Im Schattenhaus: Bei den Geistern der Vergangenheit

Seite 6: Vampire, Schlachtvieh und Konsumenten

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Portabella, meint Rosenbaum, sei in einer Tretmühle unterwegs, und diese Tretmühle sei das heutige Spanien (also das Spanien von 1969/70, als der Film gedreht wurde und von 1972, als er erstmals gezeigt wurde): ein Land, "dem man nicht entkommen und das man nur durch einen Schrei ausdrücken kann. Umbracle ist, unter Verwendung verschiedener Mittel und Tonalitäten, eine präzise Wiedergabe dieses Schreis." Viel besser kann man es nicht sagen. Als Zufluchtsort bleibt die Konsumwelt. Zur Stabilisierung des Landes wurde 1959 ein "Wirtschaftsstrukturgesetz" verabschiedet, das eine wirtschaftliche Öffnung in die Wege leitete, damit politisch alles bleiben konnte, wie es war.

Nach einer durch die Liberalisierung des internationalen Waren- und Dienstleistungsverkehrs verursachten Rezession mit Landflucht, hoher Arbeitslosigkeit und starker Arbeitsmigration in das europäische Ausland begann 1962 ein Jahrzehnt des wirtschaftlichen Aufschwungs mit einer Neuausrichtung der spanischen Wirtschaft auf den Export, weniger Restriktionen für den Import von Konsumgütern und einer erhöhten Kaufkraft durch das von den Arbeitsmigranten nach Hause geschickte Geld. Das waren Devisen, durch die sich die Zahlungsbilanz verbesserte, was wiederum Importe erleichterte.

Vampire, Schlachtvieh und Konsumenten (34 Bilder)

Umbracle

Die schöne neue Warenwelt, die den Spaniern versprochen wurde, nimmt Portabella schon in seinem ersten Film aufs Korn. No compteu amb els dits besteht aus 28 Segmenten, die sich in Länge und Formgebung an den Werbespots im Kino und im Fernsehen orientieren, um zu zeigen, wie die Konsumgesellschaft unsere Wahrnehmung verändert. Auch in Portabellas Version von einer Erotikszene in Umbracle dominiert das Materielle. Wir sind im Schlafzimmer angelangt. Jeanine Mestre legt sich nackt ins Bett. Christopher Lee schaut zu. In dieser Szene ist er am vampirhaftesten. Er beugt sich über Mestre, schlägt die Decke zurück, beißt aber nicht in ihren Hals, sondern holt Schmuckstücke aus einer Kommode.

Lee legt Mestre einen Armreif um das Handgelenk, schmückt sie mit Ohrringen, steckt ihr einen Ring an den Finger. Das ist kein Erwecken der weiblichen Sexualität wie im Vampirfilm, sondern die Inbesitznahme des weiblichen Körpers durch Pretiosen, die wie Ketten sind. Erst danach senkt Lee den Kopf, als würde er nun endlich zubeißen. Anschließend fährt die Kamera an dem nackten Frauenkörper entlang, vom Kopf über Rücken, Po und Beine bis zu den Füßen, die in Pumps stecken wie die von Draculas Braut auf dem Weg zur Pfählung, in Cuadecuc.

Vorher haben wir die namenlose Frau in einem Schuhgeschäft gesehen. Portabella macht daraus eine leicht surreal angehauchte Mischung aus Werbefilm und Buñuel’schem Fuß- und Schuhfetischismus. Dazu hören wir eine Coverversion von "Close to You", einem Wohlfühlsong der Carpenters: "Why do birds suddenly appear/Every time you are near?/Just like me, they long to be/Close to you". Später, wenn wieder dieses Lied erklingt, sind wir in einem Schlachthof und sehen dabei zu, wie Hühner getötet und in automatisierten Produktionsschritten zu Supermarktware verarbeitet werden.

Interessanterweise drehten Portabella und der ebenfalls stark vom Surrealismus beeinflusste Fernando Arrabal ziemlich genau zur selben Zeit filmische Auseinandersetzungen mit dem Spanien des Francisco Franco, die das durchschnittene Auge in Buñuels Un chien andalou auf die Spitze treiben, jeweils auf ihre Weise. In Arrabals Viva la muerte forscht ein Junge dem Schicksal seines Vaters nach, der im Bürgerkrieg als Kommunist verschleppt wurde und verschwunden ist (der Titel, "Es lebe der Tod", bezieht sich auf einen berüchtigten Ausspruch von Millán Astray, der mit Franco die spanische Legion gegründet hatte).

