In Neptuns Reich: Godard, Odysseus und die Götter der Filmwelt
Seite 4: Durch die Bresche oder sterben
Wenn schon eine Romanverfilmung, mag sich Godard gedacht haben, dann wenigstens Alberto Moravias Die Verachtung, an dem Ponti die Rechte besaß. Für seine Bedürfnisse waren diese Geschichte und ihre Hintergründe fast zu gut, um wahr zu sein. Immer, wenn man denkt, dass Godard etwas dazuerfunden hat, stellt man fest, dass es in dem Roman schon drin war. Bevor ich das Buch gelesen habe dachte ich zum Beispiel, dass es Godards Idee war, die Protagonisten nach Capri zu schicken, weil das die Verbindung zu Roberto Rossellini herstellt, einem der großen Vorbilder der Nouvelle Vague. Stimmt aber nicht.
Wegen seiner antifaschistischen Haltung erhielt Moravia in Mussolinis Italien Schreibverbot. Um sich aus der Schusslinie zu nehmen zog er sich von 1941 bis 1943 an die Peripherie zurück, nach Capri. Neben Rom ist das der zweite wichtige Schauplatz des Romans. Und wo bleibt Rossellini? Kommt sofort. Nach der Audition im Silver Cine gehen die Javals, Lang, Prokosch und Francesca hinaus auf die Straße. An der Fassade des Kinos ist zu lesen, was dort gespielt wird, wenn nicht gerade ein Produzent Frauen castet, die sich vor der Kamera nackt ausziehen sollen: Viaggio in Italia.
Durch die Bresche oder sterben (10 Bilder)
"Reise in Italien" (der alte deutsche Verleihtitel, Liebe ist stärker, ist total daneben) ist der dritte von vier Filmen, die Rossellini mit Ingrid Bergman drehte, nachdem sie Mann und Kind und Hollywood für ihn verlassen hatte (damals ein enormer Skandal, der sogar im US-Senat debattiert wurde). Wie Der Tiger von Eschnapur bei Lang wurde Viaggio in Italia von der Mehrzahl der Kritiker als künstlerische Bankrotterklärung des Begründers des Neorealismus gewertet, der seine Reputation nur noch retten könne, indem er nie wieder einen Film drehe.
Die Cahiers du cinéma hielten dagegen und widmeten Viaggio zwei hymnische Besprechungen: eine von Eric Rohmer und eine von Jacques Rivette, der schrieb, Rossellini habe eine Bresche geschlagen, durch die alles Nachfolgende hindurch oder sterben müsse. Daraus sprach die innere Überzeugung, nicht nur die Freude an der Opposition gegen eine saturierte Kritikerkaste. Viaggio in Italia ist ein Meilenstein der Filmgeschichte. Godard, Truffaut und Rivette hat Rossellinis Meisterwerk genauso beeinflusst wie Michelangelo Antonioni und Wim Wenders, Abbas Kiarostami und Jim Jarmusch.
1962 wurde Viaggio bei einer Umfrage der Cahiers zum besten Film gewählt, der je in Italien gedreht wurde. Für Godard war es also Ehrensache, ihn irgendwo in Le mépris zu erwähnen, doch das war es nicht allein. Es ist, als würden sich der 1954 uraufgeführte Film und Moravias im selben Jahr veröffentlichter Roman auf wundersame Weise ergänzen, damit Godard auf dem so gebildeten Fundament Die Verachtung drehen konnte.
Immobilien und andere Handelsgüter
Viaggio ist Rosselinis Reflexion über Erstarrung und Bewegung, Tod und Leben, Film und Wirklichkeit - und auch über die Endlichkeit der Liebe, über den Zerfall seiner Beziehung mit Ingrid Bergman (so wie Le mépris Godards Reflexion über den Zerfall seiner Beziehung mit Anna Karina ist). Die Eigentumswohnung, deretwegen sich der Drehbuchautor bereit erklärt, den Odysseus-Film umzuschreiben, findet man im echten Rom in der viale Bruno Buozzi. Die Information verdanke ich Tag Gallagher, der mit The Adventures of Roberto Rossellini das ultimative Buch über Leben und Werk dieses Regisseurs geschrieben hat.
Viaggio in Italia wurde vom Bauunternehmer Adolfo Fossataro finanziert. Fossataro und sein Partner, der Architekt Luigi Moretti, hatten die Casa Girasole errichtet, ein Wohngebäude mit auskragender Fassade, das den Römern viel zu modern war. Weil niemand dort wohnen wollte erhielt Rossellini anstelle einer Gage ein Zehn-Zimmer-Apartment im obersten Stockwerk. Als dann noch der Publikumsliebling Totò unter Rossellini einzog war Fossataros Problem gelöst. Endlich fand er Mieter für das von Moretti entworfene Haus. (Paul Javal hat das Drehbuch für Totò gegen Herkules geschrieben, den Prokosch so toll findet.)
