In Neptuns Reich: Godard, Odysseus und die Götter der Filmwelt

Seite 2: Markt der Lügen

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Beim Verlassen des Kinos will Prokosch von Lang wissen, was er von der Frau auf der Bühne hält und von Paul Javal. Was ist also zu halten von diesen beiden? Sie haben gemeinsam, dass sie käuflich sind. "Nausikaa" stellt gegen Bezahlung ihren Körper zur Schau, der Drehbuchautor schreibt die Nacktszenen dafür und erhält 10.000 Dollar. Godard hat die Eigenart, dass er Arbeitsverhältnisse in einem kapitalistischen System in schöner Regelmäßigkeit mit Prostitution und Zuhälterei vergleicht. Das wirkt mitunter forciert und kann einem auch mal auf die Nerven gehen. Hier macht es einen doch recht nachdenklich.

Eines führt zum anderen. Javal erklärt sich bereit, den Produzenten zu seiner Villa auf Capri zu begleiten (um am Drehbuch zu arbeiten, versteht sich) und Camille mitzubringen, obwohl (oder weil?) ihm klar sein muss, dass Prokosch scharf auf seine Frau ist. Ist Javal damit mehr Autor oder mehr Zuhälter, ist Prokosch mehr Produzent oder mehr Freier? Die Grenzen sind auf eine beunruhigende Weise fließend in diesem Film über das Filmgewerbe. Korrumpiert werden alle, auch die Heroen der Filmkunst. Wie um sich diesen traurigen Befund bestätigen zu lassen fragt Camille den Regisseur, ob er mitkommt zur Villa des Produzenten.

Markt der Lügen (10 Bilder)

Le mépris

Lang antwortet mit einem Zitat aus den Hollywood-Elegien von Bert Brecht, dem Erfinder des (von Godard auf den Film übertragenen) Verfremdungseffekts im Theater: "Jeden Morgen, mein Brot zu verdienen, fahre ich zum Markt, wo Lügen gekauft werden. Hoffnungsvoll reihe ich mich ein unter die Verkäufer." Auch ich habe mitgemacht, sagt uns Godard damit, weil ich das Geld von Ponti und Levine genommen habe und jetzt gezwungen bin, einen Film zu drehen, in dem Brigitte Bardot sich auszieht. Aber wenigstens zeige ich euch, wie das System funktioniert.

Zugleich wird eine Rechtfertigung des Verfremdungseffekts daraus. Indem er die Regeln der von der Filmwirtschaft installierten Illusionsmaschinerie bricht beschädigt Godard das Manipulationspotenzial des Kinos (spätestens seit Goebbels, der das Medium zum Instrument eines Mörderregimes machte, hat das auch eine moralische Komponente). Üblicherweise wird uns vorgegaukelt, dass Bild, Ton und Musik eine Einheit sind. Godard macht Stückwerk aus der Illusion von Ganzheit, um eine kritische Distanz zu schaffen, weil man so besser denken kann.

Konventionelle Filmmusik ist Godard suspekt, weil sie allzu oft dazu dient, uns die Gefühle zu diktieren, mit denen wir etwas sehen sollen. Also geht er auch da einen anderen Weg. Georges Delerues hemmungslos romantische und abgrundtief traurige Liebeselegie für Le mépris ist mit das Schönste, das er je komponiert hat. Mal passt sie zur Handlung und mal nicht. Zu emotional aufgeladenen Szenen hört man sie genauso wie zu solchen, die banaler fast nicht sein könnten. Wer denkt schon an Liebe und Romantik, wenn Paul sich seine Socken anzieht oder Camille ihm sagt, dass er von ihr aus tot umfallen kann?

Die Musik ist weder eines von vielen gleichwertigen Elementen, die man stets neu miteinander in Beziehung setzen muss. Godard hat einen Film ohne die üblichen Hierarchien gedreht. Angesichts eines Milieus, in dem das Geld regiert und dem Machtmissbrauch Tür und Tor geöffnet sind, ist das ein Akt des ästhetischen Widerstands. Die Fragmentierung in Bild, Ton und Musik distanziert uns vom Geschehen auf der Leinwand (mehr Distanz = weniger Manipulation), und sie ist die formale Entsprechung zur Handlung, die vom Zerfall der Ehe von Camille und Paul Javal erzählt.