Beide, Portabella wie Arrabal, ziehen aus der Machart der franquistischen Propaganda den Schluss, dass man die herkömmlichen Gestaltungsmuster durchbrechen und den Zuschauer aus seiner bequemen Konsumentenhaltung reißen muss, um der Wirklichkeit gerecht zu werden (in Viva la muerte ist es die Wochenschau, die das Publikum indoktriniert). Den Sohn des Verschwundenen plagen groteske, mit Video gedrehte, auf Film übertragene und durch Farbfilter weiter verfremdete Albträume. Arrabal zeigt ein Spanien, in dem die vom Bürgerkrieg hinterlassene Leere mit Sex und Gewalt ausgefüllt wird.

Ein schockierender Höhepunkt von Viva la muerte ist das Schlachten eines Ochsen. Aus der Tötung des Tieres wird ein atavistisch anmutendes Blutritual, bei dem mehr roter Lebenssaft die Leinwand tränkt als in allen Vampirfilmen mit Christopher Lee zusammen. Bei Portabella ist das Töten Teil einer auf Effizienz getrimmten Konsumgesellschaft und ein Blick hinter die Kulissen eines Schlachthofs (so wie Cuadecuc ein Blick hinter die Kulissen eines Dracula-Films ist). In den quälend langen drei Minuten, die Portabella der Verwandlung lebender Tiere in tote Supermarkthühner widmet kann man darüber nachdenken, was einen als braven Konsumenten in einer unfreien Gesellschaft mit diesen Tieren verbindet.

Geister der Vergangenheit

Umbracle endet mit einer Referenz an Alfred Hitchcock. Am Schluss von Psycho sitzt Norman, der Vögel genauso präpariert wie seine Mutter, in einer Zelle. Er ist jetzt "Mrs. Bates" und weiß, dass er beobachtet wird. Wir hören seine/ihre Gedanken. Ich kann doch nur hier sitzen und starren wie einer von Normans ausgestopften Vögeln, denkt "Mrs. Bates". Ich will nur ruhig hier sitzen und nicht einmal die Hand bewegen (auf der eine Fliege gelandet ist). Nicht einmal diese Fliege werde ich totschlagen. Sie sollen zuschauen und sehen, was für eine harmlose Person ich bin. Eine Person, die nicht einmal einer Fliege ein Leid zufügen würde.

Dann starrt uns ein grinsendes, durch Überblendung zum Totenschädel werdendes Gesicht an, das Auto mit der Leiche wird aus dem Sumpf gezogen und der Film ist aus. Am Ende von Umbracle ist die Fliege wieder da. Christopher Lee sitzt vor uns wie "Mrs. Bates" und schlägt sie tot. Wir sehen ihre letzten Zuckungen, während wieder das nun mit Schlachtvieh assoziierte "Close to You" erklingt (ein Wohlfühlsong ist das jetzt nicht mehr) und die Schlusstitel laufen. Zuerst der Titel des Films: Umbracle. Das Spanien des Diktators ist eine Gefängniszelle und ein Schattenhaus, in dem die Monster und Dämonen besonders gut gedeihen.

Geister der Vergangenheit (18 Bilder)

Umbracle

Einer von denen, die in Informe general über das Spanien nach Franco diskutieren ist Felipe González, später der erste sozialistische Regierungschef des Landes. Im Juli 1986, am 50. Jahrestag des Ausbruchs des Bürgerkriegs, meinte González, dass der Krieg längst Geschichte sei und ein Gedenken daher nicht mehr nötig. Die Spanier erfahren gerade wieder, dass das Vergessen und Verdrängen nicht so einfach ist. Bis heute spalten die Geister der Vergangenheit die Gesellschaft.

Bevor Franco exhumiert werden kann muss erst der Streit über den Verbleib der Gebeine beigelegt werden. Danach sieht es momentan nicht aus. 2007 verabschiedete das Parlament ein von der Regierung des sozialistischen Premierministers Zapatero eingebrachtes (und bis zur Ratifizierung reichlich verwässertes) "Gesetz des historischen Andenkens", das dazu beitragen sollte, die von Bürgerkrieg und Diktatur geschlagenen Wunden zu heilen. Verfügt wurde unter anderem das Entfernen franquistischer Symbole an öffentlichen Gebäuden und Plätzen (an solchen der katholischen Kirche nur dann, wenn sie staatliche Subventionen erhalten). Politische Veranstaltungen im Tal der Gefallenen wurden verboten.

