In Neptuns Reich: Godard, Odysseus und die Götter der Filmwelt

Seite 5: Ende mit Meerblick

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Paul (mit Godard-Hut) und Camille (mit Karina-Perücke) stehen also vor dem Kino, in dem anstelle von Rossellinis Meisterwerk die junge Frau zu sehen war, die bald als nackte Nausikaa am Strand herumhüpfen und so tun wird, als ob sie singen könnte, weil Prokosch denkt, dass so etwas den Publikumsgeschmack trifft. In der nächsten Einstellung sehen wir, was man von einem Bardot-Film erwartete: blaues Wasser und BB mit blonder Mähne, im Sonnenlicht der Mittelmeerregion. Das ist nicht St. Tropez, aber der Golf von Neapel ist auch nicht schlecht.

Das Silver Cine, mit dem Titel von Rosselinis Film über dem Eingang, ist die Schleuse, die uns von Rom nach Capri bringt, auf ein von der Produktionsfirma gechartertes Schiff. Das Wunderbare an Le mépris ist, dass wir mitgenommen werden in eine Welt der kinematographischen Vielfalt, von der wir irgendwann vielleicht nicht einmal mehr werden träumen können, weil das von austauschbaren Regisseuren (und -innen) hergestellte Einerlei der Sequels und Prequels zur Norm geworden ist und wir in der Streamingdienst-Blase unser Zeitbudget aufbrauchen, indem wir der x-ten Staffel einer Serie und ihrer Spin-Offs hinterher hecheln.

Welcher Logarithmus würde einem anstelle des ewig Gleichen ein buntes Mosaik der Filmkunst wie dieses hier empfehlen: Rio Bravo, Letztes Jahr in Marienbad, Außer Atem, die Kurzfilme der Lumières, Some Came Running, alles von Fritz Lang (besonders M, Rancho Notorious, Der Tiger von Eschnapur), Viaggio in Italia, The Quiet American, The Barefoot Contessa, Vivre sa vie, Tagebuch einer Verlorenen, Bigger Than Life, Hatari!, Die Fahrten des Odysseus in einer imaginären, weil nie gedrehten Pabst-Version mit Clark Gable als Titelheld und Greta Garbo als Penelope. Jetzt kommt auch noch Truffaut dazu.

Les quatre cents coups

Vier Jahre, nachdem die Nouvelle Vague mit Les quatre cents coups das Festival von Cannes gekapert hatte, drehte auch Godard einen Film, der am Meer endet. Bei Truffaut haut Antoine Doinel aus dem Erziehungsheim ab. Er erreicht das Meer, dreht sich zu uns um und blickt in die Kamera. Die Kamera zoomt ihn zu uns heran, das Bild friert ein. Im Moment der Freiheit steckt die Erkenntnis, dass es hier nicht mehr weiter geht, dass Antoine sich dem wird stellen müssen, vor dem er davongelaufen ist. Zugleich ist der Blick in die Kamera ein Hilferuf. Indem er es anschaut fragt der Junge das Publikum, was es zu tun gedenke angesichts einer Gesellschaft, deren Versagen es soeben miterlebt hat.

Godard ist reflektierter. Bardot schaut uns an, stellt also Nähe her und hält uns doch auf Abstand, weil sie ihre Augen hinter einer Sonnenbrille verbirgt. Die (unausgesprochene) Frage bleibt unverändert: Was gedenkst du zu tun? Sie gilt dem Publikum und Paul, Camilles Mann. Dieser muss sich prompt entscheiden, denn Godard wiederholt die Szene aus Cinecittà. Prokosch langweilt sich und möchte, dass Camille ihn zu seinem Haus begleitet, ohne Paul. Camille will nicht. Paul hat nichts dagegen. Camille fährt schließlich mit (in Rom im roten Alfa Romeo, hier im Motorboot).