Mit Dynamit gegen die Langeweile

Aber was ist eigentlich aus François Truffaut geworden? Ihn haben wir allein gelassen, als er sich anschickte, die Cahiers du cinéma zur Plattform für einen Generalangriff auf die tradition de la qualilté zu machen. Sein Mentor André Bazin bat um Mäßigung. Nach einjähriger Überarbeitungszeit, im Januar 1954, konnte das Pamphlet endlich erscheinen. Titel: "Eine gewisse Tendenz im französischen Film". Außer den Attacken auf Papas Kino fand sich in den 14 Seiten auch Lob für Regisseure, die Truffaut mochte (darunter Robert Bresson, Max Ophüls, Jean Renoir und Jean Cocteau). Das war dem Drängen Bazins geschuldet, konnte die Wogen aber nicht glätten.

Glückliches Frankreich, in dem Truffauts Artikel nicht ungehört verhallte, sondern einen Skandal auslöste, wenigstens unter den Cinephilen. Das Establishment traf sich zu Krisensitzungen, um über ein gemeinsames Vorgehen gegen den als "jungen Strolch" und unfranzösischen Knecht der Amerikaner geschmähten Autor zu beraten. Die Cahiers-Redaktion wurde mit den Briefen empörter Leser geflutet, die sich darüber beklagten, dass man zugunsten einer billigen Polemik den Pfad der filmwissenschaftlichen Objektivität verlassen habe. Doch der junge Strolch machte sich nicht nur Feinde. Vielen, die vom Konfektionskino die Nase voll hatten, sprach er aus der Seele.

Wer gedacht hatte, Truffaut mundtot machen zu können, sah sich getäuscht. Im Winter 1953/54 wurde der Vielschreiber Redaktionsmitglied der Cahiers, und weil die Zeitschrift Arts gerade eine spitze Feder suchte füllte er bald deren Filmseite, unter seinem eigenen Namen und unter Pseudonymen, unter denen er auch noch für andere Zeitschriften schrieb. Außerdem sammelte er Gleichgesinnte um sich, die Papas Kino ebenfalls den Krieg erklärten: Jacques Rivette, Eric Rohmer, Claude Chabrol und Jean-Luc Godard sind die bekanntesten.

Gemeinsam schrieben die jungen Wilden gegen ein französisches Kino an, das aus ihrer Sicht von alten Männern dominiert wurde, die in heruntergekommenen Ateliers, nach aus der Zeit gefallenen Mustern und mit erschlafften Stars ebenso gediegene wie langweilige Unterhaltung produzierten, ein gestriges Bedürfnis nach psychologischem Realismus bedienten und sich dabei sklavisch an mittelmäßige Drehbücher hielten, deren Autoren bevorzugt literarische Werke adaptierten, weil sie keine eigenen Ideen hatten. Truffaut und seine Freunde orientierten sich dagegen am amerikanischen Genrekino, das damals kaum Fürsprecher hatte.

Bei Howard Hawks, Alfred Hitchcock, Nicholas Ray, Vincente Minnelli und Anthony Mann entdeckten sie eine jeweils sehr individuelle Handschrift, obwohl deren Filme im hierarchischen, auf Arbeitsteilung nach industriellem Vorbild gegründeten Studiosystem von Hollywood entstanden waren. Etwas verkürzt besagte die nun entwickelte und später zur "Autorentheorie" veredelte politique des auteurs, dass die Regisseure mit der persönlichen Handschrift die wahren Autoren der von ihnen inszenierten Filme seien und nicht etwa die von der tradition de la qualité favorisierten und darum in Frankreich sehr mächtigen Verfasser der Drehbücher.

Im französischen Wort politique steckt mehr Polemik und Provokation als Theorie. Es ging um den Kampf für das richtige Kino (das von Hitchcock, Fritz Lang und Orson Welles) und gegen das falsche (das "Qualitätskino" von Leuten wie Autant-Lara oder René Clement). Dieser Kampf wurde mit beachtlicher sprachlicher Militanz geführt. Godard wollte Filme wie Dynamit, um das Alte in die Luft zu sprengen, und Truffaut forderte das Publikum auf, im Kino alles kurz und klein zu schlagen, wenn es wieder einmal durch zuviel "Qualität" gelangweilt wurde.

Truffaut sorgte dafür, dass auch seine Mitstreiter für die Arts schreiben konnten. Das war wichtig, weil sich die Kampagne von einer wöchentlich erscheinenden Zeitschrift aus besser führen ließ als mit Hilfe der Cahiers, auf deren nächste Nummer man einen Monat lang warten musste. Mit den Gewohnheiten brachen die "Hitchcocko-Hawksianer" (Bazin über Truffaut & Co.) auch durch den Wechsel vom Schreibtisch auf den Regiestuhl. Sie kamen vom Filmesehen zum Filmemachen und nicht, indem sie sich innerhalb der Industrie langsam hocharbeiteten. Ihre Schule waren die Filmclubs und die Cinémathèque française von Henri Langlois.

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