Der derzeitige Premierminister Pedro Sánchez versprach als eine der ersten Maßnahmen seiner Minderheitsregierung, Franco aus der Basilika zu entfernen, stieß aber auf den Widerstand der Familie. Um den Weg freizumachen verabschiedete das Parlament im September 2018 einen Zusatzartikel zum "Gesetz des historischen Andenkens", der besagt, dass nur die sterblichen Überreste von Menschen ihre letzte Ruhestätte im Tal der Gefallenen finden dürfen, die als Folge des Bürgerkriegs ihr Leben verloren haben. Der Caudillo ist der einzige von den über 30.000 Toten in diesem Tal, auf den das nicht zutrifft, muss also weg.

Allerdings scheint Sánchez nicht mit dem nächsten Zug der Familie gerechnet zu haben. Sie will, dass der Leichnam in die Krypta der Almudena-Kathedrale überführt wird, wo bereits Francos Tochter liegt, also in das Zentrum von Madrid, wo dann womöglich ein Wallfahrtsort für Rechtsradikale entstehen würde. Sanchez hat angekündigt, das - wiederum unter Berufung auf das Gesetz von 2007 - zu verhindern. Um einen Rechtsstreit mit unbestimmtem Ausgang zu vermeiden soll jetzt die katholische Kirche vermitteln, die schon einige Haken geschlagen hat, weil niemand den Schwarzen Peter haben will. Ausgang offen.

Francos Geist wird auch mit im Gerichtssaal sitzen, wenn Spaniens Justiz den katalanischen Separatisten nächstes Jahr den Prozess macht. Unabhängig davon, wo die Gebeine des Diktators dereinst landen werden: Damit Spanien seinen Frieden mit der Vergangenheit machen kann muss sie nicht bewältigt, aber aufgearbeitet werden. Die geplante Umgestaltung des Valle de los Caídos in einen Ort der Versöhnung bietet die nächste Gelegenheit dazu, auch wenn die versprochene Identifizierung der dort einst anonym verscharrten Leichen neue Verletzungen mit sich bringen wird.

Um die Gespenster zu bannen, das weiß im Grunde jedes Kind, muss man sie benennen, ihre Vergangenheit erforschen und herausfinden, wo sie begraben sind. Zur Vorbereitung empfehle ich die Filme von Pere Portabella, der es durch die kreative Anverwandlung des europäischen Horrorfilms verstanden hat, einen neuen Blick auf das zu werfen, was wir für die Wirklichkeit halten. Portabella zeigt, wie befreiend ein solcher Wechsel der Perspektive sein kann. Gegen Gehirnwäsche und Gefängnisse jeder Art ist das viel wirksamer als Kruzifix, Hostie und Rosenkranz.

Pere Portabella auf DVD:

Das bei Intermedio in einer Box mit sieben DVDs erschiene Gesamtwerk (englische, französische und katalanische Untertitel) ist vergriffen, bei einschlägigen Verkaufsportalen aber gelegentlich noch auffindbar. Eine in Frankreich erhältliche DVD-Box ist mit der von Intermedio weitgehend identisch (auch die Untertitel) und enthält dieselben 22 Filme. Die in den USA bei Severin erschienene Blu-ray-Ausgabe von Jess Francos Count Dracula (Nachts, wenn Dracula erwacht) bietet als Bonus eine zweite Blu-ray mit Cuadecuc Vampir (beide Discs Region A,B,C). Die beste Einzelausgabe von Cuadecuc (DVD und Blu-ray) gibt es bei Second Run in England: mit einem halbstündigen Portabella-Interview, zwei Kurzfilmen des Regisseurs, einer 20-minütigen Würdigung durch William Fowler vom British Film Institute und einem Booklet-Text des Soledad-Miranda-Bewunderers Stanley Schtinter. Bei deutschen Anbietern sucht man Pere Portabella vergeblich. Die hiesige Filmkultur ist ein zartes Pflänzchen, das zu selten gegossen wird.

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