Im Schattenhaus: Bei den Geistern der Vergangenheit
Seite 5: Mit einem Vampir im Aufzug
Danach geht Lee wieder ins Zoologische Museum. Dieses Mal kauft er sich sogar eine Eintrittskarte. Man sieht lange Reihen mit Vögeln in Vitrinen; schemenhaft auch das Skelett des Dinosauriers, das im Kastell der drei Drachen ausgestellt war. Bei dieser Gelegenheit könnte man sich an den Glaskasten mit den Rabenvögeln erinnern, an dem Lee bei einem früheren Besuch vorbeiging, bevor er das Museum wieder verließ - mit einem stillen Gruß an Norman Bates vielleicht, den Killer und Präparator, der sich vor den durchdringenden Blicken anderer Lebewesen fürchtet?
Rabenvögel sind die Protagonisten einer berühmten Szene in The Birds, dem mittleren Film in Hitchcocks alphabetisch geordneter Trilogie über Frauen als Opfer einer patriarchalischen Gesellschaft: Marion Crane (MC) in Psycho, Melanie Daniels (MD) in The Birds, Marnie Edgar (ME) in Marnie (und Edgar wie in Edgar Allan Poe). Die Frau in Umbracle ist Jeanine Mestre, eine der gepfählten Vampirbräute in Nachts, wenn Dracula erwacht (und in Cuadecuc). Das erste Mal begegnen wir ihr in Hitchcocks liebstem Fortbewegungsmittel, dem Zug.
Mit einem Vampir im Aufzug (23 Bilder)
Die Frau sitzt allein in einem Abteil (auf Platz 36, 1936 begann der Bürgerkrieg), liest eine Zeitung. Ein Mann kommt herein, setzt sich ihr gegenüber, schaut sie an. Die Frau fühlt sich erkennbar unwohl, wirft hin und wieder einen kurzen Blick auf ihr Gegenüber, aber meistens hält sie die Augen gesenkt, während der Mann sie weiter anschaut. Kein Wort wird gesprochen. Wir hören nur das Rattern des Zuges. So vergehen drei Minuten, in denen weiter nichts passiert und doch so viel. Aus einer an sich alltäglichen Szene - zwei Leute sitzen in einem Zugabteil - wird eine Studie über die Macht der Blicke. Portabella etabliert so eine Atmosphäre von Überwachung und Bedrohung.
In einer späteren Szene betritt die Frau einen Aufzug. Christopher Lee steht schon drin. Dieses Mal schaut der Mann die Frau so betont nicht an, dass es schon wieder auffällig ist. Mestre wirkt durch die Inszenierung klein und eingeengt. Aus dem Augenwinkel blickt sie verstohlen zu Lee, dann wieder weg. Der Aufzug fährt nach oben, Lee geht hinaus, die Frau fährt weiter. Mehr passiert nicht. War der Mann mit der Vampir-Aura zufällig in dem Aufzug oder stand er da, um eine unheimliche Präsenz zu demonstrieren, um der Frau zu zeigen, dass man sie beobachtet?
Die Frage lässt sich so wenig mit Bestimmtheit beantworten wie die, ob der Mann im Zug ein potentieller Vergewaltiger war, ein Geheimpolizist oder ein harmloser Passagier, der keinen Lesestoff dabei hat und ins Leere blickt, der die Frau weniger anschaut als durch sie hindurch. Das Bedrückende daran ist, dass man es nie sicher wissen kann, dass es Sicherheit in einem Unrechtsstaat nicht gibt, obwohl sie von Autokraten versprochen wird. Die Bedrohung ist überall und nirgends. Wer heute ungehindert mit dem Zug von A nach B fährt wird morgen vielleicht schon von der Polizei erwartet und sein Ziel nie erreichen.
Stummer Schrei
In Umbracle dominiert das Gefühl des Gefangenseins, der Klaustrophobie. Kurz vor Schluss kommt die Frau nach Hause. In ihrer Wohnung legt sie eine Schallplatte auf. Wir hören Musik, die Frau geht zum Telefon, will jemanden anrufen. Auf der Tonspur wiederholen sich dieselben paar Noten, als habe die Platte einen Sprung. Einen solchen Sprung hat für Portabella auch das Leben in Francos Spanien. Wir sehen, wie Mestres Hand den Telefonhörer zum Ohr führt, immer wieder. Die Kamera wechselt die Perspektive. Dann geht es von vorne los. Immer wieder. Die andere Hand streckt sich zur Wählscheibe. Dann noch einmal, ehe die Frau eine Nummer wählen kann. Immer wieder.
Poes Gedicht fängt damit an, dass der Erzähler das Klopfen des Raben an Tür und Fenster hört. In Umbracle begleitet das Klopfen eine Szene mit Jeanine Mestre und Christopher Lee. Die beiden sitzen auf einem Sofa und unterhalten sich. Anstelle der Dialoge hören wir (und nicht die Schauspieler) ein Klopfgeräusch. Wer klopft wissen wir so wenig wie wir wissen, wer bei der Entführung den Telefonanruf macht. Aus der Unterhaltung wird ein Streit und daraus - vielleicht - eine Versöhnung. Das Klopfen wird häufiger und insistierender. Die Kamera fährt langsam zurück, zur Zimmertür hinaus, durch einen dunklen Korridor, immer weiter weg vom Paar auf dem Sofa, bis die Szene endet. Das ist enervierend.
Stummer Schrei (23 Bilder)
Dieses Zimmer steht für Francos Spanien. Die Tür ist offen, und doch kann man nicht hinaus. Allenfalls verschwindet man kurz im Off, dann ist man wieder da und sitzt auf diesem Sofa aus einer anderen Zeit. Draußen klopft es und man hört es nicht, so wie man selber nicht gehört wird mit dem, was man zu sagen hat. Für mich erklärt das Portabellas an die Nouvelle Vague erinnernden Hang zum Zitat, zum Verweis auf andere Filmemacher. In einer Diktatur mit vom Regime kontrollierten Massenmedien, die in für ihn wichtigen Bereichen vom Ausland abgeschottet war, stellte er so den Kontakt nach draußen her, zur freien Welt am Ende des dunklen Korridors.
Einer, der seit Jahrzehnten dafür wirbt, mit Pere Portabella einen führenden Vertreter des europäischen Films zu entdecken, ist der amerikanische Kritiker Jonathan Rosenbaum. Nachdem Umbracle 1972 in Cannes gelaufen war (ohne den Regisseur, der nach wie vor keinen Reisepass hatte und Spanien nicht verlassen durfte), schrieb er in der Village Voice, dass Portabella aus der asynchronen Verwendung von Bild und Ton ein Aggressionsinstrument mache, um - vergleichbar mit Hitchcock und Alain Resnais - unsere narrativen Erwartungen zu unterlaufen und uns so in Unruhe zu versetzen.
Das, so Rosenbaum, sei Ausdruck der politischen Frustration, von der Umbracle handele: "Stumme Bilder von einem sich unterhaltenden Paar in einem Wohnzimmer werden von lauten Klopfgeräuschen begleitet, die immer heftiger und gröber werden, bis wir fast zu schreien anfangen, dass jemand an die Tür gehen möge. […] Vorher läutet dauernd das Telefon, und niemand geht an den Apparat; und in der vorletzten Szene, wenn eine Frau eine Schallplatte mit Beethovens ‚Pastorale’ auflegt, bleiben sowohl die Platte wie das Bild hängen - dieselben paar Noten werden endlos wiederholt, und die Finger der Frau strecken sich unablässig nach der Wählscheibe eines Telefons aus, die sie nie erreichen werden."
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