Bei den Geistern der Vergangenheit

Seite 3: Drachen und Schattengewächse

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Lee konnte ziemlich unleidlich werden, wenn er sich in seiner Würde als Schauspieler verletzt fühlte. Bei seinen Szenen in Nachts, wenn Dracula erwacht durfte - auf Kosten des restlichen Films - nicht gespart werden, weil Towers Lee eine finanziell gut ausgestattete Produktion versprochen hatte, keinen mit seinem Namen spekulierenden Billigfilm. Ein weiterer von Towers ausgeworfener Köder war der, dass er direkt aus dem Roman übernommene Sätze sprechen durfte, und sogar mehrere hintereinander. Bei den Hammer-Draculas ärgerte er sich permanent darüber, dass er weniger zu sagen hatte als Johnny Weissmüller in den Tarzan-Filmen.

Man fragt sich, wie seine erste Reaktion war, als er erfuhr, dass er in Cuadecuc - abgesehen vom Schluss - gar nicht mehr zu hören sein würde. Jedenfalls scheint er sich mit Portabella gut verstanden zu haben. Er war sogar bereit, einen weiteren Film mit ihm zu drehen. Im Spanien des ewigen Caudillo war das schon ein politischer Akt. Am Anfang von Umbracle besucht Lee das Zoologische Museum. Dr. Pretorius aus Bride of Frankenstein könnte hier die Gläser mit seinen Homunculi abgestellt haben, aber es geht doch mehr um die Tierpräparate und um den Akt des Sehens als Mittel der Gewaltausübung. Umbracle ist Portabellas Meditation über Psycho, mit Graf Dracula als Franco-Double in einer Gastrolle.

Drachen und Schattengewächse (25 Bilder)

Cuadecuc

Hitchcocks Norman Bates hat zwei Hobbys, den Voyeurismus und die Taxidermie. Bei Portabella beobachten wir Christopher Lee dabei, wie er durch die Reihen mit den Vitrinen geht und die Exponate betrachtet, zu gespenstischer Musik von Carles Santos, die klingt, als habe er mehrere Frauenstimmen gemischt und elektronisch verfremdet - passend zu den Bildern, die aussehen wie durch Gaze gefilmt, oder durch ein Leichentuch. Wir beobachten auch einen Museumswärter dabei, wie er Christopher Lee beobachtet, und unterdessen beobachtet Lee einen Präparator dabei, wie er einen ausgestopften Reiher in den Schaukasten mit den Störchen und den Flamingos stellt, damit ihn die Besucher dort sehen können.

Das ist die Einführung in eine Überwachungswelt, in der alles kategorisiert ist und man nie wissen kann, wer einen gerade beobachtet. Vielleicht kam Portabella die Idee zu Umbracle, als Jess Franco die Szene drehte, in der Dracula in Lucys Schlafzimmer eindringt und ihr das Leben aus dem Körper saugt. Soledad Miranda sieht da aus wie Marion Crane nach dem Duschmord. Könnte das Tier, das der Präparator bringt, ein Kranich sein? Crane ist das englische Wort für diesen Vogel; als Verb gebraucht bedeutet es: den Hals recken (damit man besser sehen kann).

Norman spricht von grausamen Augen, die einen beobachten, bevor er Marion ersticht und ihr Kopf mit nun toten, weit aufgerissenen Augen auf dem Boden liegt. Sie ist jetzt einer von seinen Vögeln und sieht nichts mehr. Aber was ist das für ein seltsamer Titel? Umbracle. Das Wort ist abgeleitet vom lateinischen umbraculum und wäre in etwa mit "Schattengang" oder "Schattenhaus" zu übersetzen. Mit seinem Glasdach und der Lamellenkonstruktion zur Filterung des Lichts könnte das Umbracle von Barcelona, das Portabellas Film den Titel gab, fast ein frühes Atelier sein wie jenes, das sich der Kinomagier Georges Méliès in Montreuil baute.

Errichtet von 1883 bis 1887 im Parc de la Ciutadella, dem zentralen Ort der Weltausstellung von 1888, ist das Umbracle das ideale Gewächshaus für Pflanzen, die den Schatten der Baumriesen in tropischen und subtropischen Urwäldern lieben. Der "Zitadellenpark" ist nach der riesigen Festung benannt, die Philipp V. dort bauen ließ, um das im spanischen Erbfolgekrieg eroberte Barcelona zu kontrollieren und zu unterjochen. Als Haus der Schatten ist das Umbracle also nicht nur ein geeigneter Platz für den lichtscheuen Vampir; für die Bewohner Barcelonas ist es auch, durch seine Lage im Parc de la Ciutadella, mit dieser alten Zitadelle assoziiert, dem Symbol der verhassten Zentralregierung in Madrid.