Vorher schaut sie Paul durch ihre Sonnenbrille lange an, als wolle sie fragen: Schickst du mich wirklich mit diesem Produzenten zu seinem Haus, obwohl du weißt, was er mit schönen Frauen anstellt? Eingebettet ist das wieder in den Prozess des Filmemachens, mit viel Selbstreflexivität. Wir sehen die Kamera; Bardot, die als Star des Films Le mépris von ihr aufgenommen wird; und Bardot als Camille Javal, die im Film im Film, Langs "Odysseus", nichts zu suchen hat. Godard höchstpersönlich, als Regieassistent von Fritz Lang, bittet sie (und Paul alias Piccoli), aus der Einstellung ("Odysseus") zu gehen und läuft dabei selbst durchs Bild (Le mépris).

Todfeind des Odysseus

In seiner Rolle als Regieassistent hilft Godard drei jungen Frauen aus ihren gelben Bademänteln. Gelb wie das Oberteil, das Francesca nach einer schlimmen Begegnung mit Prokosch (siehe Teil 1) wechseln musste. Das Geschehen vor und hinter der Kamera wird so verbunden. Noch tragen die jungen Frauen weiße Tunikas. "Werden sie sich ausziehen?", fragt Paul. "Selbstverständlich", antwortet Francesca, die Assistentin des Produzenten. Pauls Frage ist an Scheinheiligkeit kaum zu überbieten. Prokosch hat ihn dafür angeheuert, dass er Nacktszenen schreibt.

Jetzt sitzt er da und mokiert sich über Filme, in denen man den nackten Hintern der Frauen sieht (wie den nackten Hintern von Brigitte Bardot am Anfang von Le mépris). Kurz davor saß er noch im Kino in Rom und sah beim Casting für die Nausikaa-Rolle zu. Später, wenn der Film fertig ist, wird das Publikum im Silver Cine die Nausikaa-Darstellerin ohne die Kleider sehen, in denen sie vor der Leinwand stand. Wir sind alle Komplizen, heißt das: sei es als Autor des Drehbuchs oder als Zuschauer, der Geld dafür bezahlt, dass er auf der Kinoleinwand nackte Frauen sehen darf.

Todfeind des Odysseus (19 Bilder)

Le mépris

Godard, der Regisseur und Drehbuchautor von Le mépris, nimmt sich da gar nicht aus. Darum hat er für Francesca einen Dialog geschrieben, mit dem sie Prokosch daran erinnert, dass Joe Levine mittags aus New York anruft. Das ist der (echte) Produzent, der darauf bestand, dass es Nacktszenen mit Brigitte Bardot geben müsse. Bald werden wir noch eine von diesen Szenen zu sehen kriegen. Godard, der als Langs Regieassistent den jungen Frauen beim Ablegen der Kleider hilft, hat sie sich ausgedacht, so wie sich Paul die Nacktszenen für den Odysseus-Film ausdenken soll.

Die Frauen seien jetzt im Wasser, ruft Godard Fritz Lang zu, dem Odysseus-Regisseur. Als Regisseur von Le mépris aber zeigt er uns nicht die nackten Frauenkörper, sondern das Motorboot, das Camille und Prokosch zur Villa bringt. Auch Francesca ist mit an Bord. Der Oger bringt die Beute in seine Höhle. Als Kommentar fügt Godard eine Einstellung mit der Neptun-Statue ein, die wir beim Sichten der Muster in Cinecittà zum ersten Mal gesehen haben. Die Kamera umkreist sie, wie die Kamera in Viaggio in Italia die Statuen im Archäologischen Museum umkreist.

Neptun, der Gott des Meeres, ist "der Todfeind von Odysseus", sagt Lang. Der Produzent Jeremy Prokosch ist der Gott der Filmwelt. Paul Javal muss sich entscheiden, ob er sich dessen Wünschen widersetzt oder ihnen nachkommt, ob er das Drehbuch umschreibt und tatenlos dabei zuschaut, wie Prokosch seiner Frau nachstellt oder nicht. Wie immer in solchen Situationen steckt er sich auch auf dem Schiff eine Zigarette an, statt Widerstand zu leisten, als Autor und als Camilles Mann. Wer sich beruflich korrumpieren lässt, sagt der Film, lässt das auch privat mit sich machen. Gleich erfährt man, wie weit Paul auf diesem Weg schon gekommen ist.

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