Immobilien und andere Handelsgüter (18 Bilder)
In Viaggio wie in Le mépris ist eine Immobilie das antreibende Element. Bei Rossellini hat der englische Geschäftsmann Alex Joyce (George Sanders) von seinem Onkel Homer (deutsch synchronisiert: "Onkel Michael") ein Haus in der Nähe von Neapel geerbt. Er und seine Frau Katherine (Bergman) fahren mit dem Auto hin, um es zu verkaufen. Alex denkt bei Italien an Geld, Katherine an Kultur. Während ihr Mann mit Kaufinteressenten verhandelt besucht sie das Archäologische Nationalmuseum in Neapel. Dort verselbständigt sich die Kamera, um die antiken Skulpturen zu umkreisen (erhellend ist ein Vergleich mit den Statuen in Le mépris), und Rossellini holt sich von den Nazis die Antike zurück.
Ein Führer raunt Katherine zu (in der deutschen Version getilgt), dass es im Museum früher einen geheimen Raum gab, in dem man obszöne Bilder aus Pompeji sehen konnte (wie im Buch mit den pornographischen Darstellungen in Le mépris). Alex ist mehr an leiblichen Genüssen interessiert. Er nimmt die Fähre nach Capri, wo er ein Liebesabenteuer sucht. Die Insel, auf der Onkel Homer in den Kriegsjahren interniert war, wird zum geographischen Ausdruck der Entfremdung der Eheleute. Alex’ Suche endet damit, dass er - nach Neapel zurückgekehrt - eine Prostituierte trifft, mit der er ziellos durch die Gegend fährt.
In Le mépris ist Capri der Ort, an dem sich Camille von ihrem Mann trennt, weil er nichts gegen Prokoschs sexuelle Übergriffe unternimmt und weil sie denkt, dass er sie mit dem Produzenten verkuppeln will als wäre sie eine Prostituierte. Hauptschauplatz ist Prokoschs Villa. Es handelt sich um das zweistöckige Gebäude, das der italienische Journalist und Schriftsteller Curzio Malaparte nach eigenen Entwürfen auf einem vorspringenden Felsen über dem Meer erbauen ließ. Kurt Erich Suckert, wie der Sohn einer Mailänderin und eines aus Sachsen stammenden Textil-Ingenieurs mit bürgerlichem Namen hieß, war 1922 bei Mussolinis Marsch auf Rom dabei gewesen.
In den 1930ern überwarf sich Malaparte mit den Faschisten. Er wurde aus der Partei ausgeschlossen und zur Verbannung auf Lipari verurteilt, einer kleinen Insel vor Sizilien, die er nach einem Jahr wieder verlassen durfte, weil er einflussreiche Freunde hatte. Einer dieser Freunde, Mussolinis Schwiegersohn, soll ihm die Baugenehmigung für die Casa Malaparte besorgt haben. Das Gebäude verfügt über einen Salon, eine Bibliothek, Gästezimmer, ein Schlafzimmer für den Herrn des Hauses, ein Zimmer für seine Konkubine und eine Kammer für deren Zofe. Für einen Filmproduzenten vom Schlage des Jeremy Prokosch ist das die ideale Immobilie.
1963, sechs Jahre nach Malapartes Tod, war das Anwesen in einem schlechten Zustand. Es gab Erbstreitigkeiten und ungeklärte Eigentumsverhältnisse. Die abblätternde Farbe der Fassade passte gut zu Godards Intentionen, weil er keine florierende Filmindustrie zeigen wollte, sondern eine, die abgewirtschaftet hat, finanziell wie künstlerisch. Eigentlich müsste man die Casa Malaparte in die Besetzungsliste aufnehmen. Godard ist der Überzeugung, dass sich Filme nicht nur für ihre Figuren interessieren sollten sondern auch dafür, wem der Grund gehört, auf dem sie stehen.
Für ihn ist es von da nur ein kleiner Schritt zu Prostitution und sexueller Ausbeutung, weil auch der menschliche Körper, wie er in der Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos zu Viaggio in Italia sagt, eine Art "Boden" sei, den die Prostituierte (oder ihr Zuhälter) an einen Fremden verkaufe oder vermiete, womit sie dessen zeitweiliger Besetzung zustimme - "Besetzung" wie im Krieg (durch fremde Truppen) und wie beim Film, beim Casting für eine Rolle (auf der Besetzungscouch). So begegnen sich beim weiblichen Körper die Filmwirtschaft und der Immobilenhandel.
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