Ebenfalls für die Weltausstellung im Zitadellenpark errichtet wurde das Castell dels Tres Dragons, ein Wahrzeichen des katalanischen Jugendstils und für die Katalanen ein wichtiger Ausdruck ihrer kulturellen Identität, die Franco am liebsten ausgemerzt hätte, weil er in seinem Zentralstaat keine kulturelle Vielfalt wollte. Als Christopher Lee durch die "Burg der drei Drachen" ging beherbergte das Gebäude noch das Zoologische Museum von Barcelona. Durch die Wahl des Drehorts gab Portabella ein politisches Statement ab, und ein Bekenntnis zur Kultur der Katalanen. Originalschauplätze erzählen ihre eigene Geschichte. Als Filmemacher kann man das nutzen - beispielsweise zum Unterlaufen der Zensur.

Herrschaft des Unrechts

Nach dem Museumsbesuch wird Lee Zeuge der schon erwähnten Entführung (siehe Teil 1). Ein Mann wird in ein Auto gezerrt und weggebracht. In Psycho versinkt das Auto mit der Leiche von Marion Crane im Sumpf. Der Wagen in Umbracle bringt den verschleppten Mann in einen der Kerker des Regimes. Dazu läutet dauernd das Telefon. Ist der Anrufer ein Freund, der den Mann warnen wollte und ihn nicht mehr erreichte? Will jemand die Polizei alarmieren? Niemand nimmt den Hörer ab in einem Land, in dem die Polizisten die Entführer sind. Hilfe gibt es nicht in einem Willkürstaat wie diesem.

In Informe general wird die Autofahrt fortgesetzt. Wir sind wieder in Barcelona. Früher Morgen. Auf dem Rücksitz haben Magda Oranich und Marc Palmes Platz genommen, die Verteidiger von Juan Paredes, genannt "Txiqui". Txiqui war ein militantes Mitglied der ETA. Nach einem Banküberfall wurde er im September 1975 von einem Militärgericht in einem Eilverfahren zum Tode verurteilt. Grundlage waren im August verabschiedete Anti-Terror-Gesetze, die von internationalen Organisationen als Verstoß gegen die Menschenwürde gebrandmarkt wurden. Die Anwälte erklären Txiqui nicht zum Unschuldsengel. Sie berichten von einem Mandanten, dem ein rechtsstaatliches Verfahren verweigert wurde.

Herrschaft des Unrecht (15 Bilder)

Informe general

Im Laufe der Fahrt wird klar, dass das Auto auf denselben Straßen unterwegs ist, auf denen damals ein kleiner Konvoi fuhr, um zur Hinrichtungsstätte zu gelangen - gleich neben dem Friedhof, in dem der Leichnam anschließend verscharrt wurde. Dort angekommen, zeigen die Anwälte die Stelle, an der ihr Mandant von einem aus Geheimpolizisten bestehenden Erschießungskommando getötet wurde, eine Woche nach der Verhandlung, auf die sich die Verteidigung vier Stunden lang vorbereiten konnte. Der Horror der Diktatur wird da sehr real. Am Schauplatz des Justizmordes hat jemand einen Stacheldrahtzaun errichtet, als solle man am Betreten einer Vergangenheit gehindert werden, die man besser schnell vergisst.

Juan Paredes war einer von fünf militanten Franco-Gegnern, die am 27. September trotz internationaler Proteste hingerichtet wurden, nachdem sie Militärtribunale unter Umgehung rechtsstaatlicher Prinzipien verurteilt hatten. Im Oktober versuchten Costa-Gavras und Yves Montand, zwei Protagonisten des politisch engagierten Films (Z, Das Geständnis, Der unsichtbare Aufstand), in Madrid gegen den franquistischen Unrechtsstaat zu demonstrieren; sie wurden von der Polizei daran gehindert und ausgewiesen. Weitere Exekutionen wurden erwartet. Die Rede war von einer Todesliste mit 27 Namen.

Am 20. November starb Francisco Franco. Das Ende des Diktators war gleichbedeutend mit dem Ende der Todesstrafe. Das war tatsächlich so ähnlich wie in Stokers Dracula-Roman. Da wird nach Lucy auch Mina allmählich zur Vampirin. Nach Draculas Tod ist sie geheilt. Eine Existenz als Untote und als versklavte Braut eines übermächtigen, seinen Untertanen das Blut aussaugenden Patriarchen bleibt ihr erspart. Die schreckliche Autofahrt in Informe general vergisst man nicht so leicht. Das Läuten des Telefons zur Verschleppungsszene in Umbracle ist quälend. Die ganz dokumentarisch gehaltene Autofahrt ist noch schlimmer.

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